| # taz.de -- Debatte Libyen: Oje, Gaddafi ist ein Diktator | |
| > Das bei linken Kritikern beliebte Bild vom aufgeklärten Despoten verkennt | |
| > fahrlässig die Lage der meisten Libyer vor dem Nato-Angriff | |
| Bild: Ermordet: General Abdelfattah Junis. | |
| "Heuchler", "Diebe!", "Lakaien Frankreichs und der USA!" Höflichere | |
| Bezeichnungen für die Staatschefs des Maghreb fielen der 20-jährigen | |
| Studentin Amina wirklich nicht ein. | |
| Man schrieb das Jahr 1994, und wir spazierten damals durch die Ville | |
| Impériale im marokkanischen Meknes, über den Rasen, der das unterirdische | |
| Gefängnis Moulay Ismaels zudeckte. Etwa zehn Meter tiefer hatte der ebenso | |
| reformfreudige wie brutale Herrscher Ende des 17. Jahrhunderts Menschen | |
| verschwinden lassen. Sie lagen hier so lange in ihrem Gestank, bis ein | |
| rätselhafter Wille sie erlöste oder sie von alleine krepierten. Zum Glück, | |
| so meinte Amina, gebe es 300 Jahre später Männer, die ihre Visionen nicht | |
| durch Zwang vermittelten, sondern Überzeugungskraft. Männer wie Oberst | |
| Gaddafi, den Verfasser des Grünen Buchs: Islam und Sozialismus, Bildung und | |
| Basisdemokratie, all das hatte der libysche Revolutionsführer aus ihrer | |
| Sicht vereint und überdies das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen | |
| Afrikas geschaffen. | |
| ## Die andere Sightseeingtour | |
| An den Spaziergang mit Amina musste ich denken, als ich mich vor ein paar | |
| Wochen in Bengasi durch das unterirdische Geheimgefängnis Muammar | |
| al-Gaddafis bewegte. Aufständische hatten es im Februar 2011 geknackt. Das | |
| Verlies ist ähnlich groß wie das von Moulay Ismael, etwa wie ein | |
| Fußballfeld. Alles ist sorgfältig planiert und asphaltiert. Gut möglich, | |
| dass eine ausländische Baufirma hier den lukrativen Auftrag zum | |
| Ausschachten einer Tiefgarage umgesetzt hatte. Tatsächlich aber wurden dort | |
| Gefangene lebendig begraben und vegetierten in ihrem Kot und ihrem Urin | |
| dahin, bis zum Februar 2011. | |
| Für meinen Freund Ali, dank dessen Taschenlampe wir uns vortasteten, war es | |
| unvorstellbar, dass irgendwo auf der Welt zu irgendeinem Zeitpunkt | |
| irgendjemand den Schöpfer dieser Gruft mit etwas Modernem in Verbindung | |
| bringen könnte. Als Ostlibyer hatte er schon alles Mögliche gesehen, | |
| Modernes aber eher nicht. | |
| Statistisch gesehen ist der Gesamtstaat zwar ungleich reicher als seine | |
| Nachbarn. Das vorhandene Geld aber wurde, mit Ausnahme weniger | |
| Prestigeprojekte, nur in diejenigen Regionen investiert, die dem | |
| Gaddafi-Clan als politisch zuverlässig erschienen. In der Cyrenaika etwa | |
| verfallen Häuser, klaffen Löcher in den Straßen, falls die Verbindungswege | |
| überhaupt asphaltiert sind, Hafenanlagen sind veraltet und verrotten. Schon | |
| eine durchschnittliche marokkanische, tunesische, algerische Region wirkt | |
| im Vergleich wie aus dem Ei gepellt. | |
| In Libyen sorgten gut organisierte Grundschulen für eine flächendeckende | |
| Alphabetisierung. Fremdsprachen jedoch wurden so gut wie gar nicht | |
| unterrichtet. Das Land rekrutierte Gastarbeiter in den Nachbarländern. | |
| Libyer selbst sind nicht einmal im Maghreb konkurrenzfähig. Chancen auf | |
| einen internationalen Bildungsstandard konnte sich nur ausrechnen, wer aus | |
| einer zuverlässigen West-Region stammte und vom Regime zum Studium ins | |
