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# taz.de -- Jobcenter durchsucht Wohnung: Ohne Arbeit kaum Grundrechte
> Eine krebskranke Frau liegt im Krankenhaus, derweil durchsucht das
> Jobcenter ihre Wohnung: Grundrechtswidrig, aber nicht mehr ungewöhnlich,
> sagen Hartz-IV-Kritiker.
Bild: Nicht immer feinfühlig: das Jobcenter.
Es ist eine jener Jobcenter-Geschichten, die gelegentlich an die
Öffentlichkeit dringen, meist aber nur in den unzähligen Hartz-IV-Blogs im
Internet die Runde machen. Am 24. März 2011 begibt sich Rebekka Müller
(Name geändert) zur Krebsuntersuchung in die Klinik Havelhöhe. Die
57-Jährige denkt, dass sie nach drei Tagen wieder nach Hause kommt. Doch
die Diagnose macht eine unverzügliche Weiterbehandlung nötig. Da Frau
Müller Arbeitslosengeld II bezieht, hält eine Bekannte den Kontakt zum
Jobcenter Reinickendorf und gibt dort wiederholt Dokumente ab, die auch
über den jeweiligen Aufenthaltsort von Frau Müller informieren.
"Ich war in der Zeit bestimmt vier oder fünf Mal im Jobcenter und habe
Liegebescheinigungen und Atteste abgegeben", sagt die Bekannte. "Angeblich
aber lagen die Dokumente nicht vor." So wird nach ihren Angaben am 18.
April mit der Abgabe des Folgeantrags zur Weiterbewilligung der
Arbeitslosengeld-II-Leistungen auch die Liegebescheinigung für eine
Anschlussbehandlung in der Charité übermittelt und im Jobcenter mit einem
Eingangsstempel versehen. Beide Dokumente finden nach der Übergabe nicht
ihren Weg in die Akte von Frau Müller.
Etwa zur gleichen Zeit macht sich offensichtlich die Vermieterin Sorgen um
Frau Müller, die zwei Zimmer im oberen Stock ihres Einfamilienhauses
bewohnt. Sie weiß von der Krebsbehandlung nichts, die Miete für April steht
aus. Wie die Pressestelle des Jobcenters bestätigt, nimmt sie am 12. April
auf der Suche nach ihrer Mieterin Kontakt mit dem Jobcenter auf. Dort wird
man hellhörig. Das Jobcenter aktiviert den Außendienst zur
"Sachverhaltsaufklärung" und stellt die Zahlungen für den Monat Mai
komplett ein, wegen der "unklaren wirtschaftlichen und persönlichen
Verhältnisse".
Am 6. Mai betritt ein Mitarbeiter im Beisein der Vermieterin die Wohnung
von Rebekka Müller. Das bestätigt die Pressestelle des Jobcenters:
"Offensichtlich wurde der Hausbesuch am 6. 5. 2011 dann in Abwesenheit von
Frau Müller durchgeführt."
Dass hier ein Verstoß gegen eigene Bestimmungen vorliegen könnte, geht aus
dem Schreiben nicht hervor. Doch der Schutz der Wohnung gehört zu den
Grundrechten. Der Verstoß ist dem Jobcenter-Mitarbeiter offensichtlich
nicht bewusst, immerhin spricht er mit Dritten darüber. So kontaktiert er
Anfang Mai im Zuge seiner Ermittlungen den Berliner Verein zum Schutz vor
psychiatrischer Gewalt. Müller war dort mehrere Jahre ehrenamtlich im
Vorstand tätig. "Der Jobcenter-Mitarbeiter rief an und fragte mich, ob die
Betroffene sich von 7. bis 10. April hier aufgehalten habe", erzählt eine
Mitarbeiterin. "Und dann erzählte er frank und frei, dass er mit der
Vermieterin in der Wohnung gewesen sei, weil das Jobcenter keine
Informationen darüber hätte, was mit der Frau sei."
Dieser Fall von Verletzung der Privatsphäre ist selbst für
Betroffenen-Initiativen nicht alltäglich. Verwundert ist Jürgen Freier von
der Berliner Kampagne gegen Hartz IV nicht: "Es hat seit Einführung des
Arbeitslosengeldes II immer wieder Gesetzesverschärfungen gegeben, die für
die Betroffenen noch mehr Kontrolle bedeuten", sagt er. Bei den
Jobcenter-Mitarbeitern führten die Regelungen tendenziell zu einem
grundsätzlichen Misstrauen und weichten ihre "grundrechtliche Sensibilität"
auf.
Am 6. Mai werden nach Aussage des Jobcenters erneut Nachweise des
Aufenthalts von Frau Müller im Jobcenter abgegeben und diesmal zur Kenntnis
genommen. Dennoch werden die Sanktionen erst drei Wochen später
zurückgenommen und die ausstehenden Zahlungen geleistet, "da der Aufenthalt
von Frau Müller außerhalb der Krankenhauszeiten zunächst geklärt werden
sollte", schreibt das Jobcenter. Fast einen Monat wurde Müller im Unklaren
darüber gelassen, ob sie für eine vom Jobcenter verschlampte
Liegebescheinigung mit einer 100-prozentigen Leistungskürzung sanktioniert
wird oder nicht. Was nicht aufgehoben wurde, so die Bekannte von Rebekka
Müller, sei eine 10-prozentige Sperre für die Monate Mai, Juni und Juli, da
während der Zeit des Krankenhausaufenthalts der Postzugang nicht
gewährleistet gewesen sei.
4 Aug 2011
## AUTOREN
Jörn Hagenloch
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