# taz.de -- Aus "Le Monde diplomatique": Rote Lieder in China | |
> Ein Jahr vor dem nächsten Parteitag hat der Machtkampf in der KP | |
> begonnen: Ob sich Bo Xilai, der neue Politstar und Hardliner, mit seiner | |
> Mao-Schiene durchsetzen wird? | |
Bild: Revolutionslieder für die alte Garde. | |
Bei der Schanghaier Staatsanwaltschaft melden sich am 22. Juni drei Männer. | |
Sie wollen Strafanzeige erstatten und präsentieren eine | |
Unterschriftenliste, auf der ein paar Dutzend Namen von Schanghaier Bürgern | |
stehen. Beschuldigt werden: Professor Mao Yishi, Ökonom und Berater der | |
chinesischen Regierung, und Xin Ziling, Historiker für die Geschichte der | |
KP an der Zentralen Parteikaderschule in Peking. Ihr Verbrechen: Sie hätten | |
in Artikeln, welche in Chinas Medien ohne Zensur veröffentlicht wurden, den | |
Großen Führer Mao Tse-tung boshaft verleumdet. | |
Als die Justizbeamten zögern, die Anzeige entgegenzunehmen, verkünden die | |
Männer, sie kämen nicht in ihrem eigenen Interesse, sondern im Interesse | |
Chinas und der Kommunistischen Partei, beide seien in größter Gefahr, wenn | |
man die Verleumder Maos gewähren ließe. | |
Das war augenscheinlich das juristische Vorgehen einiger weniger. Dahinter | |
aber steckt eine viel größere Kampagne, die bis dato einige schrille | |
Höhepunkte erlebt hat. Der jüngste davon: Halbwegs offen verteidigt man den | |
gestürzten Despoten Gaddafi als "libyschen Helden" und Kämpfer gegen die | |
Weltherrschaft der Imperialisten. Nur habe Gaddafi "leider einige tödliche | |
taktische Fehler begangen". | |
Bereits am 26. April hatte eine ganze Reihe von Ökonomen, Historikern, | |
Rechtswissenschaftlern und Politologen vorgeschlagen, die beiden | |
hochkarätigen Mitglieder der KP-Nomenklatur Mao Yishi und Xin Ziling auf | |
die Anklagebank zu bringen. Im Gegensatz zu den inkriminierten Artikeln | |
wurde die Initiative nicht gleich in den amtlichen Medien bekannt gemacht, | |
sondern auf der Website wuyouzhixiang (Utopia). (1) Nach Auskunft eines in | |
den USA lebenden Chinesen sollen daraufhin innerhalb eines Monats | |
Zigtausende in 23 der 30 chinesischen Provinzen den Strafantrag durch ihre | |
Unterschrift unterstützt haben. Inzwischen sollen es schon 29 sein. Und in | |
über zehn Städten seien Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft eingegangen. | |
## | |
So weit der Hergang der Aktion, die auf den ersten Blick nicht weiter | |
beachtenswert scheint; schließlich fliegen massenweise | |
Unterschriftensammlungen im Cyberspace herum. (In China geht es mal gegen | |
den Hochgeschwindigkeitszug, mal gegen Japans Plan, Fischkutter zu den | |
umstrittenen Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer zu schicken.) | |
Erst auf den zweiten Blick fällt auf, wie brisant die Angelegenheit ist. | |
Nicht nur wegen des Themas – der Status des Vorsitzenden Mao – und des | |
hohen Rangs der Sünder. Auch weil bislang von der sonst hyperaktiven | |
Internetpolizei nichts unternommen wurde, um Debatten zu derartigen Themen | |
und Personen zu verhindern. Kein Posting wird zensiert, kaum ein Kommentar | |
entfernt, keine Verwarnung an irgendjemanden ausgesprochen. | |
Dabei muss sonst jeder, der sich in seiner Kreisstadt über die Korruption | |
mittlerer Kader beschwert, mit einer Warnung rechnen, die lautet: "Deine | |
Worte sind registriert. Wir behalten im Auge, inwieweit deine | |
