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# taz.de -- Die Reform des Wahlrechts: Der komplizierteste Text der Welt
> Bisher haben Sie weitergeblättert oder -geklickt, wenn es um das Thema
> Wahlrecht ging? Wir versuchen es trotzdem - es ist wichtig.
Bild: Ein Wahllokal in Bremen. Bis Ende Juni sollte es eine Neuregelung des Wah…
1. "Wahlrechtsreform" klingt todlangweilig. Warum soll ich mich damit
beschäftigen?
Mal angenommen, die schwarz-gelbe Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel
platzt im September. Weil sie die nervenzerfetzende Europakrise nicht
aushält oder sich beim Dealen um die Steuerreform zerlegt. Dann könnten die
BürgerInnen keinen neuen Bundestag wählen, denn das aktuelle Wahlrecht ist
verfassungswidrig. Würde jetzt gewählt, hätte eine "Wahlprüfungsbeschwerde"
Erfolg, schreibt Hans-Jürgen Papier, ehemals Präsident des
Bundesverfassungsgerichts, in einem am Mittwoch vorgestellten Gutachten -
Karlsruhe würde die Wahl für ungültig erklären.
2. Klingt nach Bananenrepublik. Wie kann das passieren?
Bereits im Juli 2008 beanstandete das Bundesverfassungsgericht das
Bundeswahlgesetz und beauftragte den Gesetzgeber, es zu ändern. Am 30. Juni
2011 endete die Frist. Die Koalition hat es aber nicht geschafft, ein
entsprechendes Gesetz zu verabschieden. Schwarz-Gelb hat lediglich in
letzter Minute einen Gesetzentwurf eingebracht, der für die Opposition
nicht akzeptabel ist.
3. Was hat das Bundesverfassungsgericht beanstandet?
Das höchste deutsche Gericht stört sich am "negativen Stimmgewicht", das im
aktuellen Wahlrecht auftreten kann. Dabei kann es passieren, dass eine
Partei durch zusätzliche Zweitstimmen bei einer Bundestagswahl weniger
Mandate erhält, als wenn sie etwas weniger Stimmen hätte - der Wählerwille
kann ins Gegenteil verkehrt werden. Das liegt an den Überhangmandaten, die
entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt,
als ihr nach den Zweitstimmen zustehen.
4. Häh, wie? Hab ich nicht verstanden.
Erhält eine Partei bei einer Bundestagswahl zum Beispiel 30 Prozent der
Stimmen, steht ihr auch eine entsprechende Anzahl Bundestagsmandate zu.
Diese Anzahl würde auf die Bundesländer gemäß der dortigen Ergebnisse
aufgeteilt. In manchem Bundesland kann dann aber der Fall eintreten, dass
die Partei mehr Direktmandate bekommen hat, als ihr durch die Zweitstimmen
zustehen würde. Dadurch entstehen Überhangmandate - die direkt gewählten
Abgeordneten dürfen alle in den Bundestag einziehen.
Jetzt wird es ein wenig kompliziert, also ein Beispiel: In Bremen hat die
Partei Überhangmandate erreicht. Würde sie dort nun theoretisch mehr
Zweitstimmen bekommen als sie tatsächlich hat, würde sich an der Anzahl der
Mandate im Bundestag zunächst nichts ändern. Im Vergleich zu anderen
Bundesländern aber schon eher: So könnte es passieren, dass die errungenen
Mandate der Partei anders aufgeteilt werden. Ein Mandat aus einem anderen
Bundesland, zum Beispiel Niedersachsen, würde nach Bremen wandern. Weil die
Partei in Bremen aber Überhangmandate hatte, würde einfach eines davon in
ein reguläres umgewandelt. In Niedersachsen würde es aber fehlen.
Das Ergebnis: Die Partei hat ein Bundestagsmandat weniger, weil sie in
Bremen mehr Zweitstimmen erhalten hat. Das Prinzip funktioniert auch
umgekehrt.
5. Was muss das neue Wahlrecht erfüllen?
Laut Bundesverfassungsgericht ist das negative Stimmgewicht
verfassungswidrig - die neue Regelung muss diesen Fall ausschließen. Es
handele sich bei dem Effekt auch nicht um ein theoretisches Konstrukt. Im
Gegenteil: Das negative Stimmgewicht kommt häufig vor, sobald
Überhangmandate auftreten.
6. Wie sieht der Vorschlag der Koalition aus?
Die Koalition will die Wählerstimmen in den Bundesländern anders als bisher
zunächst getrennt behandeln. Eine solche Lösung hatte das Gericht damals
vorgeschlagen. "Unser Gesetzentwurf korrigiert den Kern des Problems, indem
er auf die Verbindung der Landeslisten verzichtet. Er ist die einfachste
und logischste Lösung", sagt Unionsfraktionsvize Günter Krings. Er räumt
jedoch ein, dass die Gefahr bestehe, dass "rein theoretisch Reste des
negativen Stimmgewichts weiter auftreten können."
