# taz.de -- Nach dem Bahnunglück in China: "Blut-Wachstum" am Ende | |
> Chinesische Experten stellen das Wachstumsmodell des Landes infrage. Die | |
> Regierung reagiert mit Zensur: Nur noch positive Nachrichten werden | |
> veröffentlicht. | |
Bild: Demos nach dem Zugunglück: hier in Wenzhou. | |
PEKING taz | Die Anweisung war scharf und unmissverständlich: "Nach dem | |
schweren Eisenbahnunglück am 23. Juli ist die öffentliche Meinung im In- | |
und Ausland zunehmend komplizierter geworden. Alle heimischen Medien müssen | |
die Berichte über den Vorfall sofort herunterfahren." | |
So informierte Chinas oberste Zensurbehörde, das Propagandabüro der | |
Kommunistischen Partei, am Wochenende alle Chefredakteure und | |
Internetfirmen. Von nun an sei es nicht mehr erlaubt, "alle Berichte oder | |
Kommentare zum Thema" zu veröffentlichen, hieß es. Ausnahme: positive | |
Nachrichten und offizielle Informationen der Behörden. | |
Anlass für die Zensur ist eine beispiellose Debatte über die Kosten des | |
rasanten chinesischen Entwicklungsmodells, die der Unfall auf der | |
Hochgeschwindigkeitsstrecke nahe der ostchinesischen Stadt Wenzhou | |
ausgelöst hatte, bei dem 40 Menschen starben. Für das Unglück hatten die | |
Behörden Bahnsignale verantwortlich gemacht, die durch Blitzeinschlag | |
lahmgelegt worden sein sollen. | |
## Ehemaliger Eisenbahnminister im Gefängnis | |
Unter dem ehemaligen Eisenbahnminister Liu Zhijun, der seit dem Frühjahr | |
wegen Bestechlichkeit im Gefängnis sitzt, hatten Regierung und Staatsbanken | |
gewaltige Summen für den Ausbau der Bahn freigegeben: Zwischen 2007, als | |
die ersten Hochgeschwindigkeitsbahnen in China in Betrieb gingen, und 2020 | |
sollten die Eisenbahner ein nagelneues Schnellzugnetz von fast 17.000 | |
Kilometer bauen. Nach Berichten der Finanzzeitschrift Caixin ist das | |
Eisenbahnministerium mit über 135 Milliarden Euro verschuldet. Nun kann es | |
auch noch seine Hoffnungen abschreiben, den neuen Superschnellzug bald ins | |
Ausland zu exportieren - seit dem Unfall fahren viele der neuen Züge | |
zwischen Peking und Schanghai, die über 300 Stundenkilometer erreichen, | |
fast leer. | |
Zunehmend diskutieren Ökonomen nicht nur über das Eisenbahnunglück, sondern | |
auch darüber, ob in den letzten Jahren auch in anderen Bereichen wie in der | |
Atomenergie und beim Bau von Fabriken, U-Bahnen und Hochhäusern zu schnell | |
investiert wurde - womöglich ohne ausreichend auf die Bedürfnisse der | |
Bevölkerung und auf die Sicherheit zu achten. | |
## "Blutverschmiertes" Wirtschaftswachstum | |
Selbst das Parteiorgan Volkszeitung erklärte am vergangenen Freitag, China | |
dürfe nicht länger auf "blutbeschmiertes" Wirtschaftswachstum setzen. | |
Andere Medien beschuldigten das Eisenbahnministerium und die örtlichen | |
Provinzbehörden der Korruption und forderten, die Finanzen des gesamten | |
Hochgeschwindigkeitsprojektes offenzulegen. | |
Wie in China nach großen Unglücksfällen üblich, versuchten Funktionäre die | |
Angehörigen der getöteten Passagiere zu beschwichtigen, indem sie Geld als | |
Entschädigung anboten - unter der Bedingung, dass sie sich nicht mehr | |
öffentlich äußerten. Bis zum Wochenende steigerten die Behörden die | |
Kompensation auf 915.000 Yuan (knapp 100.000 Euro) pro Todesopfer. | |
## Warnung der Rechtsanwaltskammer | |
Zugleich warnte die Rechtsanwaltskammer von Wenzhou auf ihrer Webseite ihre | |
Mitglieder, sie dürften Opfer des Unglücks nicht ohne Genehmigung von oben | |
vertreten. Später entschuldigte sich die Kammer für diese Anweisung, ohne | |
allerdings den Inhalt zurückzunehmen. | |
Nun versucht Peking, den Volkszorn unter Kontrolle zu bekommen. Nur wenige | |
Zeitungen wagten es am Wochenende, sich der Zensuranweisung zu widersetzen. | |
Viele wechselten geplante kritische Artikel durch andere aus. Das | |
englischsprachige KP-Organ China Daily setzte wie verlangt eine positive | |
Nachricht auf ihre Webseite: "15 Familien der Unglücksopfer akzeptieren | |
Entschädigung." | |
1 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Jutta Lietsch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Attacken auf den Dollar: China riskiert ein Eigentor | |
China kritisiert die USA für ihre Haushaltspolitik harsch. Dabei sagen | |
Experten, dass es auch in China nicht so weitergeht wie bisher. Die Preise | |
steigen stark. | |
Kommentar China: Ein kurzer Informationsfrühling | |
Ein Bahnunglück zeigt, dass auch Chinas Führungsspitze manchmal Tage | |
braucht, um zu reagieren. Druck aus dem Internet und Streit ums Wachstum | |
machen dies möglich. | |
Peking zu Hochgeschwindigkeitszug: "Wir vertrauen ihm" | |
Trotz des schweren Zusammenpralls zweier Schnellzüge hält die chinesische | |
Regierung am hohen Tempo fest. Im Internet aber hagelt es massive Kritik. |