aufwieglerischen Äußerungen die öffentliche Ordnung stören …" Auch die | |
amtlich bezahlten Internetschreiberlinge, die für jedes Posting von den | |
Behörden etwa fünf Jiao (2) bekommen und deshalb "Fünf-Mao-Partei" genannt | |
werden, schalten sich kaum ein, um zugunsten der einen oder der anderen | |
Seite Stimmung zu machen. | |
Zum Vergleich: Als Chinas Dissidenten im März übers Internet zu den | |
prodemokratischen "Jasmin-Protesten" aufriefen, zeigten die Ordnungshüter | |
höchste Effizienz, um potenziell Interessierte einzuschüchtern. Als im | |
Dezember 2010 die reale Jasmin-Revolution in Tunesien begann, wurde das | |
Internet eine Woche lang so sorgfältig von diesbezüglichen | |
Meinungsäußerungen und Informationen gesäubert, dass selbst ein vom KP-Chef | |
Hu Jintao höchstpersönlich dargebotener Soundtrack des Volkslieds "So | |
wunderschön ist die Jasminblüte" für Tage im Internet nicht mehr auffindbar | |
war. Ganz zu schweigen von Ai Weiwei, der die KP niemals direkt angegriffen | |
hat und dennoch auf dem Pekinger Internationalen Flughafen demonstrativ aus | |
dem Verkehr gezogen wurde. | |
## Die "große Vernetzung" | |
Dagegen äußerte sich der Historiker Xin Ziling, einer der beiden | |
Angegriffenen, in seinem Buch "Wie die rote Sonne unterging" vernichtend | |
über den Großen Steuermann Mao. Für den zweiten Übeltäter, Professor Mao | |
Yishi, war der Mitbegründer der KP "ein Tyrann", von dem sich die Partei | |
lossagen müsse, wolle sie nicht selbst untergehen. Bislang wurde Mao Yishi | |
lediglich polizeilich darauf hingewiesen, dass er bitte der Voice of | |
America keine Interviews geben solle. Eine härtere Strafe droht ihm nicht, | |
selbst nachdem er auf die gegen ihn gerichteten Vorwürfe im Internet | |
antwortete: "Ich freue mich darauf, vor Gericht mit Mao Tse-tung | |
abzurechnen." | |
Die Szene bei der Schanghaier Staatsanwaltschaft wirkt wie ein Protest | |
gegen die Duldung hochrangiger KP-Kritiker durch die Parteizentrale, die | |
sonst selbst die kleinsten Regungen von Widerstand gegen das System mit | |
allen Mitteln erstickt. Andererseits wird auch die Hetzjagd gegen diese | |
"Verräter" geduldet. Es sieht aus, als habe das politische Peking Skrupel, | |
die hochrangigen Abweichler in den eigenen Reihen per Staatsgewalt zum | |
Schweigen zu bringen. Und als sei die "Massenmobilisierung" gegen sie | |
erlaubt, gar willkommen. | |
Ermutigt durch solche Signale aus der Zentrale greift Chinas marxistische | |
Linke, deren Onlineforum Utopia ist, auf das alte maoistische Mittel der | |
Massenhetze zurück wie einst in der Kulturrevolution. "Ausschüsse für | |
öffentliche Anklagen" (gongsu tuan) wurden ausgerufen, mit regulären | |
Büroadressen und Telefonnummern, in Anlehnung an die einstigen | |
"Revolutionskomitees". Erfahrungsberichte von Leuten, die in jeder Kritik | |
an Mao verbrecherischen Landesverrat sehen, schneien wie Schneeflocken in | |
alle linksorientierten Internetforen, in Anlehnung an die diffamierenden | |
Wandzeitungen, mit denen 1966 die Rotgardisten alle Autoritäten der | |
bürgerlichen Nomenklatur weggefegt hatten. | |
Workshops zur Gestaltung von provinzübergreifenden Kampagnen werden | |
organisiert, in Anlehnung an die "große revolutionäre Vernetzung" (geming | |
da chuanlian). Jene "große Vernetzung" hatte seinerzeit Mao persönlich ins | |
Leben gerufen, um den Widerstand in den eigenen Reihen zu brechen. Bezweckt | |