7. Warum hat die Koalition so lange gebraucht?
Ganz klar: Dass die Koalition das Land in einen rechtlosen Zustand
manövriert hat, ist politisches Versagen. Klar ist auch: Das Wahlrecht ist
der Schlüssel für die Machtverteilung. Hinter technisch klingenden Details
stecken knallharte Kämpfe, und in einer Koalition aus Union und FDP fällt
eine Einigung viel schwerer als etwa in einer großen Koalition. Weil beim
Wahlrecht große Parteien grundsätzlich andere Interessen haben als kleine.
8. Zum Beispiel?
Die FDP hat sich lange gegen die Regelung gestemmt, die Nachteile für
kleine Parteien bringt. Wenn etwa in einem kleinen Bundesland wie Bremen
die FDP-Wählerstimmen nicht für ein Mandat ausreichen, würden sie unter den
Tisch fallen. Deshalb hat die Koalition eine so genannte
Reststimmenkorrektur vereinbart. Dabei werden solche nicht berücksichtigten
Stimmen auf Bundesebene zusammengezählt, in weitere Mandate umgerechnet,
also quasi gerettet. Und zwar in der Landesliste, in der die Partei am
nächsten an ein zusätzliches Mandat heranreicht. Für die FDP, die in
Umfragen an der Fünfprozenthürde kratzt, sind das zwei Pluspunkte: Ein
machtpolitischer durch die Stimmenrettung, ein psychologischer, weil sich
ein Wahlkampf auch in wenig aussichtsreichen Ländern noch lohnt.
9. Wer profitiert bei ihrem Konzept?
Vor allem die Union. Der Entwurf bevorteilt die Partei, die bei einer Wahl
die meisten Überhangmandate holt. Das sind oft CDU oder CSU, weil sie über
hohe Erststimmenergebnisse viele Direktkandidaten ins Parlament schicken.
Bei der Bundestagswahl 2009 hatten CDU und CSU über sie 22 zusätzliche
Sitze erhalten, die anderen Parteien gingen leer aus. Die FDP hat dem nur
zugestimmt, weil die Reststimmen gerettet werden. Mit Blick auf den
Konflikt zwischen Klein- und Großpartei sagt Unionsfraktionsvize Krings,
dass ein Interessenausgleich stattgefunden habe. "Der Gesetzentwurf ist ein
Kompromiss, der beide Sichtweisen angemessen berücksichtigt." Folgt man
dieser Logik, hätte die FDP auch für die Kleinpartei Die Linke gekämpft.
10. Was will die Opposition?
Die SPD hat in den vergangenen Wochen mehrfach betont, dass sie nicht nur
das negative Stimmgewicht beseitigen will, sondern sich auch an den
Überhangmandaten insgesamt stört. "Durch die große Zahl von
Überhangmandaten kann es bei der nächsten Bundestagswahl dazu kommen, dass
die Parteien, die die Mehrheit der Stimmen bekommen haben, trotzdem nicht
die Regierung stellen können", sagte Thomas Oppermann. Und rechnete dies
anhand einer aktuellen Umfrage vor.
Nach der hätte Rot-Grün mehr Stimmen als Schwarz-Gelb gehabt, aber wegen
der Überhangmandate weniger Sitze. Die SPD will deshalb den Effekt der
Überhangmandate durch Ausgleichsmandate nivellieren. "Eine solche Lösung
korrigiert das negative Stimmgewicht nicht, sie dämpft allenfalls den
politischen Effekt", kommentiert Unionsfraktionsvize Günter Krings. "Sie
würde zudem den Bundestag stark aufblähen, weil hohe Zahlen von
Ausgleichsmandaten anfielen."
11. Welches Drohpotenzial hat die Opposition?
Thomas Oppermann kündigte am Mittwoch in Berlin an, dass die SPD vorm
Bundesverfassungsgericht klagen wolle, sofern die Regierung bis September
nicht einen verbesserten Vorschlag vorlegt. Entweder will die SPD die
Regierung dann für den aktuellen schwarz-gelben Entwurf verklagen, weil er
das Problem laut Oppermann nicht löse. Oder aber weil die Regierung gar
keinen Entwurf präsentiert.
12. Wie geht es jetzt weiter?
Oppermann betont, dass die SPD bis zum Schluss gesprächsbereit sei. "Aber
nicht auf Basis des aktuellen Entwurfs der Koalition", sagt er. Er beklagt
sich, dass die Gespräche bislang missbraucht wurden, um die versäumten
Fristen zu rechtfertigen. Trotz aller Drohgebärden stehen die Chancen für
eine Einigung durchaus gut: Wahlrechtsfragen werden im Parlament
traditionell im möglichst großen Konsens beschlossen, die Union
signalisiert Gesprächsbereitschaft. Ein Kompromiss könnte etwa sein,
Überhangmandate zumindest teilweise auszugleichen, um dem Wunsch der SPD
entgegenzukommen.
14 Jul 2011
## AUTOREN
G. Repinski
U. Schulte
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