# taz.de -- Talkprogramm in der ARD: Sehnsucht nach Russland | |
> In der vergangenen Woche gab es zum ersten Mal das volle fünffaltige | |
> Talkprogramm der ARD. Westrowski, Koordinator der Rederunden, zieht | |
> Bilanz. | |
Bild: Das Fünfer-Gespann der ARD. | |
BERLIN taz | Irgendwann bei Maischbergers Menschen musste Westrowski | |
weggenickt sein. Er schreckte erst wieder hoch, als Sandra Maischberger | |
plötzlich "Hackethal" sagte. Karl-Heinz, genannt: Julius, Hackethal? Der | |
hatte ihm gerade noch gefehlt. War auch der etwa Gast in der neuen, | |
fünffaltigen ARD-Talkleiste im Ersten, für die er als Leiter der | |
Koordinationsstelle für die politischen Talkformate der ARD (Kopotard) | |
zuständig war? Und warum wusste er nichts davon? | |
Quatsch, durchfuhr es Westrowski, Hackethal war längst tot, seit 1997, um | |
genau zu sein. Sandra Maischberger hatte in ihrer Focus-tauglichen Sendung | |
"Der verwirrte Patient: Was macht wirklich gesund?" lediglich Zuflucht beim | |
Enfant terrible der Halbgott-in-Weiß-Zunft gesucht. Denn Hackethal hatte | |
vor seinem Abdriften in merkwürdige Krebstherapie-Sphären tatsächlich ganz | |
Vernünftiges zu Papier gebracht. Mit diesem Buch "Auf Messers Schneide", | |
das schon 1976 die Forderung nach mehr Ethik in der Medizin und bessere | |
Beziehungen zwischen Ärzten und Patienten aufgestellt hatte. | |
Aber was war von einer Talk-Woche zu halten, in der 35 Jahre alte Bücher | |
und noch ältere Gäste das Spiel bestimmten? Da hatte Westrowski seit | |
Monaten den Ernstfall geprobt. Die Themen sortiert, verworfen und wieder | |
sortiert. Versucht, die vermuteten Begehrlichkeiten der Herren Jauch, | |
Plasberg und Beckmann und die der Damen Maischberger und Will unter- und | |
gegeneinander vorauszuahnen und auszugleichen, um ja nicht sofort zu Anfang | |
der Talk-Offenisve im Ersten das große Gästechaos ausbrechen zu lassen. Und | |
dann das. | |
Als hätten sie sich alle untereinander abgesprochen, hatte es überall | |
gemenschelt. Bloß keine aktuelle Politik, schien die Devise gewesen zu | |
sein, eher die nachhaltigen Problemthemen. Wollten sie ihm, Westrowski, | |
etwa eins auswischen? Oder dachte er wieder mal zu ichfixiert? | |
## Jauch, der frisch gebackene ARD-Halbgott | |
Maischberger gab also die Frau TV-Doktor, Anne Will setzte am Tag danach | |
mit "Lasst mich in Würde altern" noch mal einen drauf. Frank Plasberg hatte | |
am Montag in "Hart, aber fair" mit "Der blockierte Aufstieg - Gesellschaft | |
mit beschränkten Chancen" die Bildungsmisere nach der Sommerpause | |
wiederbelebt. Und Beckmann leuchtete als Schlusslicht am Donnerstag ganz | |
von aktuellen Anlässen befreit mit "Vermisste Kinder - wie weit darf man | |
gehen, um das Leben eines Kindes zu retten?". Nicht mal Jauch, dieser | |
frisch gebackene ARD-Halbgott, hatte so etwas wie das Thema der Woche | |
gesetzt, sondern eine Gedenk-Show zu den Anschlägen auf die USA am 11. | |
September 2001 abgeliefert. Und beinahe höhnisch war Westrowski gefragt | |
worden, ob in der Woche auch andere ARD-Talks im Ersten die Herren Struck, | |
Peter (SPD), in Rente, und/oder Todenhöfer, Jürgen (CDU), ebenfalls im | |
Unruhestand, angefordert hätten. Frechheit! | |
Da hatte Westrowski die in letzter Minute doch noch von den | |
