# taz.de -- Erste Sitzung des neuen Abgeordnetenhauses: Eine Art Familientreffen | |
> Bei der ersten Sitzung gibt es viele fraktionsübergreifende Umarmungen, | |
> großväterlich mahnende Worte für die Piraten und de facto das erste | |
> rot-schwarze Bündnis seit Willy Brandt. | |
Bild: Das Berliner Abgeordnetenhaus kam am Donnerstag zu seiner ersten Sitzung … | |
Da eilt die grüne Abgeordnete Jasenka Villbrandt quer durchs Plenum, um | |
ihrer neugewählten CDU-Wahlkreiskonkurrentin Hildegard Bentele zur | |
Begrüßung um den Hals zu fallen. Da plauscht der SPD-Linke Raed Saleh | |
lächelnd mit dem CDU-Rechten Kurt Wansner. Und da beglückwünscht die | |
Kantinenkassiererin eine neue SPDlerin zu ihrer Halskette. Es ist die | |
heimelige Atmosphäre eines - gelungenen - Familientreffens, das die erste | |
Sitzung des neuen Abgeordnetenhauses am Donnerstag prägt. Umso mehr, weil | |
sich manche in großväterlicher Weise dem neuesten Mitglied dieser Familie | |
widmen: der Piratenpartei. | |
Die Zuschauertribünen sind voll, Ehrengäste wie frühere | |
Parlamentspräsidenten und die inzwischen 89-jährige SPD-Ikone Egon Bahr | |
verfolgen die Sitzung. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) | |
will sogar ein japanisches TV-Team gesehen haben. Bahr, Anfang der 60er | |
Jahre Senatssprecher von Wowereits Vorgänger Willy Brandt, ist in gewisser | |
Weise das Bindeglied zu dem, was gut eine halbe Stunde nach Beginn | |
passiert. Da formiert sich eine künftige Koalition, wie es sie seit Zeiten | |
Brandts im Abgeordnetenhaus nicht gab: Rot-Schwarz. SPD und CDU, die | |
offiziell noch gar nicht koalieren, stimmen gemeinsam einen Grünen-Antrag | |
nieder, den Linkspartei und Piratenpartei unterstützen. Solide ist die | |
Mehrheit, Rot-Schwarz stellt 86 der 149 Abgeordneten. | |
Wowereit aber mag in diesem Moment wenig Historisches sehen. "Nichts", sagt | |
er später auf die Journalistenfrage, welches Gefühl dieses gemeinsame | |
Händeheben von SPD und CDU bei ihm ausgelöst habe. Er sei ja 1995 zu Zeiten | |
eines Bündnisses mit der CDU ins Parlament gekommen, begründet er das. Was | |
den kleinen Unterschied außer Acht lässt, dass damals die Union den | |
Regierungschef stellte. | |
Die Piraten fügen sich auffallend diszipliniert in den Sitzungsablauf. Die | |
19-jährige Susanne Graf assistiert dem 58 Jahre älteren Alterspräsidenten | |
Uwe Lehmann-Brauns von der CDU souverän bei der Sitzungsleitung, bis das | |
Präsidium mit dem SPD-Mann Ralf Wieland an der Spitze gewählt ist. Grafs | |
Fraktionskollege Fabio Reinhard spricht in der ersten Piraten-Rede im | |
Parlament vom "hohen Haus" und klingt dabei nicht ironisch. Mehrere ältere | |
Mitglieder dieses Familientreffens greifen die Forderung der Piraten nach | |
mehr Transparent auf und geben ihnen großväterlich-mahnende Worte mit. | |
Lehmann-Brauns etwa lehnt einen durchleuchteten Menschen ab - der sei nur | |
in der Diktatur erwünscht. Wieland will prüfen, was in Sachen Transparenz | |
verbessert werden könne. Man könne aber auch heute schon stolz sein auf ein | |
hohes Maß davon, fügt er hinzu. | |
Anträge stellen die Piraten auch. Ungerecht fühlen sich sich behandelt, | |
weil sie wie die Linkspartei keinen Vizepräsidenten stellen. Wowereit wird | |
dazu später gegenüber Journalisten sagen, da hätte man sich doch eher | |
gedacht, dass sich die Piraten auf inhaltliche Dinge konzentrieren würden | |
statt auf Posten. | |
Die Piraten wollen aber nicht nur mehr Gewicht für sich, sondern für jeden | |
einzelnen Abgeordneten des Parlaments. Antragsrechte, Rederechte - "ich | |
fasse es nicht, wie wenig Rechte der einzelne Abgeordnete hat", sagt ihr | |
Vertreter Pavel Mayer. Er kündigt an, dass die Piraten ihr Anliegen auch | |
beim Verfassungericht vorbringen wollen. Das bringt ihm den demonstrativen | |
Beifall des linken Grünen-Abgeordneten Dirk Behrendt ein. Der hatte | |
erklärt, dass der linke Parteiflügel seine Positionen über individuelle | |
Anträge und Rederechte deutlich machen will. | |
Auch diesen Streit kommentiert Wowereit gern: Da stehe man fassunglos | |
dabei, sagt der Regierende Bürgermeister, der vor drei Wochen noch mit den | |
Grünen über eine Koalition gefeilscht hat und sich merklich darin bestätigt | |
sieht, nun mit der CDU zu verhandeln. | |
Für Verwirrung sorgt, dass in der ersten Reihe der Grünen-Fraktion neben | |
den Fraktionschefs Ramona Pop und Volker Ratzmann Bildungspolitiker Özcan | |
Mutlu sitzt - bislang kein Mann der ersten Reihe. Sollte das der ominöse | |
Kompromisskandidat, den sich die Parteilinke im Richtungsstreit auf einem | |
der beiden Chefsessel wünscht? Zu weit gedacht, wie später die neue grüne | |
Abgeordnete Antje Kapek enthüllen kann: Man habe die Sitzordnung schlicht | |
ausgelost. | |
27 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
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