# taz.de -- Interview Katastrophenforscher: "Menschen sind ungeheuer robust" | |
> Wie bewältigen Menschen Katastrophen? Wann tritt Gewöhnung ein? Menschen | |
> sind belastbarer, als man denkt, sagt der Katastrophenforscher Martin | |
> Voss. | |
Bild: Die Rückkehr zum Alltag dauert lang: Bergung eines Tsunami-Opfers nahe F… | |
taz: Herr Voss, gibt es bei einer Katastrophe wie dem Erdbeben und dem | |
Atomunfall in Japan für die Opfer einen Alltag? | |
Martin Voss: Die Evakuierten in den Auffanglagern haben keinen Alltag, sie | |
können nicht ihrer geregelten Arbeit nachgehen oder den Haushalt regeln, | |
die Kinder haben keine Routine. Wer sein Heim ohne Vorbereitung verlassen | |
hat, der kann kein Alltagsleben im eigentlichen Sinn führen. Es stellen | |
sich dann andere Routinen und soziale Rhythmen her, die so etwas wie | |
Stabilität bieten. Aber das dauert Wochen. | |
Wann verzweifeln Menschen bei Schicksalsschlägen? | |
Menschen sind in der Regel ungeheuer robust. Man unterschätzt in der Regel | |
ihre Potenziale, auch mit ganz widrigen Bedingungen zurechtzukommen. Eine | |
Katastrophe bedeutet ja, dass die Leute alles verlieren, dass sie | |
desorientiert sind und jede Hoffnung schwindet, dass sie nicht wissen, | |
warum sie weiterleben sollen. In der Regel finden die Menschen dann aber | |
doch nach Stunden oder einigen Tagen ihre Orientierung wieder: "Ich lebe | |
noch, habe zwar Familienmitglieder verloren, aber zwei Kinder sind noch da, | |
und um die muss ich mich kümmern." So baut man sich allmählich einen Alltag | |
auf. | |
Die Menschen fallen also gar nicht in ein so tiefes Loch? | |
Das ist unterschiedlich. Es gibt Leute, die kommen gar nicht klar und | |
verlieren den Verstand oder den Sinn des Lebens. Andere finden zu einer | |
neuen Art von Gemeinschaft, man rückt zusammen. Wo vorher Konflikte mit | |
Nachbarn waren, ist man jetzt aufeinander angewiesen. | |
Wie reagieren Menschen, die weiter weg sind? Verdrängen sie den Schrecken? | |
Verdrängen ist der falsche Begriff, denn das ist eine psychologische | |
Kategorie, die den direkt Betroffenen vielleicht sogar hilft zu überleben. | |
Aber wer nicht selbst betroffen ist, wird ja von außen auf die Gefahr immer | |
wieder hingewiesen: Strom wird rationiert, die Medien berichten dauernd aus | |
den Katastrophengebieten. Irgendwann wird unsere Aufmerksamkeit woanders | |
hingelenkt, das ist der normale Aufmerksamkeitszyklus. | |
Wie lange kann ich mich als Nichtbetroffener auf eine Katastrophe | |
konzentrieren? | |
Die Daten belegen, dass nach sechs Wochen die Katastrophe aus der | |
Berichterstattung verschwindet. Das ist unabhängig von der Größe der | |
Katastrophe, beim Erdbeben in Haiti war das nicht anders als bei Fukushima. | |
Nach sechs Wochen wird das zur Randmeldung. Wer schon einmal in Thailand | |
war, den interessiert der Tsunami dort stärker. Aber grundsätzlich leben | |
wir in einer schnelllebigen Zeit, da kann der Mensch nicht anders. | |
Gibt es Gesellschaften, die besser oder schlechter auf Katastrophen | |
reagieren? | |
Auf jeden Fall. Japan hat ja eine echte Katastrophenkultur, weil Taifune | |
und Erdbeben im Alltag dauerpräsent sind. Atomunfälle gehören offenbar | |
bislang nicht dazu. Andere Kulturen dagegen - wir Deutsche etwa - vergessen | |
komplett, dass sie auch selbst bedroht sind. Wir haben lange nichts mehr | |
erlebt, und den Deutschen liegt es fern zu glauben, dass es hier mal eine | |
größere Katastrophe geben kann. Wir erwarten das anderswo und sind | |
dementsprechend schlecht vorbereitet. | |
Der Zweite Weltkrieg, den unsere Eltern noch erlebt haben, ist schon zu | |
weit weg? | |
Krieg ist für uns nach 65 Jahren Frieden kaum noch vorstellbar. Der Friede | |
ist Normalität. Dann verliert man das Gespür dafür, was um einen herum | |
passiert und heranwächst. Das sind dann wieder gute Bedingungen für die | |
nächste Katastrophe. Je ferner das Bewusstsein für die Katastrophe, desto | |
wahrscheinlicher wird sie. | |
Haben wir ein schlechtes Gewissen, weil wir auf einer Insel der Seligen | |
leben und befürchten, dass irgendwann der Blitz auch mal bei uns | |
einschlagen muss? | |
Das schlechte Gewissen ist ja in der deutschen Nachkriegsgesellschaft tief | |
verankert - die heimliche Frage: Warum geht es uns schon wieder so gut, | |
obwohl wir so viel verbrochen haben? Das ist sehr vielschichtig. | |
Unterschwellig sind wir nicht weit weg von der sogenannten Sündenökonomie, | |
die uns als omnipräsentes religiöses Erklärungsmuster seit Jahrhunderten | |
begleitet hat: Alles, was uns Schlechtes widerfährt, ist Strafe für unsere | |
schlechten Handlungen. Auf der politischen Ebene argumentieren wir so, als | |
gäbe es das nicht. Dann macht die Bild eine Überschrift "Die Hölle von | |
Japan", und Sie sehen, das folgt lauter theologischen Mustern. | |
Hat das Konsequenzen? | |
Vielleicht ist es ein schlechtes Gewissen der gesamten | |
Industriegesellschaft: Was machen wir mit unserer Umwelt? Das könnte ein | |
Grund für die Stärke der Grünen sein, weil sie dieses konservative Element | |
für sich geltend machen. Aber schlechtes Gewissen heißt nicht, dass wir | |
besser vorbereitet sind. | |
3 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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