# taz.de -- "Gesichter der Renaissance" in Berlin: Die Erfindung des Individuums | |
> Von Leonardo da Vinci bis Botticelli: "Gesichter der Renaissance - | |
> Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst" im Berliner Bode-Museum. Ein | |
> Rundgang. | |
Bild: Die Ausstellung sorgt für einen großen Besucherandrang im Bodemuseum. | |
Der Weg aus dem 21. Jahrhundert ins Quattrocento der italienischen | |
Städterepubliken führt im Obergeschoss des Berliner Bode-Museums erst mal | |
ins Dunkle. Nach kurzer Zeit der Eingewöhnung an zeichnungsfreundliche | |
Lichtverhältnisse innerhalb der schwarz gestrichenen Räume wird es schnell | |
wieder hell. Denn das sensationelle erste Stück der Ausstellung "Gesichter | |
der Renaissance" nimmt den Besucher direkt über den optischen Reiz seiner | |
vergoldeten Oberfläche gefangen. | |
Das "Büstenreliquiar des heiligen Rossore" von 1425 nimmt einen besonderen | |
Platz ein. Als Katalognummer 1 markiert es nicht nur den Ausgangspunkt für | |
das Konzept, die italienische Porträtkunst der Renaissance in einem | |
Überblick zu zeigen und im aktuellen Forschungsstand abzubilden, sondern es | |
führt die Betrachter auch in die Irre: Die Bronzebüste des San Rossore ist | |
nämlich kein Porträt - und doch wieder eines. | |
Donatello verlieh dem christlichen Märtyrer ein scheinbar reales Antlitz. | |
Ein Gesicht, das weit über die Darstellungsformen von Heiligenfiguren des | |
Mittelalters hinausgeht. Er verzichtete auf die Ausweisung seiner | |
Heiligkeit mittels symbolischer Insignien, sondern personifizierte den | |
antiken Kriegsveteranen als Menschen: mit vollem, über der Stirn langsam | |
zurückgehendem Haar, mit gemäßigt zornigem Grimm zwischen den schwungvoll | |
gebogenen Augenbrauen, mit Augen- und Stirnfalten, die sein Alter | |
ausweisen. | |
Donatellos Rossore ist ein Mann, der auf sein Äußeres bedacht ist und mit | |
seinem sorgsam gestutzten Schnäuzer und Kinnbart derart distinguiert | |
erscheint, dass er sich bei so viel Noblesse sogar einen Dreitagebart | |
stehen lassen kann. Der Florentiner Bildhauer ging aber noch weiter in der | |
physiognomischen Ausgestaltung des Charakterkopfs. Ein besonderer | |
Wahrheitsanspruch muss Donatello getrieben haben, den angespannten Adern an | |
den Schläfen und der Struktur der Gesichtshaut solche Aufmerksamkeit zu | |
schenken. Dabei war das tatsächliche Aussehen Rossores zu der Zeit, als | |
Donatello den Auftrag für die Skulptur bekam, so wenig bekannt wie heute. | |
Nun ist die circa 50 Zentimeter hohe Schulterplastik nicht nur eine Büste, | |
sondern ein transportables Reliquiar: der liturgische Aufbewahrungsort für | |
Schädelfragmente des Heiligen, die 1422 von Pisa nach Florenz überführt | |
worden waren. Im Verständnis des frühen 15. Jahrhunderts fungierte der | |
leibliche Körper als Gefäß für die Seele, und langsam keimte der Verdacht | |
auf, dass diese Seele, deren psychische Konditionen den Ausdruck des | |
Gesichts, aber auch die Form und Statur des Körpers beeinflussten, auch im | |
Abbild wieder aufscheine, wenn sich der Künstler nur einer bisher | |
ungekannten Wirklichkeitstreue verschreibe. | |
Porträts nach der Natur hatte es auch schon vorher gegeben, doch die frühe | |
Renaissance gilt als Erfinderin dessen, was wir heute als das Individuum | |
verstehen, als Erfinderin einer menschlichen Wesenheit im Widerschein ihrer | |
psychologischen Komponenten. Mit circa 170 Kunstwerken illustriert die | |
Ausstellung mal plakativ, mal subtil, wie sich Individualität von der | |
Nachahmung zur Psychologisierung entwickelte. Am Ende der Ausstellung steht | |
dann auch folgerichtig der unerreichte Meister der Hochrenaissance: | |
Leonardo da Vinci. | |
Seine "Dame mit dem Hermelin" liest die Kunstgeschichte als weit mehr als | |
das Porträt der Cecilia Gallerani, einer Geliebten des Herzogs Ludovico | |
Sforza von Mailand. Die exaltierte Komposition einer jungen Frau, die sich | |
mit ihrem Körper nach rechts wendet, während sie ihren Kopf nach links | |
dreht und aus dem Bild herausschaut, als sähe sie jemanden, deutet Stefan | |
Weppelmann, Kurator der Ausstellung, als "das neuzeitliche Porträt als | |
