# taz.de -- Serie "Zerfällt Europa?" - Folge VII: Europa hält die Bürger fern | |
> Weil Brüssel die EU-Bürokratie ansiedeln wollte, wurde das Europaviertel | |
> zubetoniert. Bürger wollen es zu neuem Leben erwecken, die Kommune spielt | |
> nicht mit. | |
Bild: Entwurf des Architekten Christian Portzamparc für das Europaviertel in B… | |
BRÜSSEL taz | Christian Dellicourt knöpft seinen roten Anorak zu, schließt | |
hinter sich die Haustüre ab und läuft ein paar hundert Meter seine Straße | |
hinunter. An der nächsten Kreuzung bleibt er stehen und zeigt auf den | |
Komplex des Europäischen Parlaments, der hier beginnt. | |
Für den 65-jährigen Belgier ist das Parlamentsgebäude ein Symbol für den | |
derzeitigen Zustand der Europäischen Union: "Die Politiker erzählen immer, | |
sie wollten Transparenz und Bürgernähe, aber hier machen sie genau das | |
Gegenteil. Sie verstecken sich hinter verspiegelten Fassaden in ihrem | |
Elfenbeinturm", sagt er. | |
Christian Dellicourt ist ein Nachbar der europäischen Abgeordneten, er | |
wohnt nur wenige Gehminuten vom Parlament entfernt. Trotzdem ist der Graben | |
riesig zwischen den Eurokraten und den Normalbürgern: "Wir bekommen nichts | |
mit von ihnen. Sie leben in ihrer Blase, aber für das Viertel drumherum | |
interessieren sie sich praktisch gar nicht", beklagt Dellicourt. | |
Diese Gleichgültigkeit spürt er, seit das Gebäude in den 80er Jahren gebaut | |
wurde. Zuvor war das Viertel voller Leben gewesen. Dellicourt zeigt auf die | |
Glastüren des Presseeingangs an einer Ecke des Gebäudes: "Noch Anfang der | |
80er Jahre stand hier eine Brauerei. Genau dort befanden sich die großen | |
Kessel, in denen das Bier gebraut wurde", erinnert er sich. Brüssel galt | |
damals noch nicht als europäische Hauptstadt, das Viertel war bevölkert von | |
Künstlern und Handwerkern. Dellicourt und seine Familie fühlten sich wohl. | |
"Wir haben oft Straßenfeste gefeiert. Die Brauerei gab Freibier aus, und | |
die Nachbarn grillten." | |
## Tatsachen geschaffen | |
Selbst ihm fällt es schwer, sich das heute noch vorzustellen, sagt | |
Dellicourt, während er am Parlament entlanggeht: Nichts als Beton, keine | |
Menschenseele ist unterwegs, außer einer Gruppe von spanischen Touristen, | |
die das Eurosymbol vor dem Eingang zum Parlament fotografieren. | |
Nach den ersten Direktwahlen der Europa-Abgeordneten 1979 stieg die | |
Bedeutung der europäischen Institutionen rasant an. Die Mitgliedstaaten | |
suchten nach einem geeigneten Ort für die Verwaltungsgebäude und Platz für | |
die Arbeitstreffen. Und plötzlich lag das kleine Haus der Dellicourts im | |
Zentrum der europäischen Politik. | |
Denn Anfang der 80er Jahre kaufte der Brauereikonzern Stella Artois die | |
kleine Brauerei Leopold, um sie kurze Zeit später zu schließen. Die Gebäude | |
und die Grundstücke verkaufte der Konzern weiter an Immobilienhändler. Und | |
die witterten mit den aufstrebenden europäischen Institutionen ihre Chance. | |
"Offiziell konnten sie zwar nicht vom Europäischen Parlament sprechen, weil | |
sich die Mitgliedstaaten noch gar nicht auf einen Sitz geeinigt hatten. | |
Also bauten sie ein ,internationales Kongresszentrum'", sagt Dellicourt. | |
Die damaligen Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaften - Vorläufer | |
der heutigen Europäischen Union - machten sich gegenseitig die | |
Institutionen streitig: Brüssel wollte mit dem Parlamentsbau vollendete | |
Tatsachen schaffen. | |
Es ging unglaublich schnell - und auf Kosten der Brüsseler: Die | |
Hausbesitzer in der Rue Wiertz, die heute zwischen den beiden Teilen des | |
Europäischen Parlaments liegt, wurden enteignet, ihre Häuser abgerissen. An | |
der Stelle des Hauses des belgischen Filmemachers Benoît Lamy etwa liegt | |
heute die Einfahrt zur Tiefgarage des Parlaments. Auch von den | |
Künstlerateliers ist nichts mehr übrig. Alles zubetoniert - im Namen der | |
EU. | |
Als "idiotisch" bezeichnet Christian Dellicourt das Bauprojekt. "Das | |
Gebäude liegt mitten in einem Wohnviertel, völlig eingezwängt. Es gab keine | |
Zufahrtsstraßen, keine Parkmöglichkeiten. Aber die Immobilienhaie haben es | |
trotzdem gemacht, und jetzt ist unser Viertel eine einzige Betonwüste." | |
## Justus-Lipsius-Gebäude | |
Dass so wenig Rücksicht genommen wurde auf die Bewohner und das damalige | |
