| # taz.de -- Syrische Flüchtlinge in der Türkei: Wüstenzeltlager de luxe | |
| > Der Rote Halbmond hat nahe der syrischen Grenze Zeltstädte errichtet. In | |
| > der Türkei werden die Flüchtlinge "Gäste" genannt, das Freizeitangebot | |
| > ist üppig. | |
| Bild: Hübsch und hilfreich: die Zelte des türkischen Roten Halbmonds. | |
| ANTAKYA taz | Östlich der türkischen Stadt Antakya, fährt man durch üppige | |
| grüne Felder und wellige Hügel mit Olivenbäumen. Die Landschaft ist kaum | |
| besiedelt. An der Grenze zu Syrien erhebt sich dann plötzlich ein | |
| Wüstenzeltlager aus dem Nichts. Hunderte von hübschen weißen Zelten, alle | |
| mit dem Logo des Roten Halbmonds geschmückt, verborgen hinter einem | |
| Maschendrahtzaun, der mit weißem Stoff überzogen wurde, um Leute draußen | |
| davon abzuhalten, ins Lager hinein zu glotzen. Aber die einzigen Nachbarn, | |
| die es hier gibt sind ein paar Kühe, die friedlich neben dem Lager grasen. | |
| Hinter dem Zaun, oben auf einer Stützmauer, sitzen ein paar Jungen und | |
| winken. Sie sind hungrig nach Kontakt mit der Außenwelt und rufen: "Hello, | |
| how are you?" | |
| Um zu sehen, was auf der anderen Seite des Zauns los ist, muß man einige | |
| Soldaten passieren. Sie bewachen einen Feldweg, der auf der Südseite des | |
| Lagers zu dem ersten von zwei großen Eingangstoren führt. Hinter dem Tor | |
| wartet noch ein weiteres Dutzend Soldaten. Einige stehen stramm, schieben | |
| Wache während die anderen an einem Tisch unter einem offenen Zelt sitzen, | |
| das sie vor der sengenden Sonne schützt. Sie halten ihre Stellung im Lager | |
| schon seit Wochen, keiner weiß, wie lange sie noch hier bleiben müssen - | |
| auch ihre Vorgesetzten wissen darauf keine Antwort. | |
| "Im Moment brauchen wir keine internationale Unterstützung, wir haben alles | |
| unter Kontrolle", sagt Tekin Kucukali, der Leiter des türkischen Roten | |
| Halbmonds. Den Reportern in der Grenzstadt Guvecci berichtete er in der | |
| vergangenen Woche: "Wenn's sein muß, haben wir die Möglichkeiten, 250.000 | |
| Leute zu versorgen. Sollte die Flüchtlingslage aber bis zum Winter so | |
| bleiben, wird der Rote Halbmond doch Unterstützung von anderen | |
| Hilfsorganisationen benötigen. Nach Aussage des Direktoriums des türkischen | |
| Ministeriums für Katastrophen- und Notfallmanagement (AFAD) sind zur Zeit | |
| 10.659 Syrer in fünf Lagern untergebracht. Alles in allem, haben die | |
| Staatsbediensteten 2.495 Zelte aufgebaut, 16.629 Decken verteilt und 10.695 | |
| Betten vergeben. | |
| Die Flüchtlinge im Lager sind inzwischen in einer Alltagsroutine | |
| angekommen. Männer und Frauen versammeln sich in Grüppchen an den Eingängen | |
| ihrer Zelte, trinken Tee und unterhalten sich während die Kinder in ständig | |
| durch die Reihen mit den weißen Zeltbahnen wuseln. Hört man nur auf die | |
| Geräusche, so klingt es eher, als würde man durch einen großen Park laufen | |
| und nicht durch ein Flüchtlingslager. | |
| In einem improvisierten Friseurladen neben einer der Waschgelegenheiten, | |
| sitzen die Männer und lassen sich ihre Bärte stutzen. Dicht daneben, auf | |
| einem der zwei Spielplätze des Lagers, spielen die Kinder Fangen, jagen | |
| sich um die gewundene Rutschbahn und die Schaukeln - wie auf jedem andern | |
| Spielplatz der Welt. | |
| ## Angestaute Energie loswerden | |
| Während sich die Kinder mit den brandneuen Spielgeräten vergnügen, so | |
| schick und schön wie die Rutschen und Schaukeln, spielen ein Stück weiter | |
| zwei Dutzend Männer Volleyball. Es gibt ein Spielfeld mit Netz und allem | |
| drum and dran. "Die Leute brauchen einen Platz, einen Ort, um ihre ganze | |
