# taz.de -- Essay zum Wandel der arabischen Welt: Ohnmächtige werden zu Mächt… | |
> Als al-Qaida 2001 die USA angreift, gilt bin Laden als Rächer der | |
> gedemütigten arabischen Welt. 10 Jahre später stirbt er - erst politisch | |
> auf dem Tahrirplatz, dann tatsächlich. | |
Bild: Als Antithese zu bin Laden demonstrierten die Araber, wie auf dem Tahrirp… | |
"An den Früchten, nicht an den Wurzeln erkennt man den Baum", lautet ein | |
arabisches Sprichwort. Anders gesagt: Es gibt Dinge, die macht man, ohne | |
die geringste Vorstellung davon zu haben, welche Konsequenzen sie nach sich | |
ziehen werden. Hätte etwa - nur mal zum Beispiel - der frühere US-Präsident | |
George Bush senior vor 20 Jahren geahnt, dass 10 Jahre später 19 arabische | |
Attentäter, darunter 15 Saudis, am 11. September drei US-Verkehrsmaschinen | |
in tödliche Waffen verwandeln würden? Und zwar nachdem er 1991 staheine | |
Truppen auf der arabischen Halbinsel stationiert hatte? | |
Die Wurzeln des unerbittlichen Kampfs von al-Qaida liegen in der | |
Entscheidung von Bush und seinem damaligen oberstem Feldherrn Norman | |
Schwarzkopf, eine halbe Million US-Soldaten zur "Operation Wüstensturm" am | |
Golf zusammenzuziehen, um das vom Irak besetzte Kuwait zu befreien. | |
Erstmals hatte eine saudische Regierung das Angebot aus Washington | |
angenommen, ausländische Truppen im Königreich zu stationieren, wohl auch | |
aus Angst, Saddam Hussein könnte seine Soldaten auf ihre Ölfelder schicken. | |
## Kränkung durch die Ungläubigen | |
Das aber war für Osama bin Laden und die Seinen der entscheidende | |
Tabubruch. Truppen der "Ungläubigen" im Land der heiligen Stätten von Mekka | |
und Medina? Nachdem seine heiligen Krieger die Sowjets dank massiver | |
CIA-Hilfe erfolgreich aus Afghanistan vertrieben hatten, sah er hier die | |
nächste Aufgabe. Die Kränkung war umso größer, als sich bin Laden zuvor mit | |
dem saudischen König Fahd getroffen und ihm das Angebot unterbreitet hatte, | |
seine in Afghanistan kampferprobten Mudschaheddin den Schutz des | |
Königreichs übernehmen zu lassen. Fahd lehnte ab und gab bekanntlich der | |
amerikanischen Militärtechnik den Vorzug. | |
Nun orientierte sich bin Laden neu. Er erklärte nicht nur dem saudischen | |
Regime als Gastgeber für ungläubige Truppen auf heiligem Boden den Krieg, | |
sondern auch den USA, die sie geschickt hatten. | |
Kuwait wurde im Februar 1991 befreit, aber die US-Truppen blieben. Was | |
folgte, waren zwei Fatwas von bin Laden. In der ersten rief er 1996 dazu | |
auf, Amerikaner und Juden von muslimischem Boden zu vertreiben. Zwei Jahre | |
später folgte eine Fatwa, in der "Kreuzzüglern", Juden und US-Bürgern | |
weltweit der Krieg erklärt wurde. | |
Bin Ladens Fatwa lehnte sich eng an eine damals in Saudi-Arabien geführte | |
Debatte über den "westlichen Angriff auf die Kultur" an. Die Präsenz von | |
US-Truppen auf heiligem Boden sah das religiöse Establishment als eine | |
Attacke auf den eigenen erzkonservativen islamischen Lebensstil an. Schon | |
bald wurde unter den Militanten diskutiert, dass der Schlüssel zum Sieg | |
darin liege, den Krieg auf das Territorium des Feindes zu tragen. Der Rest | |
ist Geschichte. Am 11. September schlugen die Flugzeuge ein. | |
In den Neunzigerjahren sahen viele Saudis den wachsenden westlichen | |
Einfluss als Vorspiel zu einer militärischen Eroberung der islamischen | |
Welt. Sie bauten ihre Ideologie vom "Kampf der Zivilisationen" aus ihrem | |
oft radikalislamischen Blickwinkel aus: zum Kampf zwischen einem | |
materialistischen Westen, der versucht, die Weltherrschaft an sich zu | |
reißen, und einer spirituell-islamischen Kultur. Dabei sahen sie sich | |
selbst als kulturell überlegen an und zugleich als Opfer. | |
## Versager sind immer die anderen | |
Es ist beklemmend, die Diskussion radikaler Islamisten mit der | |
antiislamischer Fanatiker in Europa zu vergleichen. Auch Anders Behring | |
Breivik, der Attentäter von Oslo und Utøya, fühlte sich als Europäer | |
überlegen und gleichzeitig bedroht von der islamischen Welt. Hatten nach | |
bin Ladens Ansicht die arabischen Regime darin versagt, das Wahre zu | |
verteidigen, waren es bei Breivik die politischen Eliten, die sich | |
angeblich dem "Multikulturalismus" verschrieben haben und die islamische | |
Bedrohung nicht aufhalten. In einem vor dem Anschlag ins Netz gestellten | |
Video forderte Breivik, sich an den "Werten" der europäischen Vorfahren zu | |