Ausdrucksbildnis", die Erweiterung des physiognomisch Ähnlichen zum | |
psychologisch Expressiven. Leonardo "spitzt Wahrhaftigkeit auf die objektiv | |
darzustellenden Eigenschaften einer Person zu, verbindet diese aber mit der | |
subjektiven Qualität des persönlichen Stils und schließt darin auch die | |
Möglichkeit (und Notwendigkeit) der künstlerischen Konstruktion ein". | |
## Anspruch und Wirklichkeit | |
Die Faszination an diesem Hauptwerk der Ausstellung besteht aber auch in | |
seiner vielgestaltigen Rezipierbarkeit. Cecilia lächelt ähnlich verstohlen | |
wie die legendäre Mona Lisa, die es wohl nie aus dem Louvre in eine | |
Wanderausstellung schaffen wird. | |
Noch skurriler als ihr Lippenspiel ist aber der Hermelin, den sie weniger | |
streichelt als greift und der sich offensichtlich aus dieser Lage befreien | |
will. Der Hermelin tritt als Motiv eines Gemäldes relativ selten in | |
Erscheinung, weit häufiger dagegen sein Fell, das als charakteristisch | |
schneeweißer Pelz mit schwarzen Flecken in vielen Herrscherbildnissen als | |
traditionelle Bekleidung von Monarchen auftaucht. | |
Die Präsenz des lebendigen Tiers, das allegorisch betrachtet für Reinheit | |
und Ehrgefühl steht, auf dem Arm der Mätresse des Herzogs mag auf ein neues | |
Verhältnis von Repräsentation und Wirklichkeit hinweisen. Darüber hinaus | |
ist die "Dame mit dem Hermelin" aber auch Leonardos mehr als gelungener | |
Versuch, die von den Philosophen der Zeit problematisierte Unmöglichkeit, | |
die Schönheit darzustellen, infrage zu stellen. | |
Zwischen Donatellos Bronzeguss und Leonardos Mischtechnik auf Holz liegen | |
siebzig Jahre und ungezählte Experimente, die Ausprägung des Menschlichen | |
im Bild zu artikulieren. Dabei müssen einige Darstellungen, glaubt man den | |
schriftlichen Quellen, noch mehr als wohlwollend den realen Gegebenheiten | |
angepasst worden sein. Von Isabella dEste, der Markgräfin von Mantua, wird | |
berichtet, dass sie von Natur aus mit Doppelkinn, Knollennase und | |
beachtlicher Körperfülle gesegnet war. | |
In den Bildnissen von ihr erscheint sie durchaus ansprechender - was vor | |
allem daran liegt, dass sie viele der in Auftrag gegebenen Porträts | |
ablehnte und neuanfertigen ließ. Ihrer Eitelkeit, sich immer wieder | |
porträtieren zu lassen und darauf zu vertrauen, dann aber doch weniger | |
wirklichkeits- denn wunschgetreu abgebildet zu werden, tat dies keinen | |
Abbruch. | |
Und so ist zu vermuten, dass physiognomische Details wie Hakennasen, | |
Stiernacken und fliehende Kinne, schmale Lippen und hängende Wangen die | |
Realität doch eher im Kompromiss zwischen Anspruch und Wirklichkeit | |
wiedergeben. Denn die Renaissance mag die Individualität, die schon in der | |
antiken Kunst ausgeprägt wurde, wiederentdeckt haben, ganz gewiss musste | |
sie sich aber auch dem sozialen Gefüge einer auf Machtstreben | |
ausgerichteten Alltagspolitik beugen. Da muss Körperfülle schon mal in | |
gravitätische Stattlichkeit umformuliert werden, denn Schönheit liegt im | |
Auge des Betrachters; vom Künstler wurde Taktgefühl erwartet. | |
Wie von Ausstellungen alter Kunst mittlerweile erwartet, weist auch | |
"Gesichter der Renaissance" in die Moderne. Modern wirken einige Porträts, | |
weil sie den Menschen so darstellen, als hätte man ihn realiter vor sich. | |
Andrea del Castagnos "Portrait eines Mannes" aus den fünfziger Jahren des | |
Quattrocento blickt einen so unvermittelt herausfordernd an, als säße man | |
ihm in einem Bewerbungsgespräch gegenüber. | |
Von Davide Ghirlandaio, Raffaellino del Garbo, Sandro Botticelli oder | |
Raffael bekommt man in der Ausstellung junge Männer wie in Fotografien von | |
Thomas Ruff vorgestellt, nur unmodischer frisiert und im | |
Dreiviertelporträt. Botticelli verewigte Giuliano de Medici 1478 als jungen | |
Aristokraten, dessen Gesichtskonturen zwischen überfeinerter Eleganz und | |
grotesker Politikerkarikatur changieren. Und so würde Donatello auch heute | |
sicherlich noch als Bildhauer für die Ausarbeitung eines x-beliebigen | |
Parteivorsitzenden gebucht werden. | |
29 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Marcus Woeller | |
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