# taz.de -- Kommentar Bolivien: Evos Offenbarungseid | |
> Die Straße sollte durch ein Naturschutzgebiet gehen. Dagegen | |
> protestierten in Bolivien Tausende. Nun wurde der mehrwöchige | |
> Protestmarsch gewaltsam aufgelöst. | |
Der Mythos des Evo Morales als Südamerikas führender Umweltapostel ist | |
endgültig dahin. Mit der brutalen Auflösung eines seit Wochen andauernden | |
Protestmarsches bolivianischer Tieflandindianer durch die Polizei hat der | |
linke Staatschef die Spaltung seiner Basis besiegelt. Zugleich versetzt er | |
ökosozialistischen Visionen auf dem Subkontinent einen schweren Rückschlag | |
- bezeichnenderweise mit einem Straßenprojekt. | |
Morales und sein Vize Álvaro García Linera argumentieren, die 306 Kilometer | |
lange Fernstraße durch eine Naturschutzgebiet sei wichtig für die | |
wirtschaftliche Entwicklung Boliviens. Die zu 80 Prozent von Brasilien | |
finanzierte Straße gehört aber auch zu einer geplanten Verbindung vom | |
südlichen Rand des Amazonasbeckens bis zum Pazifik, auf der einmal | |
brasilianische Exportgüter transportiert werden sollen. Damit dient sie, | |
wie so viele Infrastrukturprojekte, vor allem Konzerninteressen. | |
Konzipiert wurde diese "physische Integration" Südamerikas unter der | |
Frührung Brasiliens bereits um die Jahrtausendwende, also noch vor dem | |
reihenweisen Abtreten der neoliberalen Regierungen. Doch trotz heftiger | |
Kritik von links haben sämtliche progressive Präsidenten von Lula da Silva | |
bis Chávez an dieser Logik festgehalten. Vom Primat des Wachstums um jeden | |
Preis, durch das sich auch die Lage der Armen spürbar verbessern soll, | |
rückt niemand ab – weder Sozialdemokraten noch Staatskapitalisten. | |
Besonders offen wurden und werden die Konflikte zwischen der Betonlinken | |
des 20. Jahrhunderts und den Befürwortern des "Guten Lebens" in Bolivien | |
ausgetragen, denn dort sind die sozialen Bewegungen sehr stark: Auf dem | |
alternativen Klimagipfel 2010 in Cochabamba konnten sie wichtige Akzente | |
setzten. Doch dessen Abschlusserklärung nimmt die Regierung Morales | |
ebensowenig ernst wie die neue Verfassung, in der eine Befragung der | |
Bevölkerung vor der Planung von Megaprojekten zwingend vorgeschrieben ist. | |
Die Volksabstimmung in zwei Provinzen, die Morales am Sonntag ankündigte, | |
wurde durch den Polizeieinsatz Stunden später als propagandistisches | |
Ablenkungsmanöver entlarvt. Ähnlich verhält es sich mit dem Vorwurf, den | |
Morales und García Linera gebetsmühlenhaft vorbringen:Demnach sei der | |
Protestmarsch von der US-Botschaft und von der rechten Oligarchie des | |
Tieflandes gesteuert. Dabei wäre eine alternative Streckenführung durchaus | |
möglich. | |
In Bolivien geht es aber längst nicht mehr nur um die Fernstraße, sondern | |
auch um das Recht, friedlich gegen sie zu demonstrieren. Evo Morales hat | |
sich gegen die Demokratie und für die Konfrontation entschieden. Paradox, | |
aber wahr: Damit entzieht er zugleich seinem eigenen Machtprojekt den | |
Rückhalt. | |
26 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Dilger | |
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