die Onlinevernetzung der Linken mit ihrer gegenwärtigen Hexenjagd wieder | |
etwas Ähnliches, wieder auf Geheiß von oben? | |
Die Linken warnen bereits seit Jahren, mit Berufung auf Maos These, nach | |
der die schlimmsten Kapitalisten in der KP zu suchen seien: Die bourgeoisen | |
Reformisten seien dabei, China in den Abgrund der weltweiten | |
kapitalistischen Apokalypse zu stürzen. 2009 postete einer ihrer | |
Wortführer, Professor Zhang Hongliang, auf Utopia einen Artikel, der | |
offensichtlich auf den amtierenden Premier Wen Jiabao zielte. Nur wurden | |
die Linken anfangs nicht ernst genommen. | |
Bis 2007 wurde Utopia immer wieder zeitweilig dichtgemacht, wenn die | |
Maoisten zu sehr die chinesische Harmonie störten. Danach, bis 2009, wurde | |
Utopia nicht mehr gesperrt, aber im jugendlich dominierten Internet wurden | |
die Altlinken als Ewiggestrige verspottet. Bis auf die abgelutschten | |
Slogans der Revolution hatten sie nichts zu sagen, es gelang ihnen nicht, | |
mit einem aktuellen Thema den Nerv der städtischen Mittelschicht zu | |
treffen. | |
## | |
Doch das wird nun anders: Ein Thema wie die Sicherheit von Nahrungsmitteln | |
können Linke heute bestens besetzen. Schon im November 2009 wiesen sie auf | |
Utopia als Erste darauf hin, dass Chinas Landwirtschaftsministerium drei | |
Lizenzen vom US-Agrarmulti Monsanto zum großflächigen Anbau von | |
genmanipuliertem Getreide gekauft hat. (3) Berichte darüber, dass die USA | |
durch Genmanipulation eine "biologische Kriegsführung" gegen China | |
betreiben, werden auch von Durchschnittsverbrauchern mit Begeisterung | |
gelesen. | |
Während des Konflikts mit Japan 2010 schossen sich die Maoisten auf die | |
Außenpolitik Pekings ein, mit großer Treffsicherheit: Auf Utopia hieß es, | |
da seien Weicheier am Werk, die leere Drohungen ausstießen, um gemeinsame | |
Manöver des US-Flugzeugträgers "George Washington" mit Südkorea im Gelben | |
Meer zu verhindern. Denn, so Utopia weiter, die Weicheier würden alles | |
zulassen, was die Amis wollten – anders als der Vorsitzende Mao, der zu | |
Zeiten des Kalten Krieges gleich zwei Supermächte, die USA und die | |
Sowjetunion, herauszufordern wagte. | |
Die Manöver im Gelben Meer fanden dann tatsächlich statt – wenn auch mit | |
Verspätung. Seitdem tun sich Chinas Tauben schwer, für eine moderate | |
Außenpolitik ohne Säbelrasseln zu werben. Die Konflikte im Südchinesischen | |
Meer zwischen China und Vietnam sowie auf den Philippinen spitzten sich | |
wieder zu, und die Maoisten schienen recht zu behalten mit ihrer | |
Einschätzung, die Außenpolitiker in Peking wären trotz aller | |
Großmachtgesten nicht imstande, Chinas Territorialinteressen durchzusetzen. | |
Nicht bloß unter den Anhängern der Linken erhitzen sich die Gemüter. | |
Im Februar 2011 startete He Xin, ein Stammautor bei Utopia, in seiner | |
Eigenschaft als Mitglied des Nationalen Volkskongresses eine Anfrage bei | |
den Devisenbehörden. Woraus die drei Billionen Dollar Devisenreserven | |
Chinas genau bestünden? Wenig später veröffentlichte er auf Utopia sein | |
Ergebnis: "Wir haben nicht drei Billionen Dollar Reserven, wir haben drei | |
Billionen Dollar Schulden!" Wenn Washington die Notenpresse weiter auf | |
Hochtouren laufen lasse und Peking seine Reserven mit US-Anleihen auffülle, | |
sei "das in den Reformjahren mit Blut und Tränen verdiente Geld der | |
Werktätigen futsch". | |
