Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Reisefieber in der DDR: "Mensch, waren wir toll!"
> DDR-Bürger reisten in den 70er und 80er Jahren illegal durch das Gebiet
> der einstigen Sowjetunion. Heute sind sie stolz darauf.
Bild: Fröhliches Hippielager in Gursuf auf der Krim, 1989.
Im Elbrus-Gebirge trafen wir ein Pärchen aus Potsdam, Ulrich und Rizzi. Er
war Leichenredner, eine ganz schillernde Person. Er hatte sich selbst ein
Schreiben verfasst, dass er als Vorsitzender der Sektion Bergsteigen
Turbine Potsdam von seiner Sektion delegiert sei, den Elbrus, den König des
Kaukasus, zu erklimmen und dort einen Wimpel der Freundschaft zu hissen.
Und dieses Schreiben hat uns dort Tür und Tor geöffnet, war abgestempelt
mit zehn, zwölf Stempeln von seinem Leibarzt bis zur Betriebsleitung und
damit waren wir öffentlich."
Die im Dokumentarfilm "Unerkannt durch Freundesland" von Cornelia Klauß
geschilderte Ausgangssituation ist absurd genug. Doch die Absurdität steigt
buchstäblich an, als das Grüppchen illegal in der UdSSR herumreisender
DDR-Jugendlicher sich dem Gipfel nähert. Sie geraten in eine "Elbrusiade",
eine feierliche Elbrus-Besteigung örtlicher Prominenter zum Jahrestag der
Oktoberrevolution. Beim Hissen ihres eigenen Wimpels werden sie vom
Sowjetfernsehen interviewt.
Der 2006 entstandene Dokumentarfilm stützt sich auf Schmalfilme und Fotos
von diesen und anderen DDR-Bürgern auf ähnlichen Trips in den 70er und 80er
Jahren.
Heute hat das Thema die Medien in ganz Deutschland erfasst. Eine
Ausstellung zum Thema "Unerkannt durch Freundesland" wurde wegen großer
Nachfrage am 26. August noch einmal in Berlin eröffnet.
Schon 2010 hatte man einige Monate lang in Berlin Marzahn diese
Reisetrophäen, Schmalfilme, Audioaufzeichnungen und Fotos bewundern können,
mit denen einstige DDR-Bürgerihre illegalen Reisen durch das Gebiet der
einstigen Sowjetunion dokumentierten. Im selben Jahr erschien das aus
entsprechenden Erinnerungen komponierte Buch "Transit. Illegal durch die
Weiten der Sowjetunion". Die ungewöhnlichen Aufzeichnungen erhielten prompt
den Globetrotter-Preis als bestes Reisebuch des Jahres 2010.
Im Frühjahr dieses Jahres ist nun ein weiterer, umfassenderer Sammelband
auf den Markt gekommen: "Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen
durch das Sowjetreich". Er erntet überschwengliche Rezensionen. Bei einer
Autorenlesung aus dem Buch im Potsdamer Waschhaus musste vor dem Andrang
die Tür geschlossen werden.
Gerade in dem Alter, in dem Jugendliche die größte Reiselust packt, war für
junge Leute in der DDR der Westen unzugänglich. Doch auch gen Osten kamen
sie nur schwer voran. Vor allem den ganz großen Bruder konnte man nur
bedingt kennenlernen, am ehesten im Rahmen einer streng bewachten
Reisegruppe. Private DDR-Gäste durften sich die Einheimischen bei Weitem
nicht in alle UdSSR-Orte einladen. Entfernte sich der Besuch dann mehr als
50 Kilometer vom jeweiligen Stadtzentrum, bekamen die Gastgeber große
Schwierigkeiten, wenn das entdeckt wurde.
Doch wo ein Wille war, da war auch ein Schlupfloch. Als Schlüssel zum
Sowjetabenteuer dienten meist Transitvisa in andere Ostblockstaaten: zum
Beispiel aus der DDR über die UdSSR nach Bulgarien. Vermutlich Tausende von
Transitniks, wie sie sich selbst nannten - eigentlich nur zu einer
dreitägigen Durchfahrt berechtigt - blieben dann wochenlang. Da das Buchen
von Flug- und Bahntickets für Individualreisende Schwierigkeiten mit sich
brachte, trampten sie oft, bewegten sich mit dem Überlandbus weiter, mit
dem Fahrrad, dem Katamaran und in einem Fall sogar abenteuerlich mit dem
Eissegler.
