# taz.de -- Ein Herzstück Europas: Sisyphus in Straßburg | |
> An den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte können sich 800 | |
> Millionen Europäer wenden. Für manche ist er die letzte Hoffnung. | |
> Akzeptiert wird er nicht von allen. | |
Bild: Wirkt eher wie die Zentrale eines Autozulieferers als ein ehrwürdiger Ju… | |
Fast geräuschlos gleitet die Straßenbahn in den Straßburger Norden. | |
"Prochain arrêt: Droits de l'Homme", sagt eine weiche Frauenstimme, | |
"nächster Halt: Menschenrechte". Welch schöne Ansage. Doch tatsächlich | |
heißt so die Haltestelle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. | |
Europa hat mehrere Herzen, doch dieses hier in der Straßburger Allée des | |
Droits de l'Homme Nr. 1 ist besonders wichtig. An den Europäischen | |
Gerichtshof für Menschenrechte können sich rund 800 Millionen Europäer aus | |
47 Staaten wenden, wenn sie sich in ihren grundlegenden Rechten verletzt | |
fühlen und in ihrem Heimatland keine Hilfe erhalten. Es ist ein Ort der | |
letzten Hoffnung. | |
Immer wieder kommen Beschwerdeführer persönlich nach Straßburg, verteilen | |
Flugblätter auf der weitläufigen Treppe vor dem Gerichtshof. Manche treten | |
dort auch in den Hungerstreik, wenn ihre Beschwerde abgelehnt wurde. Der | |
Gerichtshof beharrt dann nicht auf Bannmeilen und Hausrecht, sondern lässt | |
sie ihren stummen und verzweifelten Protest zeigen, sofern sie das Gelände | |
nach Dienstschluss verlassen. | |
Architektonisch ist der Gerichtshof ein Kunstwerk aus Glas und silbrig | |
glänzendem Stahl. Die runden Sitzungssäle befinden sich in zwei | |
vorgelagerten zylinderartigen Gebäuden mit markant angeschrägten Dächern. | |
Modern wirkt das Ensemble, freundlich, aber eher wie die Zentrale eines | |
aufstrebenden Autozulieferers als wie ein ehrwürdiger Justizpalast. Der | |
Architekt Richard Rogers baute später den Millenium Dome in London. | |
## Bestechung: sinnlos | |
In die Poststelle des Gerichtshofs wird jeden Morgen eine Karre mit neuen | |
Briefen aus ganz Europa hereingefahren. Mitarbeiter prüfen, ob das richtige | |
Formblatt und die Urteile der Vorinstanzen enthalten sind. Manchmal liegen | |
handgeschriebene Briefe bei oder Gedichte, manchmal auch Geschenke, was | |
natürlich nichts nützt. | |
Die Prozesse in Straßburg sind selten öffentlich, fast alle Beschwerden | |
werden schriftlich erledigt. Nur etwa 25-mal pro Jahr verhandeln die | |
Richter vor Publikum. Dann ruft ein Gerichtsdiener: "La cour!" und die | |
Richter in ihren blauen Roben betreten von links im Gänsemarsch den Saal, | |
laufen im Halbkreis zu ihrem Platz und setzen sich. Viel mehr bekommen die | |
Zuschauer nicht mit von ihnen. Anders als beim Bundesverfassungsgericht | |
sagen und fragen die Straßburger Richter nur wenig. Es sind die Anwälte, | |
die vortragen und erwidern - und dann ist das Hearing meist schnell zu | |
Ende. | |
Und doch ist der Gerichtshof ein großes, ein wichtiges Versprechen, das | |
auch immer wieder eingelöst wird: Wer zu Hause kein Gehör findet, hat hier | |
die Chance, dass europäische Richter den Fall ganz anders beurteilen. | |
Sieben Juristen entscheiden normalerweise über einen Fall, nur einer kommt | |
aus dem entsprechenden Land. Die anderen sind aus Sicht des Klägers | |
Ausländer - fern von nationalem Filz, Druck oder traditionellen | |