| Ausland geschickt wurde. | |
| ## Die Übergriffe vor dem Angriff | |
| Als Ali und ich durch das unterirdische Geheimgefängnis gingen, waren wir | |
| gerade von einer Tour nach Adschdabija zurückgekehrt. Wir hatten Kinder mit | |
| Verbrennungen am ganzen Körper gesehen, Zivilisten, denen nach dem | |
| gezielten Beschuss auf ihre Wohnhäuser Gliedmaßen amputiert werden mussten, | |
| mit den Familien vergewaltigter Frauen gesprochen und in den Krankenhäusern | |
| deren Fälle nachrecherchiert. Die meisten dieser Übergriffe von | |
| Gaddafi-Truppen hatten sich vor Beginn der Nato-Luftschläge ereignet. | |
| Zurück in Deutschland, erzählte ich beim Afrika-Verein der deutschen | |
| Wirtschaft von diesen Dingen. Man fiel aus allen Wolken. Unglaublich! Solch | |
| ein Regime war das? Man habe selbstverständlich nie einen Diktator | |
| unterstützt, sondern nur Bauaufträge oder ähnliche Projekte vermittelt, die | |
| den Menschen zugutekamen. Libyen unter Gaddafi, das sei das Land mit dem | |
| höchsten Pro-Kopf-Einkommen Afrikas gewesen, zufriedenen Menschen und so | |
| weiter. | |
| ## Schlagseite linker Kritiker | |
| Überraschend war, dass linke Kritiker des Nato-Einsatzes ähnlich | |
| argumentierten. Wie könne es angehen, fragte etwa der ehemalige Direktor | |
| des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Reinhard Mutz, | |
| dass Libyen mit seiner hohen Platzierung im UNO-Human-Development-Report | |
| über Nacht zum Schurkenstaat degradiert werde! (Blätter für deutsche und | |
| internationale Politik, 6, 11). In der Manier von Wirtschaftskapitänen | |
| versicherte man, mit Gaddafi persönlich nichts am Hut zu haben (Daniela | |
| Dahn, ebd., 7, 11), auch sage die Platzierung auf Platz 53 noch "nichts | |
| über Rechtsstaatlichkeit, nichts über persönliche Freiheiten der Bürger" in | |
| Libyen aus. | |
| Doch dessen ungeachtet bemüht man sich im Anschluss fieberhaft, Hinweise | |
| für folgende These zu sammeln: Regierungstruppen hätten vor dem | |
| Nato-Einsatz keine Massaker unter der Zivilbevölkerung veranstaltet. | |
| Daniela Dahn informierte in ihrer Replik auf Mutz gar darüber, dass die | |
| Gewalt in Libyen ursprünglich von einer Gruppe fanatisierter Islamisten | |
| ausgegangen sei, deren Erregung über die Mohammed-Karikaturen groß war. | |
| Fünf Jahre später hätten Sympathisanten den Jahrestag der damaligen | |
| Ausschreitungen feiern wollen, dann habe der Staat eben reagiert. Morde der | |
| Aufständischen an vermeintlichen Milizionären werden erwähnt, Angriffe von | |
| Söldnern auf zivile Wohngebiete, deren Misshandlungen von Frauen nicht. | |
| Warum eine zynische Geostrategie von EU und USA im Umkehrschluss bedeutet, | |
| dass über recherchierbare Kriegsverbrechen zu schweigen ist, erschließt | |
| sich mir nicht, scheint aber unter vielen (linken) Kritikern des | |
| Nato-Einsatzes einer Art Common Sense zu entsprechen. | |
| Als Effekt entsteht das Bild von einem - für Afrikaner - vorbildlichen | |
| Gemeinwesen, unter einem zwar brutalen, aber sozial denkenden Diktator. Die | |
| Idee vom aufgeklärten Despoten ist offenbar, von links bis rechts, nicht | |
| totzukriegen. Und so werden wir in Hunderten Jahren noch immer über die | |
| gleichen Hohlräume wandeln; wohl nicht nur im übertragenen Sinn. | |
| 24 Jul 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Marc Thörner | |
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