| aufgestaute Energie los zu werden", sagt M., einer der Lagerhelfer, der | |
| darum bat, nicht namentlich genannt zu werden, weil die Lagerbediensteten | |
| keine Erlaubnis haben, mit den Medien zu sprechen. | |
| In ein paar Tagen werden die Frauen im Camp ihre Tage mit Näh- und | |
| Strickarbeiten zubringen können: ein Freizeitzelt für Frauen wird bald | |
| eröffnet. Es wird sogar Kursangebote geben für diejenigen, die | |
| Kunsthandwerkliches lernen wollen. Professionelle Schneiderinnen werden in | |
| den Städten der Umgebung gesucht, um hier im Lager zu unterrichten. | |
| Drinnen in den Familienzelten liegen dicke weiße Matratzen auf der Erde. | |
| Tagsüber legen die Familien vier oder fünf Matratzen aufeinander, bauen | |
| sich so eine bequeme Sitzgelegenheit, bedecken ihre Habe mit bunten Tüchern | |
| und hängen Bündel auf mit den frisch gewaschenen Kleidern. Zum Schlafen | |
| legen sie nachts die Matratzen wieder nebeneinander. Zwei Spielplätze, ein | |
| Volleyballfeld - und ein Kino. Der rote Halbmond hat sich wirklich alle | |
| Mühe gegeben, die Lebensumstände der Flüchtlinge so angenehm wie möglich zu | |
| gestalten. | |
| ## Keine ernsthaften Verletzungen und ein paar Geburten | |
| Boynuyogun scheint mit allen Gegebenheiten ausgestattet zu sein, die es | |
| braucht, um Flüchtlinge zu versorgen - ein Mini-Feldlazarett | |
| eingeschlossen. Etliche Ärzte und Psychiater stehen hier rund um die Uhr | |
| zur Verfügung. Der Camparbeiter lächelt: "Wir haben keine ernsthaften | |
| Verletzungen zu beklagen, aber wir hatten schon ein paar Geburten." Und | |
| jeden Abend, nachdem die dritte Mahlzeit des Tages serviert wurde, läuft | |
| ein Film auf der großen Leinwand neben dem Gebetszelt der Männer, in dem | |
| Dutzende von bunten Teppichen auf dem Boden ausgebreitet liegen. Ein Imam | |
| aus Syrien, selbst geflohen aus seiner Heimat, ruft zum Gebet über | |
| Lautsprecher, die im ganzen Lager zu hören sind. | |
| Mehr als 3.000 syrische Flüchtlinge leben in Boynuyogun, dem dritten Lager | |
| des Roten Halbmonds in der türkischen Provinz Hatay. Es hat zehn Tage | |
| gedauert, diese "Stadt" aufzubauen, damit die "Gäste" einziehen konnten. | |
| Der Rote Halbmond geht auch sehr sorgsam damit um, wie die Flüchtlinge | |
| genannt und angeredet werden. Sie nennen sie "Gäste, die in vorübergehenden | |
| Schutzzentren untergebracht sind", sagt Emre Manav, der örtliche Vertreter | |
| des türkischen Außenministeriums in Hatay. | |
| Cirka 40 Leute arbeiten im Camp. Die Hälfte von ihnen sind Freiwillige aus | |
| der Umgegend, keine Roter-Halbmond-Freiwilligen, sondern Leute, die von | |
| ihrer Arbeit und ihren Familien abberufen wurden, um hier den Flüchtlingen | |
| zu helfen. Diese Freiwilligen, die es vorziehen, nicht genannt zu werden, | |
| erzählen, dass sie die Bitte des Roten Halbmonds in Boynuyogun auszuhelfen | |
| einfach nicht ablehnen konnten. "Ich empfinde das als meine Pflicht", sagt | |
| einer der Freiwilligen. "Ich hoffe nur, dass meine Frau sich nicht scheiden | |
| läßt - ich verlasse das Haus um sieben Uhr und komme erst um zwei Uhr | |
| morgens wieder zurück. Er sieht seine Familie kaum noch und entschuldigt | |
| sich im Gespräch dafür, dass er vielleicht manchmal ein bißchen seltsam | |
| rede, da er nur noch drei bis vier Stunden Schlaf in der Nacht bekommt. | |
| "Wir teilen ihre Sorgen und ihr Leid, sagt er über die syrischen | |
| Flüchtlinge. "Wir versuchen, ihnen das beste zu geben, alles, was wir | |
| können." Während der Helfer das erzählt, kommt ein syrischer Mann auf ihn | |
| zu und sagt, dass Verwandte von ihm gerade aus Italien herübergeflogen | |