orientieren, denen sie in Krisenzeiten gefolgt seien: Ehre, Opfer, | |
Märtyrertum, Stärke. Das hätte genauso aus einem Rekrutierungsvideo von | |
al-Qaida stammen können. | |
Beide, al-Qaida und Breivik, sehen sich als Kämpfer für die wahren Werte | |
und gleichzeitig als Opfer einer Umgebung, die diesen Kampf nicht aufnehmen | |
möchte. Was für den einen der "böse Westen", sind für den anderen der | |
"Mulitkulturalismus" und der "kulturelle Marxismus". Beide sehen sich als | |
ein bedrängtes Opfer, das zurückschlagen muss. Militanter Islamist und | |
militanter Islamhasser - die Parallelen sind frappierend. | |
Doch während die Ideologie des einen in Europa in den vergangenen Jahren | |
bis tief in die politische Mitte salonfähig wurde, befindet sich die | |
Ideologie al-Qaidas in der arabischen Welt im Niedergang. Den Höhepunkt | |
ihrer medialen Aufmerksamkeit hatten die heiligen Krieger nach dem 11. | |
September erreicht, als viele Araber in bin Laden eine Art Rächerfigur im | |
Stil eines Robin Hood sahen. | |
Damals fühlten sich die Araber machtlos gegenüber ihren eigenen Regimen, | |
Israel und einem Westen, der mit seinen Truppen in der Region nach Belieben | |
ein- und wieder rausmarschierte. Und dann kam dieser bin Laden und machte | |
die Ohnmächtigen durch einen spektakulären blutigen Anschlag vermeintlich | |
zu Mächtigen. Nur an der Situation änderte sich nichts. | |
Al-Qaida, die mit dem Mittel der Gewalt ein Emirat nach dem anderen | |
errichten wollte, gelang es nicht, auch nur ein einzige Regierung zu | |
stürzen. Die korrupten arabischen Autokraten blieben an der Macht; die USA | |
griffen den Irak an, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen; der | |
israelische Siedlungsbau ging unvermindert weiter - an der arabischen | |
Ohnmacht änderte sich nichts. Bin Laden selbst übernahm schließlich | |
zunehmend nur noch die Rolle des Kommentators von der Seitenlinie. | |
## Die arabische Revolution treibt neue Wurzeln | |
Es ist der arabische Frühling, der al-Qaida zehn Jahre später endgültig ins | |
politische Abseits katapultiert hat. Als Antithese zu bin Laden | |
demonstrierten die Araber friedlich bis zum Sturz ihrer Regime für Brot, | |
Würde und Demokratie. In wenigen Wochen hatten sich die Tunesier und | |
Ägypter durch ihre Furchtlosigkeit und Beharrlichkeit von Ohnmächtigen zu | |
Mächtigen gewandelt und waren in der gesamten arabischen Welt zum Symbol | |
der Veränderung geworden. | |
Mit anderen Worten: Bin Laden starb politisch auf dem Tahrirplatz, bevor er | |
in Pakistan von US Navy Seals tatsächlich erschossen wurde. Die überreife | |
Frucht des Baumes ist zu Boden gefallen. Die arabische Revolution treibt | |
neue Wurzeln. | |
Und wie geht es nun weiter, zwei Jahrzehnte nach der "Operation | |
Wüstensturm", ein Jahrzehnt nach dem 11. September, ein halbes Jahr nach | |
dem Sturz Mubaraks? Eines ist sicher: Das Zusammenspiel der arabischen Welt | |
mit dem Westen wird weitergehen. | |
## Neue arabische Öffentlichkeit | |
Ein selbstbewusstes neues Arabien wird fordern, von Europa als | |
gleichberechtigte Region wahrgenommen zu werden. Es wird vielschichtiger, | |
pluralistischer, vielleicht auch turbulenter. Bücher, die die arabische | |
Welt nur unter dem Aspekt der Religion analysieren, werden schnell überholt | |
wirken. Nicht mit Diktatoren, sondern mit einer arabischen Öffentlichkeit | |
wird sich die europäische Politik arrangieren müssen. | |
Demokratische arabische Länder, die neuen Nachbarn Europas, werden | |
verlangen, einbezogen zu werden. Die Festung Europa wird schneller infrage | |
stehen, als die Europäer "Willkommen, neues Arabien!" sagen können - wenn | |
es schlecht läuft, weil viele Araber dem blutigen Kampf zwischen Alt und | |
Neu entfliehen wollen. Wenn es gut läuft, weil sie nicht einsehen, warum | |
sie als junge, friedliche Demokratien draußen vor der Türe bleiben sollten. | |
Wie wird Europa darauf reagieren? Werden die extremen Rechten, die ihre | |
Ideen von einer homogenen Gesellschaft verbreiten, Aufwind bekommen, weil | |
sie es schaffen, dass ein furchtsames Europa sich belagert fühlt? Oder | |
entsteht etwas Neues, das wir, wie einst Bush senior, heute noch nicht mal | |
erahnen können? Wir wissen es nicht. Am Ende gilt: Erst an den Früchten | |
erkennt man den Baum. | |
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9 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
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