# taz.de -- Boom der Psychodiagnosen: Schnelle Diagnose "Burn-out" | |
> Seelische Verstimmungen, Schlafprobleme, Ängste: Sie sind das neue | |
> "Leitsymptom" einer Krise. Immer mehr Menschen gehen zum Psychiater - vor | |
> allem Männer. | |
Bild: Ausgebrannt? Früher hatten viele Angst vor der Diagnose "Wahnsinnig". | |
Die neueste Lieferung kommt von der Deutschen Rentenversicherung Bund: Im | |
Jahre 2010, so sagt die Statistik, ist die Zahl der Frühverrentungen wegen | |
seelischer Erkrankungen erneut gestiegen. Knapp 40 Prozent der | |
Erwerbsminderungsrenten werden heute wegen psychischer Störungen bewilligt. | |
Die neuen Zahlen fügen sich ein in den Trend zu immer mehr Psychodiagnosen | |
auch bei Krankschreibungen und Klinikaufenthalten. Zur Begründung heißt es | |
meist, erstens sei die Arbeitswelt stressiger geworden. Zweitens seien | |
psychische Erkrankungen nicht mehr so stigmatisiert, die Diagnosen würden | |
daher ehrlicher ausgestellt und eine Depression etwa würde nicht mehr | |
verschwiemelt als "Herzproblem" oder "Rückenbeschwerden" getarnt. | |
An beiden Begründungen ist viel dran, aber man kann darüber hinausgehen und | |
den Boom der Psychodiagnosen auch als kulturelles Phänomen betrachten, als | |
ein "Umlabeln" des Nichtfunktionierens, weg vom Körperlichen hin zum | |
Seelischen. Das Umlabeln geht einher mit einer Etikettierung, die | |
anschlussfähig ist an die männlich dominierte Erwerbswelt. | |
## Noch mehr Effizienz | |
Seitdem es in der Umgangssprache gern "Burn-out" und "Coaching" heißt statt | |
"Angststörung", Depression" und "TherapeutIn", ist der seelische Einbruch | |
vermittelbarer geworden, weil die Anglizismen an die Terminologie der | |
Managerwelt erinnern. Wer "ausgebrannt" ist, hat mal gebrannt, war früher | |
mal besonders engagiert. | |
Wer von seinem Therapeuten als einem "Coach" spricht, redet in der | |
Managersprache wie eine Führungskraft, die sich beraten lässt für noch mehr | |
Effizienz. Das "Versagen", die persönliche Krise kann man so deuten als | |
etwas, das tapferen Kämpfern passiert, nicht schwachen Opfern oder gar | |
Wahnsinnigen. | |
Bei den Männern werden 33,4 Prozent der Erwerbsgeminderten aus psychischen | |
Gründen frühverrentet, bei den Frauen sind es fast 46 Prozent. Der Anteil | |
der Psychodiagnosen bei Frühverrentungen liegt bei Männern zwar niedriger | |
als bei Frauen, ist in den vergangenen Jahren aber besonders stark | |
gestiegen. Vor zehn Jahren hatte nur jeder fünfte erwerbsgeminderte Mann | |
eine Psychodiagnose. | |
Früher wurde mehr somatisiert. Noch in den 70ern etwa sprach man von | |
Magenproblemen als eine Folge von Stress. Heute weiß man, dass ein | |
Magengeschwür von einem bestimmten Bakterium verursacht wird. Magenprobleme | |
werden demnach kaum noch als körperliches Etikett für seelische Nöte | |
verwendet. | |
## Burn-out statt Managerkrankheit | |
Auch der Begriff "Managerkrankheit" ist fast verschwunden. Früher | |
bezeichnete man damit Herz- und Kreislaufprobleme, die angeblich auf zu | |
viel Stress hindeuteten. Wer wegen zu viel Stress nicht mehr kann, hat | |
heute ein "Burn-out". | |
Wobei dieser Begriff im ICD-10-Schlüssel, der internationalen | |
Klassifikation von Krankheiten übrigens keine Behandlungs-, sondern eine | |
Zusatzdiagnose ist. Eine genauere Behandlungsdiagnose etwa einer schweren | |
Depression ist erforderlich, um etwa die Einweisung in eine Klinik zu | |
veranlassen. | |
"Belastungen werden heute von den Menschen eher psychisch abgebildet und | |
weniger körperlich als früher", sagte der Rostocker Gesundheitsforscher | |
Wolfgang Schneider der taz. Die Verschiebung bedeutet aber nicht, dass es | |
sich bei den psychisch Erkrankten um Simulanten handelt. Auch bei der | |
Deutschen Rentenversicherung betont man, dass psychische Störungen durch | |
ausgeklügelte Gutachterverfahren festgestellt werden und daher | |
Simulantentum kaum möglich ist. | |
Vermutlich geht der Boom der Psychodiagnosen mit einer neuen Einordnung in | |
Krisen einher: Dabei werden bestimmte Symptome, eben die der seelischen | |
Verstimmung, der Schlafprobleme und der Ängste zum "Leitsymptom" einer | |
Krise gemacht und das Körperliche, die Rückenverspannungen, Bauchschmerzen | |
und Schwindelgefühle hintangestellt. | |
Hinter der Angst vor einer Psychodiagnose stand früher wohl auch die | |
Befürchtung, dass es das endgültige Aus für die Karriere bedeuten könnte, | |
als "wahnsinnig" etikettiert zu werden. Die Zahlen der Deutschen | |
Rentenversicherung sind aber recht positiv, was die Rückkehr nach einer | |
Auszeit betrifft. Nach einem Aufenthalt in einer Psychoklinik kehren laut | |
Statistik 84 Prozent der Behandelten ins Berufsleben zurück. | |
18 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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