Sichtweisen. | |
Jeder der 47 Staaten des Europarats stellt einen Richter: das kleine Monaco | |
genauso wie Deutschland oder das große Russland. Die deutsche Richterin ist | |
Angelika Nußberger, eine Professorin aus Köln. Verpflichtet sind die | |
Richter nur der 1950 geschaffenen Europäischen Menschenrechtskonvention. | |
Mehr als 90 Prozent der Klagen werden schon im Vorfeld für unzulässig | |
erklärt, etwa weil der nationale Rechtsweg nicht ausgeschöpft wurde. Doch | |
in rund 1.500 Fällen pro Jahr kommt es tatsächlich zu Urteilen. Am | |
häufigsten gab es im Vorjahr Verurteilungen der Türkei, auf ihr Konto gehen | |
allein 19 Prozent aller Urteile, gefolgt von Russland (14 Prozent) und | |
Rumänien (10 Prozent). Der Türkei werden meist überlange Verfahren und | |
rechtswidrige Verhaftungen vorgeworfen. Bei Russland steht die | |
unmenschliche Behandlung vor allem von Gefangenen im Vordergrund, in | |
Rumänien der Eingriff in Eigentumsrechte. | |
Doch auch um Deutschland kümmert sich der Straßburger Gerichtshof immer | |
häufiger. So beanstandete er 1995 im Fall der Lehrerin Dorothea Vogt die | |
Praxis der deutschen Berufsverbote. Im Jahr 2004 erreichte Prinzessin | |
Caroline von Monaco, dass der Schutz von Prominenten vor Pressefotografen | |
verbessert wird. 2006 stellte der Gerichtshof fest, dass der Einsatz von | |
Brechmitteln gegen mutmaßliche Drogendealer eine "unmenschliche und | |
erniedrigende" Behandlung sei. Auch nichteheliche Väter erreichten in den | |
letzten Jahren einige Erfolge im Streit um das Umgangs- und Sorgerecht für | |
ihre Kinder. Zuletzt beanstandete der Gerichtshof die rückwirkende und | |
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in Deutschland. | |
## Empörte Regierungen | |
Dass nun auch die Bundesrepublik verstärkt in den Straßburger Fokus geriet, | |
missfiel nicht zuletzt den Karlsruher Verfassungsrichtern. Denn jedes | |
Urteil gegen Deutschland ist zugleich eine Kritik am | |
Bundesverfassungsgericht - das dem Problem zuvor ja nicht abgeholfen hat. | |
Vor einem Jahr forderte dessen scheidender Präsident Hans-Jürgen Papier von | |
der Straßburger Institution ausdrücklich mehr Zurückhaltung: "Ist ein Fall | |
vor den nationalen Instanzen ausreichend geprüft, bedarf es keiner erneuten | |
Detailprüfung durch eine internationale Gerichtsbarkeit." | |
Auf solche Vorschläge kann sich der Gerichtshof nicht einlassen. | |
Schließlich stärkt jedes Urteil gegen Staaten wie Deutschland, Frankreich | |
oder Großbritannien zugleich die Autorität der Richter, wenn sie | |
Menschenrechte in echten Problemstaaten wie etwa Russland einfordern. | |
Wie empört man in Russland über die ständigen Verurteilungen ist, zeigt ein | |
aussichtsreicher Gesetzentwurf, der derzeit in der Moskauer Duma diskutiert | |
wird. Danach will man die Urteile aus Straßburg nur noch akzeptieren, wenn | |
das russische Verfassungsgericht einen Verstoß gegen die russische | |
Verfassung feststellt - so soll die Souveränität Russlands geschützt | |
werden. "Ich werde das Projekt erst stoppen, wenn Jesus Christus dem | |
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorsitzt", sagte Senator | |
Alexander Torschin, der Autor des Gesetzentwurfs. | |
Ähnliche Probleme gibt es mit Großbritannien. 2005 beanstandete der | |
Straßburger Gerichtshof, dass britische Strafgefangene nicht wählen dürfen. | |