ARD-Gremienvorsitzenden durchgewinkte Spezialsoftware für die berühmte | |
"Gäste-Datenbank" installiert. Was natürlich bedeutete, dass alle Einträge | |
händisch erfolgen mussten, weil das Ding mit den anderen ARD-internen | |
Steuerungsprogrammen nicht kompatibel war. Alle hatte er hineinbekommen, | |
von Merkels Kabinett über die Vorderbänkler in Bund und Ländern und die | |
TV-Dauergästler bis zu Spezialisten und B-Promis für Feinschmeckerthemen. | |
Selbst Jo Groebel war schon drin. Aber Todenhöfer? Struck? | |
Westrowski seufzte. Die erste volle ARD-Polittalkwoche war gelaufen, aber | |
keiner wollte sich aus der Reserve locken lassen. Dabei hatte er an den | |
hämischen Twitterkommentaren von Anne Wills Freundin Miriam Meckel durchaus | |
seinen Spaß gehabt. "Da freuen wir uns doch ab sofort darüber, dass es | |
,Stern TV' jetzt auch in der ARD gibt", hatte die während der | |
Jauch-Premiere am 11. September gezwitschert. | |
Doch wer daraus Hoffnung zog, Anne Will würde am Mittwoch nachlegen und | |
Jauch zeigen, wie Polittalk wirklich geht, guckte in die Röhre. Und sah 241 | |
in mehr oder weniger Würde verflossene Jahre vor sich - Ruth Maria | |
Kubitschek (80), Rolf Hochhuth (80) und Rolf "Ich bin ein Jahr älter, aber | |
dafür gut geliftet" Eden (81). Immerhin: Später kam noch Jens Spahn (31) | |
dazu. Jens Spahn - Big Deal! - dachte Westrowski. Der | |
jugendlich-gesundheitspolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion | |
gehörte nun nicht gerade zu den heißesten Einträgen in seiner Datenbank. | |
Westrowskis Hoffnungen hatten sowieso eher bei Plasberg und seinem | |
Bildungsthema gelegen. | |
## "Hart aber fair" als Jugendsendung | |
Und was machte Plasberg: keine Bundesbildungsministerin, kein | |
Hans-Olaf-Henkel als Großmahner von wegen Bildung gleich Kapitalblabla, | |
kein Arnulf Baring, der sagt, warum Bildungsdeutschland untergeht. Gerade | |
mal für Ludwig Spaehnle (CSU), den bayerischen Kultusminister, hatte es | |
gereicht. Und für Karl Lauterbach, den SPD-Gesundheitspapst. Dem hatte | |
wahrscheinlich sein Hausarzt (Ansatz für Maischberger!) geraten, mal ein | |
anderes Thema zum Ausgleich dazwischen zu schieben. | |
Lauterbach hatte sogar die sonst unvermeidliche Fliege abgenommen und am | |
Schluss der Sendung gewitzelt, er habe mal jünger aussehen wollen (Ansatz | |
für Will?). Wobei, das musste auch Westrowski neidlos zugeben: Der | |
ebenfalls anwesende Christian Rach hatte alle in die Tasche gesteckt. Von | |
wegen Fernsehkoch, und dann auch noch auf RTL. Der Mann gab durch den | |
gesellschaftlichen Rost gefallenen Jugendlichen in seinem | |
Ausbildungsprojekt ne Chance - und taugte zum Bildungspolitiker. | |
Jedenfalls hatte Rach etwas zu sagen und sich mit der Materie beschäftigt, | |
praktisch wie theoretisch, dachte Westrowski und fühlte so etwas wie | |
Respekt in sich aufsteigen. Wobei "Hart, aber Fair", wieder mal so eine | |
richtige Jungssendung gewesen war: Die RTL-Moderatorin Nazan Eckes durfte | |
am Anfang noch etwas über ihre Erfahrungen in Sachen Aufstieg durch Bildung | |
und die Kluft Türkei-Deutschland erzählen, wurde dann kaum noch gefragt, | |
und war zu höflich, den Herren das Wort zu nehmen. | |
Dabei waren für Westrowski die Frauen klar die Siegerinnen der Woche. | |