Seitdem wird – auch bei der Internetjugend – heftig debattiert: Warum wird | |
der chinesische Yuan nach außen kontinuierlich aufgewertet, während die | |
Währung nach innen wegen der Inflation an Kaufkraft verliert? Und zwar so | |
viel, dass die Preise in den USA niedriger sind als in China? Gleichzeitig | |
tauchte das Gerücht auf, ein Sohn von Premier Wen Jiabao habe großen | |
Einfluss bei US-Investmentbanken. | |
## | |
Inzwischen kommt keiner mehr auf die Idee, die Ewiggestrigen wegen | |
mangelnder Wirtschaftskompetenz zu verspotten. Im Gegenteil: Mitte August | |
schrieben sogar amtliche Ökonomen ganz im Sinne der Linken und | |
unterstellten den die Devisenreserven verwaltenden Bürokraten zumindest | |
"äußerst dubioses Verhalten". | |
Dass die Ultralinke wieder erstarkt, hat gewiss tiefere Gründe als deren | |
Fähigkeit, populäre Themen mit Insiderwissen medial zu besetzen und | |
geschickt auf den Wellen massenhaften Unmuts zu reiten. Sie macht sich den | |
Umstand zunutze, dass die offizielle chinesische Politik die Vergangenheit | |
unter Mao tabuisiert. Bei aller Opposition gegen die Realpolitik bleiben | |
die Linken die entschlossensten Verteidiger der wichtigsten Legitimation | |
für die KP – deren stets propagierte Siegestradition. | |
Jetzt, angesichts unsicherer Zeiten, wird ihr Glaube an die "gute alte | |
Zeit" auch für verängstigte Spießbürger attraktiv – und daran, dass nur | |
eine starke Hand wie die Maos imstande sei, mit der allgegenwärtigen | |
Korruption fertigzuwerden. Auf Utopia treffen sie sich wieder: die | |
unglaubwürdig gewordene Führung und ihr verunsichertes Fußvolk. Die | |
Attraktivität der Linken ist vielfältig: Gnadenlose Kritik an den Mächtigen | |
lässt sie unabhängig erscheinen. Ihre Vereinfachung komplexer Sachverhalte | |
gefällt der Obrigkeit ebenso wie denen, die eine Schwäche der Ordnungsmacht | |
fürchten. | |
Verstärkt wird die Akzeptanz der Linken zudem durch breite Zustimmung, wenn | |
sie – wie auch kritische Liberale es tun – die strukturelle Verflechtung | |
von Macht und Geld anprangert, die für die gegenwärtige Instabilität | |
verantwortlich ist. Man kann nicht behaupten, dass nur die Linke | |
wirklichkeitsfremd sei. Die hat außerdem den Trumpf „Zukunftsangst“ in der | |
Hand: Soll China, wie die Liberalen fordern, auf eine Demokratie setzen | |
nach dem Modell der USA, deren Stern offensichtlich im Sinken begriffen | |
ist? Oder lieber technokratisch aufgerüstet zurückkehren zu einer Despotie, | |
die sich auf hehre Ideale stützt? | |
## Utopia | |
Bislang bedient sich die KP-Führung beider Lager, um den Unmut in der | |
Gesellschaft im Vagen zu belassen: Es wird abstrakt geredet, das ja, aber | |
kaum eine der geäußerten Ideen hat die Chance, zum politischen Experiment | |
heranzureifen. Dass sich das wichtigste Forum der Linken bei seiner | |
Gründung 2003 den Namen Utopia gab, zeigte die Verzweiflung der Ideologen: | |
Ihre Ideale würden für lange Jahre nur Ideale bleiben dürfen. | |
Vor drei Jahren änderte sich auch dies. Da wurde Bo Xilai, | |
Politbüromitglied und Sohn eines hohen KP-Kaders aus der Mao-Zeit, | |
KP-Sekretär in der zentralchinesischen Metropole Chongqing. Bo, ein | |
eloquenter Polarisierer, organisierte zuerst einen Chor mit Kindern der | |
Revolutionsgeneräle, der Revolutionslieder sang. Er tourte durch die | |
Provinzen und feierte mit Unterhaltungswert für die ausgemusterte alte | |
