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# taz.de -- Chilenischer Dichter Raúl Zurita: "Die Farben der Wüste"
> Der chilenische Dichter Raúl Zurita gehörte zur Opposition gegen die
> Pinochet-Diktatur und war Kulturattaché in Rom. Gespräch über sein Werk,
> Diktaur und Protest gegen das Bildungssystem Chiles.
Bild: Zurita schrieb 1993 auf einer Länge von über drei Kilometern in die Obe…
taz: Herr Zurita, in Ihrem literarischen Werk nimmt die Wüste einen
bedeutenden Platz ein. In der Atacama-Wüste Chiles findet sich vieles
konserviert: Überreste prekolombianischer Kulturen, Ruinen der
Salpeterindustrie, Massengräber aus der Zeit der Militärdiktatur oder die
Hinterlassenschaften des wachsenden Tourismus. Trotzdem reden Sie heute in
Berlin über die Wüste und "vom Verschwinden". Wie passt das zusammen?
Raúl Zurita: Es geht um etwas Konkretes: die Diktatur und die Wüste. Die
Farben der Wüste, die unendlichen Abstufungen von Kaffee und Ocker sind
auch die Farben unserer Gesichter, die Farben eines menschlichen Antlitzes.
Ich glaube diese fundamentale Übereinstimmung ist Teil der Faszination, die
bereits in weit zurückliegenden Zeiten wahrgenommen wurde. Es ist, als ob
in der unendlichen Ausdehnung, in der Nacktheit der Hänge, der Ebenen und
Hügel unsere Gesichtszüge bereits enthalten wären und auch die Leere einem
Bild entspräche - dem stärksten für das, was wir aus Mangel an treffenderen
Worten beharren Seele zu nennen. Ich habe über die Wüste geschrieben, weil
das die Form war, die ich besaß, um an die Gesichter und Leben zu erinnern,
die zerstört wurden. An Körper, die man nicht fand. Die chilenische
Diktatur hat diese Leben zerschnitten, Gesichter und Körper zerstört, deren
Überreste oftmals in der Wüste verborgen.
In der Phase der Transición (des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie)
schrieben Sie 1993 auf einer Länge von über drei Kilometern in die
Oberfläche der Atacama-Wüste ein Gedicht, dessen einzelne Buchstaben
vierzig Meter maßen: "Ni pena ni miedo" ("Weder Schmerz noch Angst"). Wie
kam es dazu?
Ich stellte mir diesen Satz, den man nur aus der Luft sehen konnte, 1975
während der Hochphase der Diktatur vor - in einem Moment, in dem es in
Chile nur Schmerz und Angst gab. Aber erst achtzehn Jahre später konnte ich
diese Arbeit umsetzen. Zur gleichen Zeit entstand ein weiteres Gedicht, das
von Flugzeugen in den Himmel geschrieben werden sollte, und das ich dann
1982 in New York realisierte.
Ihr Gedicht in der Atacama-Wüste erinnert an die prekolumbianischen
Zeichnungen in der peruanischen Wüste von Nazca. War das ein Zufall?
Die Linien von Nazca und andere der vielen in der Wüste konservierten
Spuren geben Auskunft über die Bevölkerungen in verschiedenen Epochen. "Ni
pena ni miedo" ist ein weiteres Zeichen in der Wüste, das über unsere Zeit
Auskunft gibt, von Schmerz und vielleicht vom Überleben.
Traditionell genossen die Wüste und ihre Bewohner kein großes Ansehen in
Chile, obwohl das Land einen Großteil seiner Einkünfte dem Abbau der
dortigen Rohstoffe, wie Kupfer oder Lithium, verdankt. Ein auffälliges
Missverhältnis?
Ich glaube nicht, dass das stimmt. Die Vorurteile in Chile sind unabhängig
von den Regionen tief verwurzelt. Soziale Klassenvorurteile durchdringen
die gesamte chilenische Gesellschaft. Grausamster Ausdruck davon war 1973
der Militärputsch gegen Salvador Allende und das sozialistische Projekt.
Während der Diktatur waren Sie Mitglied des Künstlerkollektivs Cada
(Colectivo de Acciones de Arte) in Santiago de Chile. Gemeinsam führten Sie
in der Zeit verschiedene künstlerische Aktion mit subversivem und
politischem Charakter durch. Zum Beispiel verteilten sie Milch an die
Bevölkerung, ließen Flugblätter aus Flugzeugen abwerfen und verbreiteten
die Chiffre "No+" auf Hauswänden und in der Öffentlichkeit. Wie definieren
Sie heute Ihre Rolle als Dichter?
Die Werke, die mir etwas bedeuten, sind jene, die auch etwas beleuchten,
was außerhalb der Kunst oder Literatur liegt. Doch ich verabscheue von
ganzem Herzen solche, die sich politisch einer Aufgabe verschreiben und
nicht mit künstlerischer Freiheit entstanden sind. Dieser radikale Begriff
von Freiheit ist das, was Kunst ausmacht und von allen anderen menschlichen
Produktionen unterscheidet. Das ist das Einzige, was zählt. Während in den
exakten Wissenschaften eine Ausnahme reicht, um eine Theorie zu Fall zu
bringen, ist in der Kunst alles Ausnahme.
Aktuell gehen Hunderttausende gegen das Bildungssystem - ein Erbe aus der
Regierungszeit Pinochets - in Chile auf die Straße. Formiert sich da eine
große neue Bewegung, haben die Leute keine Angst mehr?
Nein, Angst gibt es schon seit vielen Jahren nicht mehr, zumindest im
konkreten Sinne des Wortes. Die Proteste begannen jedoch bereits während
der Mitte-links-Koalition, aber sie entfalteten sich nicht mit ganzer
Kraft. Auch wenn dieses Bündnis der Concertación das alte von Pinochet
durchgesetzte Wirtschaftssystem weitgehend übernahm, war es doch auch
jenes, das die Diktatur besiegt hatte und den Prozess der Demokratisierung
in Gang setzte.
Nun regieren seit März 2010 mit Piñera erstmals wieder die chilenische
Rechten. Für die Bewegungen gibt es keinen Grund zur Zurückhaltung mehr?
Mit dem Sieg von Sebastián Piñera, unterstützt von den rechten Parteien und
den ehemaligen Anhängern der Diktatur, hat sich dieses zwiespältige Gefühl
erledigt. In den aktuellen Protesten zeigt sich die ganze Empörung, die
sich seit dem Militärputsch des 11. September 1973 über die Ungerechtigkeit
aufgestaut hat. Chile ist jenseits vom Mythos seines ökonomischen Erfolgs
weltweit einer der Staaten mit der ungerechtesten Einkommensverteilung. Mit
all den üblen Folgeerscheinungen: extreme Armut, Ungleichheit und
Chancenlosigkeit für viele.
21 Jul 2011
## AUTOREN
Eva-Christina Meier
## TAGS
Chile
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