# taz.de -- Palästinenserinnen reisen nach Israel: Einmal das Meer sehen | |
> Eine Gruppe Israelinnen organisiert für Palästinenserinnen Tagesausflüge. | |
> Ihr Ziel: Annäherung. Doch der Akt zivilen Ungehorsams hat Folgen. | |
Bild: Palästinenserinnen brauchen einen guten Grund um nach Israel zu reisen: … | |
TEL AVIV taz | In der Nähe von Bethlehem rollt ein Auto mit israelischem | |
Kennzeichen auf den Parkplatz einer Tankstelle. Dann kommt noch ein Wagen | |
und noch einer, fünf oder sechs sind es insgesamt. Frauen in sommerlicher | |
Kleidung steigen aus. Sie sind aus Tel Aviv, Jerusalem und Haifa angereist, | |
um Palästinenserinnen für einen Ausflug ans Meer abzuholen. | |
Kaum hundert Meter von der Tankstelle entfernt stehen sich israelisches | |
Militär und Demonstranten gegenüber. Die Gruppe der mit Helmen, | |
kugelsicheren Westen und Schutzschilden ausgerüsteten Soldaten ist dreimal | |
so groß wie die Kundgebung der Palästinenser. An der engen Einfahrt zum | |
Dorf finden wöchentlich Demonstrationen gegen die Besatzung und gegen die | |
jüdischen Siedlungen in der Umgebung statt. Als sich die Pressefotografen | |
die Gasmasken aufsetzen, ist die Autokolonne schon unterwegs nach Tel Aviv. | |
"Nur einmal das Meer sehen" wollte die halbwüchsige Tochter von Ilana | |
Hammermans palästinensischer Arabischlehrerin. Das war vor gut einem Jahr. | |
Nach Tel Aviv oder Jaffa ist es nur eine Stunde mit dem Auto, doch um nach | |
Israel reisen zu können, brauchen Palästinenser eine Genehmigung. Das Meer | |
sehen zu wollen reicht dafür nicht als Grund. | |
Hammerman, eine bekannte Herausgeberin, Autorin und Übersetzerin, reichte | |
es jedoch. "Das machen wir", sagte sie, als hätte sie auf den Anstoß des | |
jungen Mädchens nur gewartet. Mit drei jungen Palästinenserinnen im Auto | |
fuhr sie beim ersten Mal los, raus aus der Enge des patriarchalischen | |
Dorfs, raus aus den besetzten Gebieten. | |
Weil die Situation für die Menschen, die unter israelischer Besatzung | |
leben, immer unerträglicher wird, "ist es nötig, einen zivilen, gewaltlosen | |
Protest zu organisieren", sagt Hammerman. Die Tochter zionistischer | |
Kommunisten, die den Nazis entkamen und Deutschland noch Jahrzehnte nach | |
dem Krieg boykottierten, hat in Deutschland promoviert. Ihren an Leukämie | |
verstorbenen Mann, den deutschen Literaturwissenschaftler Jürgen Nieraad, | |
lernte Hammerman in Bielefeld kennen (Koautor ihres auf Deutsch | |
erschienenen Buchs "Ich wollte, dass du lebst. Eine Liebe im Schatten des | |
Todes", Aufbau-Verlag). | |
"Gesetze sind nicht heilig", sagt sie und klingt dabei wie eine 68erin. Der | |
Spruch will nicht recht passen zu der Bürgerlichen, die mittags nicht ohne | |
Suppe, Hauptgang und Nachtisch auskommt, weil sie es so von zu Hause | |
gewohnt ist. Sie ist der Typ Mensch, der nicht bei Rot über die Straße | |
geht, auch wenn er es eilig hat. "Wo Gesetze ungesetzlich sind, ist ziviler | |
Widerstand unerlässlich", beharrt sie und weigert sich, es einfach gut zu | |
haben, wenn nur 20 Autominuten entfernt Menschen leiden. | |
## Siedler erstatten Anzeige | |
Es ging ganz leicht. Kurz vor dem militärischen Kontrollpunkt nahmen die | |
auf dem Rücksitz von Hammermans Kleinwagen sitzenden Mädchen ihre | |
Kopftücher ab. Die Soldaten winkten sie durch. Die schlanke | |
Mittsechzigerin, die mit dunkelbraunen schulterlangen Locken, Sonnenbrille | |
und vor Angst zitternden Knien am Steuer saß, erregte keinen Verdacht, und | |
auch die jungen Palästinenserinnen nicht mit ihrem langen, offenen Haar, | |
"geschmackvoll geschminkten Gesichtern und modischen Jeans", wie Hammerman | |
später schreibt. Sie besichtigten das Unigelände, gingen auf den Flohmarkt, | |
in ein Strandcafé und zum Meer – ohne aufzufallen. | |
"Einmal Tel Aviv und zurück" war Hammerman nicht genug. Sie verfasste einen | |
Bericht über ihr sträfliches Handeln, das im Ernstfall mit zwei Jahren Haft | |
geahndet werden kann. Sie schrieb detailgetreu, allerdings ohne die Namen | |
ihrer Bekannten aus dem Westjordanland preiszugeben. Nur den eigenen Namen | |
setzte sie unter den Text, den die liberale Ha'aretz im Mai letzten Jahres | |
veröffentlichte. Hammermans Geständnis trug die Überschrift: "Wenn es ein | |
Paradies gibt". | |
Nicht lange nach der Veröffentlichung erstattete das "Legal Forum for the | |
Land of Israel", eine radikal national-religiöse Siedlergruppe, Anzeige | |
wegen "illegalen Transports eines fremden Bürgers nach Israel". Hammerman | |
