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# taz.de -- Rußlanddeutsche vor der Berlin-Wahl: Kein Stimmvieh für die CDU
> Russlanddeutsche sind die zweitgrößte Migrantengruppe in Berlin. Einst
> galten sie als treue CDU-Wähler - weil Helmut Kohl ihnen die Einwanderung
> ermöglicht hat. Doch Dankbarkeit ist heute kein Wahlmotiv mehr.
Bild: Die CDU hat es auch bei Rußlanddeutschen nicht so leicht
Warum er gerade für die CDU Politik macht? Artur Fütterer antwortet mit
einer Gegenfrage: "Wie soll man ein Bauchgefühl erklären?" Der 53-Jährige
spricht mit leichtem slawischen Akzent.
Fütterer wurde in Kasachstan geboren und kam 1995 mit Frau und zwei Kindern
als deutschstämmiger Spätaussiedler nach Berlin. Nach den Türken sind die
Russlanddeutschen mit geschätzten 75.000 die zweitgrößte Migrantengruppe in
der Stadt. Doch anders als Türkischstämmige, die in allen Parteien,
Gewerkschaften und vielen Verbänden zu finden sind, drängen
Russlanddeutsche nicht in die Politik. Es gab noch nie einen
Russlanddeutschen im Abgeordnetenhaus. Im September tritt ein einziger
Kandidat an: Sergej Henke für die CDU in Marzahn, auf einem aussichtslosen
Platz.
Fütterer, der zum zweiten Mal in die Bezirksverordnetenversammung (BVV) in
Treptow-Köpenick einziehen will und als Geschäftsführer seiner Fraktion
arbeitet, ist der einzige russlanddeutsche Berufspolitiker in Berlin. In
Marzahn-Hellersdorf bewerben sich bei CDU und Linken zwei Russlanddeutsche
um ehrenamtliche Sitze in der BVV. Die beiden Parteien erstellen auch
Wahlinformationen in russischer Sprache. "Ich bin wertkonservativ und habe
mich seit der Perestroika politisch interessiert", versucht Fütterer sein
Bauchgefühl in Worte zu fassen. "Als ich nach Deutschland kam, wurde ich in
meinem Beruf als Fluglotse nicht gebraucht." Der sowjetische Abschluss war
hier nicht anerkannt, Umschulungen gab es nicht. Wie viele russlanddeutsche
Akademiker verbrachte Fütterer seine Zeit vor dem Fernseher. Er liebte
politische Talkshows und schwärmte für Helmut Kohl und Norbert Blüm. Seine
Frau, als Mathematiklehrerin ebenfalls zum Nichtstun verdammt, habe ihn
gefragt, "warum ich das immer nur im Fernsehen angucke. Sie meinte, wenn
ich mal selber hingehe zu meiner CDU, dann würde ich neue Freunde finden."
Fütterer griff den Vorschlag auf und wurde nicht enttäuscht. "Unsere CDU in
Köpenick ist wie eine große Familie", sagt er stolz. Natürlich erwarte
seine Partei von ihm, dass er jetzt im Wahlkampf um die Stimmen der
Russlanddeutschen wirbt, doch das sei nicht einfach. "Die Älteren, die in
den 1990er Jahren gekommen sind, sind oft wertkonservativ und wählen uns
sowieso", weiß er. Vor allem aus Dankbarkeit, weil es die CDU war, die die
Russlanddeutschen ins Land holte. "Aber heute wählen Spätaussiedler
differenzierter", gesteht der CDU-Mann Fütterer. Die wenigen
Neuankömmlinge, die noch aus den GUS-Staaten kommen dürfen, würden schon
ein anderes Politikverständnis mitbringen. "Und unsere Kinder und Enkel
sind hier integriert. Sie haben deutsche Namen, sprechen keinen Akzent und
definieren sich nicht mehr in erster Linie als Russlanddeutsche." Seine
vier Enkel im Alter zwischen einem Jahr und elf Jahren wüssten bisher nicht
einmal, dass sie Nachfahren von Russlanddeutschen sind. "Da kann man keinen
spezifischen Wahlkampf mehr für sie machen. Die Parteien müssen um sie
werben wie um andere Wähler auch."
Auch Mario Czaja, der CDU-Chef in Marzahn-Hellersdorf ist, dem Bezirk mit
den meisten Russlanddeutschen, sieht es realistisch. "Die Dankbarkeit für
das Vergangene ist heute kein Wahlmotiv mehr", sagt er. Die CDU seines
Bezirks hat heute noch 20 russlanddeutsche Mitglieder. Es waren einmal mehr
als 60.
Auch Spätaussiedler Viktor Fromm gehörte bis vor sechs Jahren der CDU an.
Dann wurde der Vorsitzende des Vereins Lyra e. V., der die Ausstellung zur
Geschichte der Russlanddeutschen initiierte und gestaltete (siehe Text
unten) und sich um die Integration der Spätaussiedler kümmert, gefragt, ob
er für die Linke in die BVV kandidiert. "Die haben mir einen sicheren
Listenplatz angeboten. Bei der CDU bekamen Russlanddeutsche oft nur
unsichere Listenplätze."
Vor wenigen Monaten hat er sich aus gesundheitlichen Gründen von dem
zeitraubenden Mandat trennen müssen. "Aber ich habe etwas erreicht: Unsere
Ausstellung ist jetzt dauerhaft im Rathaus zu sehen."
Bei der zweiten Generation der Russlanddeutschen habe die CDU kaum noch
eine Chance, sagt Fromm. Sein Sohn etwa wolle bei den Wahlen für die Grünen
votieren. Das überlegt auch die Aufsichtsfrau der Ausstellung. "Ich habe
die letzten Male die SPD gewählt. Aber Renate Künast beeindruckt mich."
1 Aug 2011
## AUTOREN
Marina Mai
Marina Mai
## TAGS
CDU Berlin
Integration
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Deutsch mit bayerischem Akzent. Marina Webers Weg ähnelt dem vieler
Spätaussiedler.
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