Manche Transitniks hatten ihr Visum selbst gefälscht. Nach einem
beklemmenden Moment an der Grenze taten sich für deren Inhaber jedoch
unermessliche Weiten auf: elf Zeitzonen, dazu Klimagürtel von der Arktis
bis in die Subtropen. Bei seiner Privatexpedition auf die für Ausländer
gesperrte Halbinsel Kamtschatka brachte es einer auf den Punkt: "Jetzt sind
wir so weit im Osten, dass wir schon fast wieder im Westen sind!"
"UdF", die Abkürzung für "Unerkannt durch Freundesland", lautete schon in
der DDR der Slogan dieser kleinen und naturgemäß diskreten Szene. Möglich
wurden diese Reisen auch dadurch, dass sich die sowjetische Mentalität
wesentlich von der deutschen unterschied. Wenn zum Beispiel ein
sowjetischer Beamter mit Tellermütze irgendein Dokument verlangte,
erwartete er meist nur, ein halbwegs plausibles Papier hingestreckt zu
bekommen. Die Echtheit wollte er gar nicht so genau prüfen. Es hätte ja von
irgendeinem seiner Vorgesetzten gefälscht und verkauft worden sein können.
Und noch eine Erfahrung ließ die DDR-Traveller eventuelle Ängste vergessen:
Immer konnten sie sich auf die fast erstickende Gastfreundschaft einfacher
Russen, Georgier oder von Angehörigen anderer Völker in der Sowjetprovinz
verlassen.
Das Leben hat hier die schönsten Geschichten geschrieben, voller Momente,
bei denen der Atem stockt. Beide Bücher zum Thema sind dicke, spannende,
reich illustrierte Schmöker. "Transit" handelt von der Eroberung der
Berggipfel und extremer Klimazonen sowie der Vorbereitung darauf. Hier
lernt man, wie man sich einen Eispickel schmiedet. In "Unerkannt durch
Freundesland" kommen auch Reisende zu Wort, die eher geistige Abenteuer
suchen.
Wie der Berliner Eckehard Maass bei sowjetischen Dichtern und Dissidenten,
der Thüringer Pfarrer Gernot Friedrich, wenn er bei in der Stalinzeit
versprengten russlanddeutschen Gemeinden in Sibirien aus einem Faltbeutel
Bibeln verteilte. Spätestens in diesen Kapiteln wird klar, dass nicht alle
Haschmichspielchen im sowjetischen Raum so glimpflich endeten wie die bei
der Rückkehr fast regelmäßig "übersehenen" Verstöße der Traveller gegen d…
Visaregeln.
Eine wertvolle Hilfe für Leser steht ganz am Ende: Von Anorak bis
Zentralrat - kleines ABC des sowjetischen Tourismus. Unter denselben Worten
verstand man damals oft etwas ganz anderes als heute. Ein Anorak zum
Beispiel wurde meist selbst gefertigt und kombiniert mit einer
entsprechenden Hose zur "Sturmowka", zum Sturmanzug.
Die UdF-Akteure sind heute vom Erfolg ihrer Erinnerungen freudig
überrascht. Er bestätigt sie in dem Gefühl: Mensch, waren wir toll!
Ihnen scheint, dass die beiden nicht mehr existierenden Länder jetzt ein
wenig differenzierter betrachtet werden: das aus dem sie reisten und das in
dem sie reisten. Damals waren sie um viele Illusionen ärmer geworden. Im
Kaukasus, in Mittelasien, hatten sie erkannt, wie sehr Religion und
ethnische Zugehörigkeit die Menschen immer noch voneinander trennen. Aber
sie wurden auch innerlich freier. Ein altes russisches Sprichwort besagt:
Das Gesetz steht wie ein Pfahl, man kann es nicht überspringen, aber man
kann es umgehen. Darum herumreisen konnte man auch.
6 Sep 2011
## AUTOREN
Barbara Kerneck
## TAGS
Berlin Prenzlauer Berg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Hinterhof von Ekkehard Maaß: Tod einer Oase
Im Hinterhof der Wohnung von Liedersänger Ekkehard Maaß soll gebaut werden
– dort wo er 1978 den wohl wichtigsten literarischen Salon der DDR
gründete.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.