Allerdings nicht die Talkerinnen, sondern ihre Gäste: Schon bei Jauch | |
hatten Tanja Menz, deren Sohn im Februar 2011 in Afghanistan fiel, und die | |
"Dust Lady" Marcy Borders, die vor zehn Jahren gerade im Nordturm des World | |
Trade Centers am Kopierer stand, die Sendung bestimmt. | |
Wobei: Jauch ließ Borders nur ganz am Anfang zu Wort kommen und fragte kaum | |
nach. Danach war sie aus der Runde verbannt, wie es in Jauchs Team hieß, | |
weil man dem TV-Publikum nicht ständig Englisch mit Voiceover zumuten | |
wollte. Pathetic, dachte Westrowski, und verspürte auf einmal so etwas wie | |
Sympathie für Reinold Beckmann, der mit Kate McCann und ihrem Mann Garry | |
die ganze Zeit Englisch/Deutsch über ihre 2007 in Portugal verschwundene | |
Tochter Madeleine parliert hatte. | |
## Nicht alles niederwitzeln | |
Bei "Menschen bei Maischberger" war es Marianne Koch, die einfach wusste, | |
was Sache war - worauf sich sogar der ebenfalls gebuchte Eckhard von | |
Hirschhausen zurückhielt und nicht alles niederwitzelte. Bei "Anne Will" | |
glich dafür Ruth Maria Kubitschek die hier und da auftretende geistige | |
Inkontinenz der Herren Hochhuth und Eden aus. Eden: "Ich denke überhaupt | |
nicht an den Tod (…) Ist ja sehr unangenehm, son Tod. Es sei denn, ich | |
sterbe auf ner Frau, im Bett. Das ist gut, da kriegt man ne Herzattacke, | |
und weg ist man, und die Frau kriegt von mir 250.000 Euro. Hochhuth: | |
"Richard Wagner ist so gestorben, in Venedig. Er hat aber keine 250.000 | |
mehr zahlen können, denn er war durch die Uraufführung des ,Parsifal' total | |
pleite." | |
Anne Will hatte darauf kurz geguckt, als würde sie gleich einen Lachkrampf | |
kriegen. Aber die ARD war natürlich mit allem zufrieden, wie denn auch | |
sonst. Jauch war natürlich ein "gelungener Start", hatte der zuständige | |
NDR-Intendant gesagt, und ARD-Programmdirektor Volker Herres hatte ein "die | |
Präsenz und die journalistische Qualität des Gastgebers waren jederzeit | |
spürbar" hinterhergeonkelt. Aber der, dachte Westrowski, würde vermutlich | |
auch die Hochhut-Eden-Sequenz als Beleg für den öffentlich-rechtlichen | |
Programmauftrag ("Unterhaltung und Bildung") sehen, ohne rot zu werden. | |
Westrowski wünschte manchmal, er wäre in Russland. Oder wenigstens beim | |
ZDF. Da hatte am Donnerstag Maybrit Illner alles richtig gemacht. Thema: | |
Altersarmut. Anlass: Rentendialog. Gäste: unter anderem Klaus Ernst (Linke) | |
und Ursula von der Leyen (CDU). Aber die Russen waren noch viel besser: Auf | |
[1][NTV] hatte der Ex-KGB-Agent und Unternehmer Alexander Lebedew, dem | |
unter anderem in London der Independent und der Evening Standard gehörten, | |
einem anderen Finanzmagnaten in einem Polittalk zur Finanzkrise mal eben | |
derart die Fresse poliert, dass gleich noch ein dritter Studiogast aus dem | |
Sessel kippte. Diesen Lebedew musste er unbedingt haben, dachte Westrowski | |
und öffnete seine Datenbank, Voiceover hin oder her - schlagende Argumente | |
waren schließlich die Seele des Polittalk-Geschäfts. Und da sah es in | |
Deutschland doch ziemlich mau aus. | |
18 Sep 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.ntv.ru/novosti/239433/#tn3 | |
## AUTOREN | |
Steffen Grimberg | |
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