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# taz.de -- Neues Album von Andreas Dorau: Noch mal von vorne anfangen
> Grandios: Der Hamburger Musiker Andreas Dorau schreitet in den Songs auf
> seinem neuen Album "Todesmelodien" auf dem schmalen Grat zwischen
> materieller Welt und Abgrund.
Bild: Andreas Dorau: "Der Stänkerer soll Stänkerer bleiben."
In der Silvesternacht 2007 trat Andreas Dorau mit Band - damals Matthias
Strzoda und Tim Lorenz - im Liveclub Übel & Gefährlich vor einem Hamburger
Publikum auf, das nichts von ihm wissen wollte. Das wird ihm womöglich
nicht das erste Mal passiert sein, als einem Künstler, der mit 15 seinen
ersten Hit "Fred vom Jupiter" hatte, erste Auftritte im Spuckeregen unter
Punks absolvierte, und von dem heute, mehr als dreißig Jahre später, das
achte Studioalbum "Todesmelodien" erscheint - aber es war einprägsam. Das
Publikum wirkte komplett abgedichtet. Daran sollte sich vom ersten bis zum
letzten Ton des Konzerts nichts ändern.
So eine öffentliche Silvesterparty in einem größeren Club ist ein
undankbarer Termin. Die Leute vor der Bühne schienen von den Menschen dort
oben Kenntnis genommen zu haben; die Musik war gut, aber das merkten die im
Publikum Versammelten nicht. Sie wollten im Grunde unter sich bleiben, weil
es da, wo alles so ist wie man selbst, für viele immer noch am schönsten
ist. Aber wo viele in einem gemeinsamen Desinteresse zusammenkommen, reicht
das manchmal noch nicht aus, um die Masse - wenn schon nicht die
Gemeinschaft - zusammenzuhalten; dann machen sie aus ihrer Ignoranz eine
Waffe.
Andreas Dorau und seine Band waren laut; der Sänger lief die Bühne ab mit
Unterhaltungskünstlergebaren, er gestikulierte mit den Armen, eine
Einladung und Ausladung zugleich; etwas stimmte da nicht, das Publikum
konnte sich auch nicht einfach weiter unterhalten, da ein Konzert
stattfand. Der Künstler sollte wissen, dass sie nichts von ihm wissen
wollten, also riefen sie ihm das zu und warfen ihm Bierbecher vor die Füße.
Dorau, nicht unvorbereitet auf so einen Fall, schon älterer Hase im
Showgeschäft, sah nicht nach rechts und nicht nach links und zog sein
Programm durch. Die sogenannte Stimmung war angespannt, das Publikum
reagierte aggressiv, und signalisierte: Dorau, du sollst mir gar nichts
erzählen.
## Das spalterische Moment im Sozialen
Andreas Dorau ging am Bühnenrand auf sein Knie nieder und nahm einen, der
dort stand, zu sich in den Schwitzkasten, einen von den Aggressiven, um ihm
auf galante Weise zu zeigen, wie das ist, wenn er ihm nichts erzählt: Und
sang diesem Strohmann seine Lieder ins Ohr, eines nach dem anderen,
insbesondere solche wie "Wir sind keine Freunde", "Du bist nicht wie die
anderen" und "(Dies ist) Kein Liebeslied" (vom damals aktuellen Album "Ich
bin der eine von uns beiden"), die das spalterische Moment im Sozialen
betonen.
Es war also ein - unerträgliches und gleichzeitig - sehr gelungenes
Konzert. Denn was Andreas Doraus Musik als praktizierten Widerspruch von
Grund auf durchzieht, eine basale Unversöhntheit, sie wurde in der
Performance dieses Abends voll eingelöst. Aber wenn man es gern ein
bisschen nett hat: kaum auszuhalten.
Normalerweise nimmt sich Andreas Dorau, wenn er auf einer Bühne steht,
nicht den Stänkerer zur Brust, sagt er dazu im Gespräch: "Der Stänkerer
soll Stänkerer bleiben." Lieber wählt er eine der Personen aus, denen es zu
gut gefällt. Anlass des Gesprächs ist das Erscheinen seines neuen Albums.
Das Cover von "Todesmelodien" zeigt den Rumpf eines in einem Gebäudeeingang
wartenden Mannes, das John-Lennon/Yoko-Ono-Album "Double Fantasy" unterm
Arm sowie J. D. Salingers "The Catcher in the Rye". Das Foto zeigt also
Mark Chapman, den späteren Mörder John Lennons, wie er am 8. Dezember 1980,
wenige Stunden vor seiner Tat, mit diesen beiden Gegenständen bewaffnet
sowie einem Revolver, von dem man jetzt noch nichts sieht, vor dem Dakota
Building in New York sein späteres Opfer abpasst, um sich von ihm die
Platte signieren zu lassen. Er habe damals keine wirkliche Person
umgebracht; Lennon sei für ihn nur ein Bild auf seinem Plattencover
gewesen, bekannte der zu "lebenslänglich" verurteilte Chapman später, der
seit 2000 mehrfach erfolglos Gnadengesuche an den Staat New York gerichtet
hat.
## Das Album als Lückenfüller
"Mark Chapman" ist nur ein Bild auf einem Album-Cover (seinen Kopf sieht
man auf Doraus Platte nicht, vielmehr ist seine Persona zusammengesetzt aus
den Attributen, die später in dem Prozess um seine Tat, zu deren Motivation
sich Chapman auf Salingers Buch berief, als Indizien dienten). Andreas
Dorau geht es nicht um John Lennon (er sei Fan der Beatles, das ja, aber
nicht von Lennon). Er hat sich auf seinem neuen Album an mehreren Stellen
den Tod zum Thema genommen.
