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# taz.de -- Norwegen nach den Attentaten: "Mich beeindruckt der Zusammenhalt"
> Die Wahlnorwegerin Rebekka Borsch über die plötzliche Emotionalität ihrer
> Landsleute, die politischen Folgen der Anschläge und die zunehmende
> Islamophobie.
Bild: "Die Norweger sind sonst in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend und n…
taz: Frau Borsch, man sah nach den schrecklichen Anschlägen Bilder aus Oslo
von Menschen, die sich versammeln.
Rebekka Borsch: Ja, das stimmt. Die Leute rücken wirklich zusammen. Man
zeigt seine Verletztheit, das ist sehr ungewöhnlich. Man zeigt, dass man
trauert und dass man das in sich trägt. Das war auch das Tröstende an dem
Marsch, der vor ein paar Tagen geplant war, aber wegen der Zahl der
Teilnehmer in eine Gedenkfeier umgewandelt wurde. Dort sah man, dass die
Menschen aus sich rausgegangen sind und sich mitgeteilt haben.
Ist das sonst nicht so?
Die Norweger sind sonst in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend und nicht
so überschwänglich. Es dauert, bis man mit Leuten warm wird. Was gerade
passiert, finde ich unheimlich faszinierend. Wie sich das nun mittelfristig
entwickelt, ist noch mal eine andere Frage. Ich habe gestern viele meiner
Parteikollegen getroffen und bin gespannt, wie sich das veränderte
Miteinander auf die Wahl auswirkt.
Wie schätzen Sie die Aussichten für die Parteien ein?
Alle sind sich sicher, dass die Arbeiterpartei eine Sympathiewelle erleben
wird. Alle hoffen auch, dass die 30 bis 35 Prozent der Sofawähler sich nun
aktivieren lassen. Denn die Debatte ging in den letzten Tagen stark in die
Richtung, dass die Anschläge ein Angriff auf unsere Demokratie waren und
wir nun zusammenstehen und unseren Politikern den Rücken stärken müssen.
Dass genau die Jugendlichen, die sich politisch engagiert haben, so
abgeschlachtet wurden, hat die Leute wachgerüttelt. Ich sehe das an unserer
kleinen Partei, dass wir in den letzten Tagen unheimlich viele neue
Mitglieder bekommen haben. Das dürfte in den anderen Parteien genauso sein,
in der Arbeiterpartei wahrscheinlich am stärksten.
Wollen die Norweger so ihr Selbstbild korrigieren?
Ein gewisser Teil der Bevölkerung ist islamophob, beziehungsweise dadurch
geprägt, dass wir besonders Einwanderer jahrelang in Schubladen gesteckt
haben. Ich glaube, die Leute sind ein wenig wachgerüttelt worden, dass
dieses Schubladendenken gefährlich werden kann, dass man in Stereotype
verfällt. Besonders fällt dabei auf, dass am Anfang ja alle gedacht haben,
dass die Taten islamischen Terroristen zuzuschreiben seien. Es gab ja sogar
spontane Angriffe, Menschen sind in der Osloer Innenstadt verprügelt
worden, weil sie aussahen wie Muslime. Das hat zu einer kollektiven Scham
geführt. Doch so ist die Gesellschaft in den letzten Jahren gewesen, dass
man reflexhaft zubeißt in Richtung muslimischer Einwanderer.
Gibt es darin eine Verbindung zum Rest Europas?
Es gibt in Teilen der Bevölkerung eine Tendenz, den Aussagen von
Rechtspopulisten zuzustimmen. Auch der Satz von Bundeskanzlerin Merkel,
"Die multikulturelle Gesellschaft ist gescheitert", ist hier fleißig
zitiert worden.
Welche Rolle spielt dabei die rechtspopulistische Fortschrittspartei?
Die Fortschrittspartei hatte vor einem Dreivierteljahr einen
Debattenbeitrag in der Aftenposten, der wichtigsten Zeitung des Landes, in
dem behauptet wurde, die Arbeiterpartei reiße unser Land in Stücke. Das
seien Landesverräter, weil sie durch ihre Politik die norwegische Kultur
zerstören würden. Das sind Worte, die man auch dem Milieu der
Rechtsextremisten zurechnen könnte - und das von Leuten, die hier als
moderate Rechtsaußen bezeichnet werden! Sie benutzen immer wieder die
Terminologie der extremen Rechten. Das Problem müssen wir angreifen.
Hat die norwegische Gesellschaft Brüche erlebt wie die in Holland?