Stadtbild, liege auch daran, dass Brüssel damals völlig unorganisiert war, | |
sagt der Ingenieur. Die Stadtregion hatte noch kein eigenes Parlament wie | |
heute. Sie wurde von Flandern und der Wallonie mitregiert. Keiner kümmerte | |
sich um die Folgen eines solchen Riesenprojekts. Und die belgische | |
Regierung hatte den ehrgeizigen Plan, möglichst viele EU-Behörden in die | |
Hauptstadt zu holen. Zweisprachigkeit war (und ist) in Brüssel normal - das | |
gab der Stadt ein internationales Flair. | |
Gemeinsam mit privaten Investoren boten die Belgier der Europäischen | |
Gemeinschaft Büroräume zu Spottpreisen an. Schon in den 60er Jahren hatte | |
die Europäische Kommission Quartier in einem ehemaligen Brüsseler Kloster | |
bezogen. Und in den 70er und 80er Jahren entstanden weitere Neubauten: 1987 | |
wird für den Europäischen Rat das Justus-Lipsius-Gebäude errichtet - ein | |
paar hundert Meter Luftlinie vom Parlament entfernt. Auch hier wurden | |
zahlreiche Wohnhäuser abgerissen. 1992 einigen sich die Mitgliedstaaten in | |
Edinburg dann endgültig darauf, die Verwaltungen von Rat und Kommission | |
sowie Teile des Parlaments in Brüssel anzusiedeln. Zu diesem Zeitpunkt war | |
das Viertel der Dellicourts schon völlig zerstört. | |
Der einzige Ort, an dem im EU-Viertel auch nach Büroschluss noch das Leben | |
pulsiert, ist die Place Luxembourg. Hier reiht sich ein Café ans andere. | |
Bars und Restaurants haben Tische und Stühle nach draußen gestellt. Jeden | |
Donnerstag treffen sich hier die Praktikanten der EU-Institutionen zum | |
abendlichen Aperitif. Jetzt während der Sommermonate ist es ruhiger. | |
Dellicourt kommt trotzdem nur selten hierher. "Es ist eine andere Welt. | |
Wenn man nicht Englisch spricht, kann man noch nicht mal ein Bier | |
bestellen. Die Kellner verstehen einen gar nicht." | |
Ursprünglich war dieser Teil von Brüssel zwischen der Rue Belliard und der | |
Rue de la Loi vom belgischen König Leopold II. angelegt worden. Deshalb | |
trägt auch der Park, der an das Europäische Parlament grenzt, bis heute den | |
Namen des Monarchen. Leopold siedelte entlang der breiten Boulevards die | |
wohlhabenden adligen Familien des Landes an, auf die er seine Herrschaft | |
stützte. "Die Straßen waren gesäumt von großen, prächtigen Häusern mit | |
riesigen Gärten. Nach und nach kauften die Investoren sie auf und setzen | |
Bürogebäude dahin", erzählt Dellicourt. Eines der wenigen Gebäude, die den | |
Abrisswahnsinn überlebt haben, beherbergt heute das Goethe-Institut an der | |
Rue Belliard. | |
## Künstler ansiedeln | |
Trotz dieser Entfremdung will Christian Dellicourt bleiben. Er hängt an | |
seinem Haus, an der Nachbarschaft, und - sagt er mit einem Lächeln im | |
Gesicht - an Europa. Für Dellicourt käme es nie infrage, bei den Wahlen zum | |
Europäischen Parlament keine Stimme abzugeben. Er will mitbestimmen, | |
zumindest da, wo es geht. "Die Europäische Union ist etwas Großartiges. Sie | |
hat viel Gutes gebracht." | |
Gemeinsam mit den Mitgliedern eines Stadtteilvereins arbeiten er daran, dem | |
Viertel neues Leben einzuhauchen. Er bleibt vor einem Haus in der Rue | |
Wiertz stehen. Ein schweres Eisentor versperrt den Zugang zu einem | |
Hinterhof. Bis vor einigen Jahren waren hier eine Schreinerei und ein | |
Tonstudio untergebracht. "Die mussten zumachen. Die Mietpreise wurden zu | |
hoch", berichtet Dellicourt. Nun gehören die Häuser der Stadt. Dellicourts | |
Verein will daraus Künstlerateliers machen - wie vor dem Einfall der | |
europäischen Institutionen. Aber bisher sperrt sich die Kommune. Der Verein | |
wartet seit Monaten auf die Genehmigung des Bauantrags. | |
Und auch vom europäischen Parlament erfahren die belgischen Nachbarn nur | |
wenig Beachtung. Bedauerlich, findet Christian Dellicourt: "Wir könnten | |
viel tun für die Verständigung zwischen den Politikern und den Bürgern", | |
sagt er, als er wieder vor seinem Haus steht. | |
Er wollte schon mal ein Schild an der Tür anbringen für die Touristen und | |
Neugierigen. "Wenn Sie Fragen zur EU haben, dann klingeln Sie einfach", | |
wollte er darauf schreiben. Seinen Vorschlag hat er auch an die | |
Parlamentsverwaltung geschickt. Er hat nie eine Antwort bekommen. | |
22 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Ruth Reichstein | |
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