Damit rührte der EGMR jedoch an eine jahrhundertealte Tradition. "Der | |
Gedanke, dass Strafgefangene wählen dürfen, tut mir körperlich weh", sagte | |
Premier David Cameron. Im britischen Parlament fiel der Vorschlag, | |
Strafgefangenen künftig das Wahlrecht zu geben, dann auch mit 228 zu 20 | |
Stimmen durch. | |
Stattdessen wächst in Großbritannien die Kritik an einem angeblichen | |
"Government of Judges", einer Regierung der Richter, und es wird bereits | |
über den Ausstieg aus der Menschenrechtskonvention diskutiert. "Das einzige | |
Land, das die Konvention bisher aufgekündigt hat, war Griechenland - | |
während der Militärdiktatur 1967", warnte Jean-Paul Costa, der damalige | |
Präsident des Gerichtshofs im Februar. | |
In Straßburg möchte man, das ist deutlich zu spüren, weitere Großkonflikte | |
vermeiden. Ein solcher drohte mit Italien, als der Gerichtshof im Jahr 2009 | |
Kruzifixe in öffentlichen Schulen verbot. Das Urteil sei "schockierend, | |
falsch und kurzsichtig", hieß es prompt aus dem Vatikan. "Wir behalten das | |
Kruzifix", sagte der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi unter | |
Beifall aus allen politischen Lagern. Vermutlich wäre das Straßburger | |
Verdikt in Italien also gar nicht befolgt worden. Doch der Gerichtshof | |
vermied den drohenden Autoritätsverlust im März diesen Jahres. Die Große | |
Kammer mit 17 Richtern gab der italienischen Berufung statt, es bestehe in | |
dieser Frage doch ein nationaler Beurteilungsspielraum. Die Kruzifixe | |
bleiben also erlaubt. | |
## Beschwerdeflut | |
Angelika Nußberger, die deutsche EGMR-Richterin, machte jüngst bei einer | |
Veranstaltung in Straßburg ihren täglichen Spagat ganz deutlich. Die | |
Menschenrechtskonvention sei zwar ein "living instrument", das nicht auf | |
dem Stand von 1950 stehen bleibe. Sie könne und müsse bei Bedarf | |
weiterentwickelt werden. "Wenn Urteile aber als utopisch und fernliegend | |
angesehen werden, dann ist keine Akzeptanz möglich", sagte Nußberger, und | |
letztlich beruht die Autorität des Gerichtshofs ja nur auf Akzeptanz. | |
Zu viel Akzeptanz der Bürger ist allerdings auch ein Problem. Jahr für Jahr | |
kommen mehr Klagen in Straßburg an. Der Gerichtshof schiebt einen | |
gewaltigen Berg von inzwischen 152.000 unerledigten Beschwerden vor sich | |
her, davon fast ein Drittel aus Russland. Zwar steigert der Gerichtshof | |
seine Effizienz Jahr für Jahr, zum Beispiel können offensichtlich | |
unzulässige Beschwerden inzwischen von Einzelrichtern abgelehnt werden. | |
Doch während so 2010 immerhin 40.000 Verfahren erledigt wurden, kamen | |
gleichzeitig doch 60.000 neue Klagen hinzu. Es ist eine Sisyphusarbeit. | |
Jetzt werden Gebühren für die Kläger in Erwägung gezogen - doch wie soll | |
ein russischer Strafgefangener solche Gebühren bezahlen? Eine vernünftige | |
Lösung für die Überlastung des Gerichtshofs ist nicht in Sicht. | |
Auch in einem kleinen Konflikt kamen die Richter noch nicht weiter. Als in | |
der Cafeteria des Gerichtshofs eine beliebte Mitarbeiterin gegen ihren | |
Willen versetzt werden sollte, riefen die Richter im Mai einen Café-Streik | |
aus. Zwar ohne Erfolg, aber die Richter zeigten wenigstens ihr gutes Herz. | |
19 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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