wird zum Verhör vorgeladen. Noch auf der Stufe zum Revier beginnt sie ein | |
Gespräch mit der für sie zuständigen Polizeibeamtin. Die beiden rauchen und | |
reden über Camus, den Hammerman ins Hebräische übersetzt hat und von dem | |
die Beamtin genauso wenig gehört hatte wie von Nietzsche. "Wie ist das | |
möglich?", fragt Hammerman die Beamtin, ehrlich schockiert über die marode | |
Bildung bei der Polizei. | |
Das Verhör endet ohne Verfahren. Bevor Hammerman auf ihr Fahrrad steigt, | |
muss sie noch für Fahndungsfotos stillstehen und ihre Fingerabdrücke | |
dalassen. Ob sie es wiedertun würde, fragt die Beamtin. "Mit Sicherheit", | |
sagt die Wiederholungstäterin vergnügt. "Noch oft." | |
Durch den Artikel auf Hammermans gezielten Akt zivilen Ungehorsams | |
aufmerksam geworden, schließen sich ihr mehr israelische Frauen an. Sie | |
bilden die Gruppe "Lo Mezaitot" (Wir gehorchen nicht) mit inzwischen gut | |
drei Dutzend Aktivistinnen, die alle paar Wochen palästinensische Frauen | |
aus dem Westjordanland herausschmuggeln. Der Kontakt zu den Frauen ist | |
unmittelbarer und gleichzeitig unkomplizierter dem Militär wie den | |
traditionellen Familien in den Dörfern gegenüber. Hammerman hatte gezielt | |
den Kontakt zu Frauen gesucht, als sie anfing, Arabisch zu lernen. "Die | |
Männer sprechen fast alle Hebräisch oder Englisch." | |
## Die Kommunikation ist mühsam | |
Mit der Sprache, die sie seit fünf Jahren paukt, kommt sie gut zurecht. | |
Besser als die meisten anderen israelischen "Ungehorsamen", die jetzt | |
teilweise auch Arabisch lernen, aber vielleicht nicht über das geschulte | |
Ohr der Übersetzerin verfügen. So ist die Kommunikation unter den Frauen | |
mühsam. Mit den Händen und ein paar Brocken Arabisch verständigen sie sich | |
über das Nötigste. Die Israelinnen sind allesamt hellhäutig, mittleren | |
Alters, aus dem gehobenen Mittelstand und mit europäischen Wurzeln. Die | |
Palästinenserinnen sind deutlich jünger; drei junge Mädchen sind dabei, | |
eine Mutter mit ihrem Baby und mehrere noch nicht verheiratete Frauen. | |
In Tel Aviv angekommen, geht Hammerman herzlich auf die arabischen Frauen | |
zu, die zum ersten Mal dabei sind und die sie bei dem kurzen Treffen am | |
Eingang zu ihrem Dorf noch nicht einzeln begrüßt hatte. "Ich will nicht den | |
ganzen Tag mit ihnen an den Strand", sagt sie, wegen der großen Hitze, | |
außerdem sei das Meer voller Quallen. Mit wenig Begeisterung lassen sich | |
die Palästinenserinnen schließlich über den Kunstmarkt von Tel Aviv führen. | |
"Wir haben kein Geld dabei", sagt eine der jungen Frauen und löst | |
Betretenheit aus. Eine der Israelinnen geht los und kauft Softeis. "Banane | |
oder Schokolade", fragt sie und drückt jedem eins in die Hand. Die Gruppe | |
schiebt sich durch das Tel Aviver Wochenendgewühl in der Fußgängerzone. | |
"Das hier ist Palästina", stellt eine der Palästinenserinnen trocken fest. | |
"Das ist unsers." So einfach ist es doch nicht mit der Annäherung. | |
Die Palästinenserinnen bleiben dicht beieinander, tuscheln und lachen, als | |
sie eine Künstlerin mit halb geschorenem Kopf sehen. "Unsere Handarbeiten | |
sind schöner", sagt eine trotzig. "Das mag stimmen", gibt eine Israelin | |
zurück. "Aber ihr macht immer das Gleiche, und hier gibt es so eine | |
Vielfalt." Sie ist beleidigt, hatte auf mehr Interesse, Offenheit und | |
vielleicht sogar Zuneigung gehofft. | |
Eine schlichte Kleiderboutique lockt die Gruppe schließlich mehr als das | |
israelische Kunsthandwerk. "Wir sind neugierig aufeinander", sagt Hammerman | |
später, "aber wir werden uns nicht unbedingt gegenseitig akzeptieren." | |
Die Frauen aus dem Westjordanland riskieren Verhaftungen und Bußgelder, | |
wenn sie erwischt werden. Die Gruppe fährt ins arabische Jaffa, wo sie | |
weniger auffällt. Auf dem Weg zum Restaurant geraten die Autos in einen | |
Stau. Die jungen Mädchen beschweren sich über Langeweile und Hitze. Erst | |
beim Essen bessert sich die Stimmung, und am Strand zählt nur noch das | |
Meer. | |
Der Strand ist das, worauf sich die Palästinenserinnen schon den ganzen Tag | |
gefreut haben. In dünnen Trainingsanzügen oder mit hochgekrempelten Hosen | |
nähern sie sich behutsam dem Wasser. Viele von ihnen waren noch nie am | |
Meer. Sie fotografieren sich gegenseitig, lachen, spritzen sich nass, | |
flüchten vor den Wellen oder springen darüber. Sie toben stundenlang, jetzt | |
endlich zusammen mit den israelischen Frauen. | |
25 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
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