# taz.de -- Der Protestsong lebt: Wandergitarre statt World Wide Web | |
> Twitter-Revolution war gestern. Heute wird auf Deutschlands Straßen | |
> wieder volkstümlich gesungen. Aus Protest. Mit Elan. Über die Blütezeit | |
> politischer Lieder. | |
Bild: Unter dem Pflaster liegt der Strand, unterm Asphalt dit Blümschen...und … | |
STUTTGART/BERLIN taz | Wieder so eine Baustellenblockade, eine dieser | |
vielen. Direkt gegenüber dem Stuttgarter Hauptbahnhof sitzen sie, die | |
Blockierenden. Seit Stunden. Nein, falsch, jetzt sitzen sie nicht mehr. | |
Jetzt stehen sie. Und singen. Denn jetzt beginnt eine Lehreinheit zur | |
Volksbeschallung. | |
Henning Zierock, graue Haare, kariertes Hemd, übt wieder Lieder ein. | |
Zierock ist hier so was wie der Papa des Protestsongs, Dirigent eines | |
widerspenstigen Straßenvolkes, das musikalisch lernwillig ist. Um ihn | |
stehen acht Frauen, drei Männer, hochkonzentriert versuchen sie, den Ton zu | |
halten und den Takt. | |
Ab und zu unterbricht der Meister sein Völkchen, herrscht es zärtlich an, | |
wenn der Ton nicht passt. "Es gibt zu wenige aktuelle Protestsongs, die das | |
Zeug haben, Allgemeingut zu werden", sagt eine ältere Dame am Rand. | |
Lächelnd legt sie den Kopf zur Seite. Fast so, als hätte sie sich ein wenig | |
verliebt: in das Phänomen des Singens. | |
Ja stimmt das denn? Gibt es zu wenige Protestsongs? Klebt die Generation | |
Facebook wirklich bloß vor dem Bildschirm, probt den politischen Aufstand | |
im Netz - statt Lieder auf Asphalt? Das fürchten auch andere. | |
Weil dem deutschen Pop der Protest abhandengekommen sei, rief etwa die | |
Musikzeitschrift Spex kürzlich einen Wettbewerb aus: "Protestsongs | |
gesucht!" 120 Künstler und Bands beteiligten sich. Schöne Songs waren | |
dabei, aber oft mehr verrätselte Wohlwollerei als karge Klagerufe. | |
Ein Protestsong, hieß es schon bald in Internetkommentaren, müsse eben aus | |
tiefstem Herzen und aus innerem Groll auf die Straßen geschrien werden. Was | |
nütze da, bitte, eine Order aus der Fachredaktion? | |
## Atomkraft ist ein Arschloch | |
Und tatsächlich übersahen die Musikjournalisten ein Detail: Auf den Straßen | |
und in den Wäldern, dort, wo die Bewegten sitzen, erleben Protestlieder | |
längst ein Revival. Als im Herbst letzten Jahres Demonstranten beim | |
Castorprotest zum "Schottern" ins Wendland riefen, schrieb ihnen die | |
Sprecherin der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, Kerstin Rudek, eigens | |
einen "Schotter-Song". Im Oktober sangen ihn die Widerständischen in die | |
kalte Nacht. Bei der großen Castor-Schienenblockade in Harlingen musizierte | |
die politische Blaskapelle "Tuba Libre". Und beim wendländischen "Fest zum | |
Protest" vor zwei Wochen erst spielte die Mädchenband "Crazy" ihr | |
schlichtes, ihr einfaches Politlied. Titel: "Atomkraft ist ein Arschloch". | |
Zuletzt schwelgten die Feuilletons bevorzugt in Erinnerungen. Hingen an den | |
lauten Chören der Arbeiterbewegung, am politischen Folk eines Woody | |
Guthrie, am letzten Verbliebenen, Konstantin Wecker. Doch während | |
Protestforschende den politischen Widerstand der Gegenwart am liebsten auf | |
den Rhythmus von Twitter-Tweets reduzieren wollen, feiert der melodische | |
Kampfruf auf den Straßen heimlich seine Renaissance. | |
Jonathan Solomon ist so ein Barde der Jetztzeit, der zu jeder Kleinstdemo | |
ein Liedchen trällert, seine Gitarre stets unterm Arm. Der 26-Jährige aus | |
Göppingen war bei den Stuttgart-Protesten von Anbeginn dabei. Sein | |
pathetischer Schwabenhit "Steh auf, Deutschland!" hat sich zu einer | |
richtigen Hymne entwickelt. Seine Idee: Bob Marley. Sein Groove: Tracy | |
Chapman. Seine Melodie: Wir sind Helden. "Bitte gib mir nur ein Baustopp", | |
singt Solomon gern in Helden-Manier. Und er singt es mit vielen. | |
"Horch, was kommt von draußen rein" oder "Alle Vögel sind schon da" - das | |
sind nur einige Vorlagen der umgedichteten Schlager und | |
Karnevalskompositionen, der Volks- und Lagerfeuerlieder, deren | |
Protestversionen heute in Baden-Württemberg tönen (siehe Liederzettel). | |
Statt Schillers "Ode an die Freude" schmettern sie dort ihre Neuversionen | |
im Geiste der Ode, mit der Friedrich Schiller seinerzeit das Ideal einer | |
Gesellschaft gleichberechtigter Menschen beschreiben wollte. Da stehen sie | |
dann zu Hunderten, manchmal zu Tausenden in Reih und Glied auf Stuttgarts | |
Plätzen und singen in der Melodie, die Beethoven so stolz komponierte: | |
"Freunde schöner Kopfbahnhöfe". Tochter aus Elysium. | |
## Den Frust wegträllern | |
"Die Umdichtungen von Volksliedern erinnern zuweilen an Tante Friedas | |
Geburtstag und belegen wunderbar das Vorurteil, dass die Wutbürger die grün | |
angestrichenen Konservativen sind", sagt Michael Fischer, der das Deutsche | |
Volksliedarchiv an der Uni Freiburg leitet. | |
Doch auch die Stuttgart-21-Befürworter greifen in die Musikschatulle. Als | |
2010 Bahn-Chef Rüdiger Grube und zahlreiche CDU-Minister und -Politiker auf | |
einer Kundgebung den umstrittenen Tiefbahnhof retten wollten, sangen sie | |
einen Klassiker der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung: "We Shall | |
Overcome". | |
"Das gemeinsame Singen schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Alle | |
demonstrieren nach außen, aber auch nach innen, dass sie eine Macht sind, | |
mit der zu rechnen ist", sagt Frank Erik Pointner, Professor für Literatur- | |
und Kulturwissenschaft an der Uni Duisburg-Essen. | |
Stuttgart, das ist derzeit nur so etwas wie die neue Liederbude der | |
Protestkultur in Deutschland. Auch im Rest der empörten Republik erfährt | |
das Singen wieder seine Würdigung. In Köln riefen frustrierte Bürger 2008 | |
den ersten deutschen Beschwerdechor ins Leben. Bis zu 150 Chormitglieder | |
ließen sich dort im Kollektiv über zu hohe Benzinpreise und ähnliche | |
Probleme aus. | |
Der Frust, er muss halt schleunigst von der Seele. So wird wieder gesungen | |
und geklimpert. Und das, merke, sogar ganz in echt - während manche die | |
neuesten Protesttrends immer noch bei Facebook, Twitter und bei YouTube | |
suchen sollen. Wie gestrig ist das denn? | |
26 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
J. Wehn | |
M. Kaul | |
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