# taz.de -- Vor der Berliner Landtagswahl: Die Stadt der Fahnenflüchtigen | |
> Am Wochenende entscheidet Berlin über seine künftigen Machthaber. Viele | |
> machen dabei nicht mit. Bekenntnisse einer Zwangs-Nichtwählerin. | |
Bild: Was macht den Berliner zum Wähler? Dieser Blick allein scheint nicht zu … | |
1 - Meine Freunde in dieser Stadt sind Nichtwählerinnen, sind | |
Fahnenflüchtige, sie bleiben den Urnen fern oder nähern sich ihnen nur | |
zögerlich, zeichnen ungültige Kreuze auf ihre Zettel, sie haben sich in | |
Frankfurter Hörsälen über die Verhältnisse informiert und seither keine | |
Kabine mehr betreten, sie lachen heimlich über die Plakate, die krumm von | |
den Laternen hängen. | |
Andere studieren Zeitungen und Pamphlete genau und ernsthaft, aber sie | |
warten vergeblich auf den Brief mit der Aufschrift "Wahlbenachrichtigung", | |
denn sie sind ausgewandert und umgezogen, sind über die Grenzen nach | |
Deutschland gekommen und haben dabei ihr Wahlrecht zu Hause gelassen. | |
Auch ich habe - als sogenannte Drittstaatsangehörige - noch nie eine | |
Berliner Wahlkabine mit meinen eigenen Augen gesehen, Björn Eggert, mein | |
Kreuzberger Kandidat für das Abgeordnetenhaus, der mir täglich vom | |
Laternenpfahl her zulächelt, wenn ich die Tür aufstoße und auf die Straße | |
stolpere, scheint nicht zu wissen, dass ich ihn auch dann nicht wählen | |
könnte, wenn ich wollte. | |
Als unfreiwillige Nichtwählerin befinde ich mich in guter Gesellschaft: | |
Jede siebte in Berlin wohnhafte Person ist von der kommenden Wahl zum | |
Abgeordnetenhaus ausgeschlossen, dazu kommen jene Tausende, die weder | |
registriert noch gemeldet, aber doch anwesend sind in dieser Stadt. | |
2 - Auf Seite 16 des Berichts B VII 2-1-5j/11 des Amts für Statistik finde | |
ich die entsprechenden Zahlen: 3.387 562 melderechtlich registrierte | |
EinwohnerInnen lebten Ende letzten Jahres in Berlin, davon 457.806 | |
AusländerInnen. Auf Seite 5 die Erläuterung dazu: Ausländer: Personen mit | |
ausschließlich ausländischer oder ungeklärter Staatsangehörigkeit und | |
Staatenlose. | |
Außerdem, schreibt das Amt für Statistik, sind im vergangenen Jahr jeden | |
Monat zwischen 9.614 und 16.266 Menschen nach Berlin gezogen, ähnlich viele | |
haben die Stadt wieder verlassen. Sechzehntausend Klingelschilder neu | |
beschriftet, zehntausendmal Vorhänge abgenommen, Taschen gepackt, ein | |
Koffer noch in Berlin und ein Koffer schon anderswo. | |
3 - Ich sende eine Nachricht an Aydin Akin, den stadtbekannten | |
Fahrradfahrer, der seit Jahren mit Megafon, mit Trillerpfeife und | |
beschrifteten Tafeln behängt durch die Straßen fährt und für das Wahlrecht | |
der AusländerInnen kämpft. Er antwortet postwendend, er sei im Urlaub, | |
schreibt er, und melde sich, sobald er wieder zurück sei. Auch er: mit | |
einem Koffer verreist, vorübergehend. | |
4 - Eine Stadt also, in der jeden Tag mehrere hundert Leute eintreffen, | |
ankommen und ein Zimmer beziehen, in der ebenso viele wiederum ihre Koffer | |
packen und wegziehen, ihre Schlüssel übergeben oder in einen Briefkasten | |
werfen, in der sich Durchreisende und Alteingesessene, Touristinnen und | |
Eingewanderte Tag für Tag auf den Bahnsteigen, den Ausfahrten und | |
Kreuzungen begegnen. Hier fällt es schwer, ein Konzept zu verstehen, | |
welches das Wahlrecht an die deutsche Staatsbürgerschaft koppelt. | |
Anders: Wenn es Bewegung ist, die die Stadt auszeichnet und prägt, das | |
Pendeln zwischen den Orten (und allein die Fahrt von Stadtteil zu Stadtteil | |
würde andernorts bereits eine Reise bedeuten, eine kleine zumindest) - wer | |
sind dann die BerlinerInnen? Jene, die höchstpersönlich in der Charité | |
entbunden wurden, jene, die schon einmal längere Zeit im Wartesaal des | |
Bürgeramts gewartet haben, jene womöglich, deren Eltern zumindest die Wende | |
miterlebt haben, die Berliner Bier trinken und ein Berlin-Fähnchen vors | |
Fenster gehängt, die ihre Steuern entrichtet haben? | |
Oder: Wer ist anwesend und wer ist gerade oder schon wieder weg? Wer | |