Garde deren Comeback. Als Bo forderte, alle Chinesen mögen diesem Beispiel | |
folgen und "rote Lieder" singen, zog der Politstar Hohn und Spott auf sich. | |
Außer in Chongqing wollte bei den Massen die rechte Stimmung dafür nicht | |
aufkommen. | |
Da kam ihm Utopia zu Hilfe. Über ein landesweites Netzwerk organisierte das | |
Portal in öffentlichen Parks Auftritte der "Massen". Utopia sorgte dafür, | |
dass Fotos und Videos auf Youku (das chinesische YouTube) hochgeladen | |
wurden, koordinierte Termine, lud verlumpte Petitionäre ein, sich der | |
Kampagne der "roten Lieder" anzuschließen, mit dem Argument: Wenn ihr | |
Lieder zum Lob des Vorsitzenden Mao singt, wird es keiner wagen, euch mit | |
Knüppeln mundtot zu machen. | |
Manche der Eingeladenen fühlten sich daraufhin so sicher, dass sie neben | |
roten Liedern auch scharfzüngige Reden gegen die Herrschenden von sich | |
gaben. Utopia griff disziplinierend ein: "Lasst solche Reden in der | |
Öffentlichkeit! Macht es unseren Genossen von der Polizei nicht unnötig | |
schwer." | |
Für Bo hat sich Utopia als Plattform bestens bewährt: Der Politprofi | |
verbreitete seine Ideen von Chongqing aus in alle Teile Chinas. Bo wird als | |
Retter der Nation gehandelt, nicht mehr als Provinzfürst. Politastrologen | |
aus Übersee sehen ihn gelegentlich sogar als Nachfolger Wen Jiabaos. Selbst | |
wenn es dazu nicht kommen sollte: In allen Medien Chinas taucht ein neues | |
Schlagwort für eine Zukunftsvision auf. Es heißt "Chongqing-Modell". | |
## Das Chongqing-Modell | |
Für Utopia verkörpert Bo die reale Chance, linke Ideale erfolgreich | |
umzusetzen: Er setzte zum Beispiel die rechtsstaatliche Aufgabenverteilung | |
in der Strafjustiz (Richter, Staatsanwalt, Verteidiger) außer Kraft, um mit | |
purer Polizeiwillkür gegen Korruption, Vetternwirtschaft und mafiöse | |
Strukturen vorzugehen. Utopia deutet das als Fortsetzung der Ideen Mao | |
Tse-tungs. | |
Wurde damals nicht der Justizapparat der Bourgeoisie ebenso außer Gefecht | |
gesetzt und eine Restauration des Kapitalismus erfolgreich verhindert? Bo | |
ließ die bewaffnete Polizei mit aufgesetzten Bajonetten ausrücken, um die | |
Löhne geprellter Wanderarbeiter bei den Blutsaugern einzutreiben. Das | |
Chongqing-Modell zeige, was besser sei, findet Utopia: das liberale Gelaber | |
geldgeiler Anwälte oder schlichte Waffengewalt mit richtiger Gesinnung. | |
Im liberalen Südchina stößt das Chongqing-Modell auf heftigen Widerspruch. | |
Ganze Zeitungsgruppen machen sich dagegen stark. So bekommt die | |
Utopia-Linke endlich einen benennbaren Lieblingsfeind: Die "Fraktion | |
Südchina" (nanfang xi), zu der auch mehrere große Internetportale gehören. | |
(4) Die "Fraktion" verteidigt Angriffsziele der Linken wie Professor Mao | |
Yishi und analysiert die Gefahren des Chongqing-Modells – deren größte | |
wäre: die Rückkehr zur maoistischen Kulturrevolution. | |
Paradox ist die Wirkung: Jetzt nämlich verbreitet sich im Volk das Gefühl | |
eines gesellschaftlichen Antagonismus namens "Klassenkampf". Hatte es nicht | |
während der "Kulturrevolution" zwei ähnlich unversöhnliche Lager gegeben – | |
die Roten Garden, die mit allen Mitteln die "richtige Linie der | |
Mao-Tse-tung-Ideen" verteidigen wollten, und Maos Widersacher um Deng | |
Xiaoping? | |
Wie damals hat auch heute jedes Lager seine Galionsfigur: Die liberalen | |