| sind, um Hatay zu besuchen - und er möchte gern einen Besuchstermin | |
| vereinbaren. So wie dieser Mann, kommunizieren viele der Flüchtlinge im | |
| Lager mit ihren Verwandten draußen über ihr Mobiltelefon. Eine hohe | |
| Elektrosäule mit vielen Steckern wurde neben den Waschräumen installiert. | |
| Dutzende von Mobiltelefonen baumeln dort an ihren schwarzen Kabeln. | |
| ## | |
| Der Rote Halbmond wurde sehr scharf kritisiert für die Abschottung der fünf | |
| Flüchtlingslager auf der türkischen Seite der Grenze. Den Medien wurde der | |
| Zutritt verboten und Journalisten haben keine Erlaubnis, mit irgendeiner | |
| der Familien auf dem Lagergelände zu sprechen, auch nicht mit jenen, die | |
| von sich aus auf die Reporter zugehen wollen, die an den trutzigen | |
| Stahlzaun herankommen. | |
| Mehrere Medienorganisationen haben vernichtende Kritik am Roten Halbmond | |
| geäußert, haben geschrieben, die Lebensbedingungen in den Camps seien | |
| elendig - aber sie waren nie wirklich drin in einem dieser Lager. "Die | |
| internationalen Medien zeigen die Türkei nicht immer von ihrer besten Seite | |
| - deshalb sind wir vorsichtig geworden, sagt der Bedienstete." Die Medien | |
| kämen hierher und wollten eine Story aus irgendjemandem herausholen, das | |
| sei ihr Hauptinteresse. "Und wir müssen die Flüchtlinge vor zuviel | |
| publicity schützen." | |
| Wenn man sie direkt fragt, bringen die Flüchtlinge nur Dankbarkeit zum | |
| Ausdruck für die Rolle der Türkei, die hier ihre Sicherheit und ihren | |
| Schutz garantiert. So wie dieser Mann, lächelnd, Hände schüttelnd mit den | |
| offiziellen Lagerhelfern. Sie haben einen Satz in türkisch gelernt: "Cok | |
| güzel Türkiye" (Die Türkei ist großartig) | |
| ## "El Hamdullah, wir sind am Leben" | |
| Eine junge Lehrerin, Rana, brennt darauf, ihre Geschichte zu erzählen, wie | |
| sie aus Jisr al-Shughour geflohen ist und es geschafft hat, mit ihrer | |
| Familie vor zehn Tagen sicher nach Boynuyogun zu gelangen. Aber zwei von | |
| ihren Brüdern haben nicht so viel Glück gehabt. Sie wurden beieinem Angriff | |
| der syrischen Armee auf ihre Heimatstadt Jisr al-Shughour umgebracht. | |
| Trotzdem lächelt sie und sagt: "El Hamdullah, wir sind am Leben. Ich bin | |
| glücklich, hier zu sein." | |
| Der Rote Halbmond sagt, er hält die Presse draußen, um die Flüchtlinge zu | |
| beschützen. "Wenn sie dabei gesehen werden, von draußen, wie sie mit den | |
| Medien reden, wird es für sie sehr schwierig, nach Syrien zurückzugehen", | |
| sagt M. Der Gedanke, nach Hause zurückzukehren scheint allerdings eine weit | |
| in die Ferne gerückte Möglichkeit zu sein, da die Truppen des Präsidenten | |
| Bashar al-Assad immer weiter die Grenze entlang vordringen. Diese Truppen, | |
| sagen Syrer, die in die Türkei geflohen sind, brennen auf ihrem Weg die | |
| Häuser nieder und vergiften die Wasserstellen in den kleineren Städten. | |
| In der Konsequenz, scheint die Unterbringung der Flüchtlinge in den Lagern | |
| des Roten Halbmonds alles andere als vorübergehend zu sein. Ein Team von | |
| Arbeitern in Boynuyogun baut gerade neue Baderäume, Duschen und Waschbecken | |
| für die syrischen Familien. Und ungefähr zehn Kilometer entfernt wächst | |
| eine neue und noch größere "Stadt" aus dem Staub der Felder. Sie wird noch | |
| einmal 15.000 Menschen versorgen können. | |
| "Na, du kennst ja uns Türken", sagt Yusuf, ein Busfahrer aus Antakya, der | |
| nächst gelegenen großen Stadt in Hatay. "Wir heißen sie willkommen mit | |
| offenen Armen. Wir fühlen mit ihnen." | |
| 1 Jul 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Nurhan Kocaoglu | |
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