Mit dem Tod bekommt man es zu tun durch das Sterben einer anderen Person.
Dorau begann mit dem Komponieren der Songs 2008, nachdem im Vorjahr seine
Mutter gestorben war. Er wollte, so sagt er, mit dieser Arbeit auch eine
Lücke füllen oder dieser Lücke etwas entgegensetzen. Das Bild eines Mark
Chapman mit der noch unsignierten LP unterm Arm, könnte man sagen, begibt
sich so nah wie möglich heran an den "Tod des anderen". Da lebte dieser
andere noch.
Nicht näher heranzugehen an etwas, wovon man selbst kein Bild hat, das ist
auch eine Sache der Diskretion. Auf "Todesmelodien" begegnet Andreas Dorau
dem Thema mit verblüffenden Formulierungen, im unsentimentalen Raum
zwischen Be- und Entgeisterung. In dem Lied "Edelstein" (ausgehend von
einem Zeitungsbericht, wonach es einer Mutter nach deutschem Gesetz
verboten war, die Asche ihres verstorbenen Kindes zu einem Diamanten
pressen zu lassen) heißt es im Refrain, mit Schub und Glockenspiel: "Das
könnte ich sein, das könnte ich werden, ein Edelstein auf Erden." Enger
können Erhabenheit und Hinfälligkeit nicht in ein paar Wörtern
zusammenhocken. Es ist eine Tanznummer! Dieses Resümee menschlichen
Werdegangs gilt gleichermaßen "für dich und alle Verwandten" sowie "selbst
korrupte, dumme Schweine - alle werden Edelsteine".
## Unerschrockener naiver Klang
War die Musik von Doraus vorhergehenden Alben ausschließlich aus Samples
zusammengesetzt, ist "Todesmelodien" vollkommen samplefrei. Einen Teil der
Stücke komponierte Dorau dieses Mal mit Tim Lorenz (MFOC), den anderen mit
Mense Reents, dessen Kompagnon im Hamburger Elektronikprojekt Die Vögel,
Jakobus Siebels, die meisten Instrumente im Studio einspielte (Tuba,
Posaune, auch etwas wie ein Kazoo meint man auszumachen). Abgemischt und
produziert wurde "Todesmelodien" von Andi Thoma (Mouse on Mars). Das
Ergebnis ist immer Andreas-Dorau-Musik, auf eigener Schneise zwischen Club-
und Popmusik, "als wärs ein Stück von mir", sagt er, "frei nach Zuckmayer."
Doraus Stimme, die auch nach dreißig Jahren Musikmachen fast unverändert
ist, mit ihrem unerschrockenen und etwas naiven Klang, hat für das, was er
da erzählt, genau den richtigen Tonfall. Je öfter in seiner Laufbahn er,
wie es in einem Stück heißt, "noch mal von vorne anfängt", umso besser,
scheint es: Vermeintlich unbeeindruckt und sachlich, transportiert Doraus
Stimme die produktive Wut, die aus Fassungslosigkeit entsteht.
In "Es war hell" fallen Schlaglichter auf Orte, in denen jemand zu Tode
kam. Der Gesang hastet einen sich verschluckenden Rhythmus entlang, der
Song entwickelt eine Dynamik wie zu schnell und rückwärts abgespielte
Filmaufnahmen von Bränden, auf denen der Rauch sich wieder in das Feuer
zurückzieht und die Welt dann wieder unversehrt dasteht.
## Weibliches Staraufgebot
Andere Stücke behandeln typische Dorau-Themen wie Neid, Musik ("Single")
und Vogelkunde. Das Gefieder des Vogels auf "Todesmelodien" ist "Schwarz
Rot Gold"; es wird über einer Art Moondog-Beat besungen im Duett mit
Françoise Cactus von Stereo Total - für alle anderen weiblichen
Gesangsparts ist Inga Humpe verantwortlich - und erinnert an das
unerfreuliche Aussehen von Fans des deutschen Männer-Fußballs, allerdings
unter besonderer Betonung der homoerotischen Komponente.
Zwischen einem Song über Inkonsequenz und jener aufgeputschten Resolution
über das Von-vorne-Anfangen findet ein Downtempo-Stück sein tiefes Bett, in
dem Andreas Dorau vom Terror des Ausruhens singt. Ein Stück huldigt einem
Typen namens "Größenwahn" mit Glockenspiel, Bläsern und mehrstimmigem
Harmoniegesang. In einem beatleshaften Lied über Schmerzen gibt ein
präpariertes Piano das Tempo vor.
Doraus Songs über Schmerzen, Sterblich- und Vergeblichkeit oder über
Nationalfarben ("Schwarz Rot Gold - hat das die Natur wirklich so
gewollt?") kommen alle ohne Metaphysik aus. Aus dem schmalen Steg zwischen
der materiellen Welt und dem Abgrund, der sich daneben auftut, beziehen sie
ihre Kraft. Den schmalen Steg nenne ich jetzt mal spaßeshalber Musik; aber
das trifft es natürlich nicht.
Katha Schulte ist Autorin in Hamburg. Im vergangenen Jahr veröffentlichte
sie ihren Debütroman "Unwesen".
## Andreas Dorau: "Todesmelodien" (Staatsakt/Rough Trade); live: 22. 6.
Köln, 23. 6. Bottrop, 24. 6. Berlin
17 Jun 2011
## TAGS
Pop
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