Intellektuellen setzen auf Premier Wen Jiabao, der immer wieder auf die | |
Notwendigkeit politischer Reformen hinweist. Für die Utopia-Linke steht | |
fest: Nur Genosse Bo Xilai hat das Zeug, die richtige Linie des | |
Vorsitzenden Mao fortzusetzen. Verlierer ist die Führung um Hu Jintao, die | |
den Schein der von ihr propagierten "harmonischen Gesellschaft" wenigstens | |
bis zum nächsten Parteitag im Herbst 2012 wahren will. Verlierer sind auch | |
die Taktiker, die politische Reformen immer wieder mit dem Argument der | |
"Wahrung der Stabilität" vertagen. | |
Nun appellieren auch liberale Wortführer, etwa der Ökonom Wu Jinglian, an | |
ihre Anhänger: Es sei höchste Zeit, den maoistischen Terror zu verhindern. | |
Selbst der sachlich analytische Webautor mit dem Pseudonym "qiufeng" | |
(Herbstwind) mahnt: "Wieder befindet sich die chinesische Nation in einem | |
sehr kritischen Moment." Alle meinen das eine: Nun muss von ganz oben eine | |
endgültige Entscheidung her! | |
## Kampf an allen Fronten | |
Eine solche fällt der Führung sichtlich schwer und mit jedem Tag schwerer. | |
Denn aller Zensur zum Trotz ist der Kampf an allen Fronten längst eröffnet: | |
Seit Utopia ungestraft auf Premier Wen Jiabao einschlagen durfte, entfällt | |
de facto auch die Zensur gegen liberale Portale, die ungehindert ihre | |
Agitationstexte verbreiten, selbst solche des dissidentischen Autors Tie | |
Liu (Eiserner Strom), der warnte: "Rote Lieder singen bedeutet Rückkehr zum | |
roten Terror der Kulturrevolution." | |
Sogar von einer durch die Linke betriebenen Spaltung der KP ist die Rede. | |
So schreibt Professor Du Guang von der Zentralen Parteikaderschule, es habe | |
2009, geduldet von der Führung, zwei linke Parteigründungen gegeben, die | |
aber durch das liberale intellektuelle Lager jedes Mal mit Hilfe des | |
Geheimdiensts rigoros vom Tisch gefegt wurden. Der Geschäftsführer von | |
Utopia bestritt, dass sein Portal das Gründungsmanifest einer | |
"Arbeiterpartei der Mao-Tse-tung-Ideen" online veröffentlicht habe. | |
Gewiefte Internet-Archivare finden aber noch heute den Wortlaut des | |
Manifests, aus dem Du Guang zitiert hat – gepostet bei Utopia. | |
Kaum drang Dus Kritik, die Parteiführung sei auf dem linken Auge blind, an | |
die Öffentlichkeit, meldete Utopia empört: Die drei Genossen, die in | |
Schanghai bei der Staatsanwaltschaft Anzeige erstatten wollten, seien mit | |
Gewalt vertrieben worden. Die Schanghaier Staatsanwaltschaft habe nicht nur | |
den Antrag nicht entgegengenommen, sie habe auch noch die Polizei gerufen. | |
"Die Bullen prügeln auf uns ein, einfach so!" | |
Fußnoten: | |
(1) [1][www.wyzxsx.com]. | |
(2) Zehn Jiao (umgangssprachlich: Mao) sind ein Yuan. Fünf Mao entsprechen | |
ungefähr fünf Eurocent. | |
(3) Es handelt sich um zwei Maissorten und eine Reissorte. Siehe auch | |
[2][uebermonsanto.wordpress.com/2009/12/14/china-will-genreis-und-genmais-a | |
nbauen/]. | |
(4) [3][www.netease.com], Blogs auf [4][www.sina.com] oder [5][www.qq.com]. | |
© [6][Le Monde diplomatique], Berlin vom 9.9.2011 | |
11 Sep 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.wyzxsx.com/ | |
[2] http://uebermonsanto.wordpress.com/2009/12/14/china-will-genreis-und-genmai… | |
[3] http://www.netease.com/ | |
[4] http://www.sina.com/ | |
[5] http://www.qq.com/ | |
[6] http://www.monde-diplomatique.de | |
## AUTOREN | |
Shi Ming | |
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