Der Vergleich mit den Niederlanden ist treffend. Da hat es sich ja auch
sehr gewandelt. Die haben den Umschwung gemacht um 180 Grad. Die galten
lange als offen und haben inzwischen große Probleme mit der
Integrationspolitik. In Norwegen ist das auch so. Es wurde in den deutschen
Zeitungen zum Teil ein zu romantisches Bild von Norwegen gezeichnet. Es ist
nicht die friedvolle Gesellschaft, in der immer alle nur mit dem Ruderboot
über den Fjord fahren. Auch diese Nation ist, wie alle anderen europäischen
Nationen auch, im Umbruch. Wir haben ja jetzt 30 Jahre lang Einwanderung
gehabt und auch die Probleme, die Einwanderung mit sich bringt. Doch wie in
Holland hat man lange nicht darüber geredet.
Sondern?
Man hat das unter den Teppich gekehrt, ich würde sagen, noch konsequenter
als in anderen Ländern. In Norwegen hat man ja die Grundhaltung, dass alle
freundlich und lieb miteinander sein sollen. Auch in der politischen Elite
ist das lange beiseitegekehrt worden und das hat dazu geführt, dass diese
Fortschrittspartei Fuß gefasst hat als Gegenreaktion der Leute, die
unheimlich unzufrieden damit waren, dass man die Grenzen bewusst öffnet für
andere Menschen. Diese Partei hat in den letzten 15 Jahren den Diskurs
leider zu stark prägen dürfen.
In Deutschland gab es auch lange keine Einwanderungspolitik.
Wir haben hier auch offiziell keine Arbeitseinwanderung, abgesehen von der
aus den alten und neuen EU-Ländern. Norwegen ist ja Teil des Schengener
Abkommens. Genau wie in Deutschland müssen wir eine Debatte darüber
anfangen, wen wir hier im Land haben möchten, mal abgesehen vom Asylrecht,
was sowieso unantastbar ist. Dessen Einschränkung hat die
Fortschrittspartei übrigens auch schon gefordert, woran man sieht, dass die
so moderat nicht sind und es ein Selbstbetrug der Norweger ist, wenn sie
diese Partei als moderat bezeichnen.
Was macht das Norwegische überhaupt aus?
Ein wichtiger Aspekt für die norwegische Gesellschaft ist, dass die gesamte
Fläche dieses großen Landes besiedelt ist. Nicht wie in Schweden, wo im
Norden kaum jemand lebt. Die Norweger halten an jedem Felsen fest - das
gehört zu ihrem romantischen Selbstbild. Aber in Wirklichkeit ziehen seit
25 Jahren immer mehr der gut ausgebildeten jungen Leute in die Städte. Das
hat dazu geführt, dass das ländliche Norwegen weitab vom Schuss liegt und
komplett davon abhängig ist, dass Leute aus den alten, aber vor allem aus
den neuen EU-Ländern, hierherkommen. Es gibt kaum einen Bauernhof, auf dem
nicht Ausländer mitarbeiten. Es gibt kaum eine Klinik in der Provinz, die
nicht nach ausländischen Krankenpflegern sucht. Deutsche Ärzte ziehen in
Massen hierher. Ohne Ausländer sind besonders Dörfer in Teilen
Nordnorwegens auf lange Sicht davon bedroht, zu überaltern und damit
langsam auszusterben. Das ist auch Teil des kollektiven Selbstbetrugs, dass
sie denken, wenn sie die Grenzen zumachen, ginge es ihnen besser. Ohne die
Einwanderung kommt Norwegen nicht zurecht, auch wenn die Geburtenrate höher
ist als in Deutschland. Vor diesem Hintergrund ist die Einwanderungsdebatte
völlig falsch gepolt, weil sie immer auf die recht kleine Gruppe von
Muslimen gerichtet ist, die in Oslo leben und sich nicht integrieren. Dabei
ist Einwanderung doch ein viel weiteres Feld.
In Oslo sagen die Menschen nun, sie wollen Anders Behring Breivik keine
Aufmerksamkeit schenken. Ist das eine typisch norwegische Abgeklärtheit?
Wie abgeklärt diese Reaktion ist, kann man diskutieren. Ich glaube, sie ist
Teil der nationalen "Trotzreaktion" auf die ungeheuerliche Tat, auf den
Versuch, die Nation und die norwegische Gemeinschaft nachhaltig zu
zerstören. Nachdem klar geworden ist, dass Breivik auf Aufmerksamkeit aus
ist und dass das unfassbare Massaker und der Bombenanschlag "nur" Mittel
zum Zweck waren, nämlich seinem Manifest die Aufmerksamkeit der Welt zu
bescheren, hat sich schnell die Einstellung verbreitet, diesen Plan mit
vereinten Kräften zu boykottieren. Mich beeindruckt, wie sehr die Menschen
jetzt zusammenhalten und gemeinsam versuchen, die Fassung wieder zu
erringen, zum normalen Leben zurückzufinden, auch wenn es schwerfällt und
wehtut.
28 Jul 2011
## AUTOREN
Natalie Tenberg
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