spricht welche Hauptstadtsprache? Mit welchen Argumenten wird jenem Teil | |
der Berliner Bevölkerung, der über keinen deutschen Pass verfügt, heute | |
noch das Wahlrecht vorenthalten? Und was bedeutet es für eine Stadt, wenn | |
fast eine halbe Million ihrer EinwohnerInnen an politischen Entscheidungen | |
nicht teilhaben können? | |
5 - Tatsächlich würde sich vielleicht nicht viel ändern, würde das | |
Wahlrecht ausgeweitet, denke ich, als ich durch die Statistik-Berichte | |
blättere, durch die Straßen gehe. Die Wahlplakate sehen sich verdächtig | |
ähnlich. Die grüne Bürgermeisterkandidatin Renate Künast fordert mehr | |
Polizei. PolitikerInnen wechseln mehr oder weniger unvermittelt die Parolen | |
und die Seiten - so der ehemalige CDU-Abgeordnete René Stadtkewitz, der mit | |
seiner rechten Partei "Die Freiheit" dieses Jahr zum ersten Mal an der Wahl | |
zum Abgeordnetenhaus teilnimmt. | |
Die zur Wahl stehenden Parteien scheinen kaum Alternativen zueinander zu | |
bieten - gerade weil sie sich zur Wahl stellen und so auf grundsätzlichere | |
Kritik an der bestehenden Ordnung verzichten, weil sie spätestens nach der | |
Wahl gezwungen sind, sich mit den realpolitischen Verhältnissen zu | |
arrangieren. Kurzum: Der Staat der kapitalistischen Gesellschaft ist nicht | |
der Sitz von Macht, sondern ein Ausdruck dahinter liegender | |
gesellschaftlicher Machtverhältnisse, das steht auf keinem Wahlplakat. | |
6 - Darja Stocker, eine junge Dramatikerin, deren Stücke in Berlin zuletzt | |
am Maxim Gorki Theater gespielt wurden, lebt seit sechs Jahren in Berlin | |
und ist ebenfalls "Drittstaatsangehörige". Ihre Zeilen erreichen mich aus | |
Frankreich, auch sie: unterwegs. "Ich würde auf jeden Fall wählen gehen, | |
wenn ich könnte", schreibt sie, "auch wenn ich persönlich mehr an den | |
außerparlamentarischen Protest glaube. Kein Wahlrecht zu haben, das heißt | |
auch, sich nicht verantwortlich fühlen zu dürfen dafür, was um einen herum | |
passiert." | |
7 - Die Polizei vermeldet das Anzünden von Wahlplakaten in den Nächten, | |
überhaupt die Beschädigung derselben überall, im Kronprinzessinnenweg in | |
Wannsee, in Rummelsburg, in der Wichertstraße, in der Lichtenberger | |
Treskowallee, und am Tempelhofer Damm, in Neukölln und in Prenzlauer Berg | |
hatten sie sich heimlich zu schaffen gemacht: ein 49-Jähriger und seine | |
47-jährige Komplizin, zwei junge Frauen im Alter von 17 und 23 Jahren, eine | |
etwa sechsköpfige Personengruppe, außerdem: drei Männer im Alter von 22 und | |
23, mehrere Unbekannte, zwei Männer auf Fahrrädern, vier Heranwachsende, | |
fünf Personen ohne nähere Angaben, zwei Alkoholisierte und ein weibliches | |
Trio im Alter von 18, 19 und 21 Jahren. | |
8 - Am 1. September 2011 wähle ich dann doch. Die Wahlurne steht am Fenster | |
einer Buchhandlung in Mitte: Hier können die Personen mit ausschließlich | |
ausländischer oder ungeklärter Staatsangehörigkeit und Staatenlose ihre | |
Stimme abgeben, ähnliche Urnen stehen an über siebzig Orten in der Stadt, | |
eine Initiative von "Citizens For Europe e. V." und dem Verein "Jede | |
Stimme". Es kämen täglich etwa zwei Dutzend Wähler und WählerInnen vorbei, | |
sagt der Buchhändler und streckt zum Abschied noch die Faust in die Luft, | |
ich glaube, er hofft auf einen guten Ausgang dieser symbolischen Wahl. | |
Vorerst bleibt sie jedoch Behauptung - auch wenn, zwölf Tage vor der | |
offiziellen Wahl, dann vorläufige Ergebnisse verkündet werden können: Die | |
SPD hat 38 % der Stimmen für sich gewonnen, gefolgt von den Grünen mit 25,9 | |
% und der Linkspartei mit 11,8 %. Die Inszenierung dieses demokratischen | |
Akts unterscheidet sich also womöglich gar nicht so sehr vom Spektakel der | |
"echten" Wahlen. Und wird sie oft genug wiederholt, werden die symbolischen | |
Urnen vielleicht irgendwann durch ganz offizielle ersetzt. | |
13 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Dorothee Elmiger | |
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