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# taz.de -- Psychologie-Professor über Ehrenmorde: "Er muss zeigen, dass er Ko…
> Wie wird ein Mann zum "Ehrenmörder"? Psychologie-Professor Jan Ilhan
> Kizilhan hat mit 21 türkischstämmigen Tätern gesprochen – sie sind keine
> typischen Killer.
Bild: Sogenannter "Ehrenmörder": Der Deutschafghane Ahmad-Sobair O. (Mitte) be…
taz: Herr Kizilhan, wer ist für Sie ein "Ehrenmörder"?
Jan Ilhan Kizilhan: "Ehrenmörder" sind Personen, die ihre angeblich
verletzte Wertevorstellung durch Gewalt wiederherstellen wollen. Frauen
müssen sterben, weil sie aus Sicht der Familie traditionelle Normen
verletzt haben, vor der Ehe eine sexuelle Beziehung haben, sich scheiden
lassen wollen oder ein an westlichen Normen orientiertes Leben führen.
Die patriarchalische Vorstellung von Ehre ist sehr eng verbunden mit der
Sexualität der Frauen. Wenn eine Frau sich beispielsweise sexuell frei
verhält, eine sexuelle Beziehung außerhalb der Ehe eingeht, fühlt sich der
Mann wegen seiner verinnerlichten patriarchalischen Werte verpflichtet, zu
handeln, zu strafen, um seine Ehre wiederherzustellen. Er muss zeigen, dass
er die Kontrolle über sein Eigentum hat, sonst wird er von der Gemeinschaft
als schwach angesehen und abgelehnt.
Ist der Begriff "Ehrenmörder" passend?
Es handelt sich um einen traditionellen Begriff, der bis heute Bestand hat.
Aus psychologischer Sicht widersprechen sich Ehre und Mord natürlich, denn
wer mordet, verliert seine menschliche Ehre.
Sie haben für ihre Studie mit insgesamt 21 türkischstämmigen Männern in
Deutschland gesprochen, die wegen eines "Ehrenmords" in Haft sitzen. Wie
sind Sie an diese Männer herangekommen?
Ich bin seit 15 Jahren Gerichtsgutachter und habe über zahlreiche
sogenannte Ehrenmörder-Gutachten erstellt. Hierdurch habe ich eingehende
Kenntnisse über diese Gruppe und wollte die Täter mit anderen vergleichen.
Über Rechtsanwälte, Richter und die Familien der Täter haben meine
Mitarbeiter und ich diese Personen gefunden und mit ihnen die Untersuchung
durchgeführt.
Es war sehr schwierig, diese Personengruppe zu finden und anhand der
Aktenlage zunächst auszusortieren, wer tatsächlich aus geglaubter
Ehrverletzung getötet hat und wer es aus anderen Motiven nur behauptet.
Warum haben die Männer mit Ihnen gesprochen?
Einige wollten zeigen, dass sie keine Kriminellen sind, und nicht zu
Mördern geworden sind, um sich etwa zu bereichern. Einige fanden es auch
interessant, an einer solchen Studie teilzunehmen.
Warum gelingt es diesen Männern nicht, diese angebliche Ehrverletzung
auszuhalten statt zu morden?
Wenn die eigene Community nicht demokratisch ist und sich von dem Mann
entfernt, der diese angebliche Ehrverletzung erleidet, ihn meidet oder gar
ausschließt, dann kann er dem Druck nicht mehr standhalten. Diese Männer
kommen aus einer Gesellschaft, in der die Akzeptanz des Kollektivs eine
hohe Bedeutung hat. Ihre eigene Identität definieren sie zum größten Teil
über die Mitgliedschaft in diesem Kollektiv. Die Interessen und Vorgaben
des Kollektivs werden als wichtiger angesehen als die eigene individuelle
Identität und Freiheit. Das Kollektiv gibt diesen Personen keine
ausreichende Alternativen für friedliche Lösungen.
Sie verglichen diese "Ehrenmörder" mit 44 anderen türkischstämmigen
Gewalttätern. Was waren die Unterschiede?
Die "Ehrenmörder" sind wesentlich religiöser und patriarchalischer als die
anderen Täter. Viele haben auch in ihrer eigenen Kindheit Gewalt erlebt.
Ein sogenannter Ehrenmörder handelt auch nicht aus einem Impuls heraus, er
hat die Tat schon lange Zeit im Voraus geplant, meistens über Monate
hinweg. Sie kommen meist aus kollektiv-traditionellen Gesellschaften.
Ist in der Kindheit erlebte Gewalt also eine Erklärung für ihr Handeln?
Im weitesten Sinne stimmt diese These. Die Ehrenmörder, die wir gesprochen
haben, haben nicht die typischen Merkmale eines Killers oder Gewalttäters,
sie sind vorher nicht straffällig geworden. Bis zu dieser Tat handelt es
sich um ganz gewöhnliche Mitglieder der Gesellschaft, die dann durch eine
Ehrverletzung ins Wanken gebracht werden.
Wer Gewalt als Lösung beigebracht bekommt, der wendet das selber an. Gewalt
durch die Eltern, mit der Komponente patriarchalische Wertvorstellungen,
verstärkt die Tendenz, Gewalt als eine Lösung zu sehen. Der extremste Fall
bei den sogenannten Ehrenmördern ist, dass sie unmittelbare Verwandte, wie
etwa die eigene Schwester, Ehefrau oder Cousine töten.
Wie ausschlaggebend sind migrationsbedingte Belastungen?
Migration ist natürlich eine Belastung, aber kein alleiniges Kriterium für
jemanden, um kriminell zu werden. Migration für sich allein macht weder
krank noch sozial auffällig. Andere Elemente wie Sozialisation, Bildung,
Integration und die wirtschaftliche Situation spielen genauso eine wichtige
Rolle.
Es gibt vereinzelt auch Frauen, die zu "Ehrenmörderinnen" werden. Haben sie
die gleichen Motive wie Männer?
Absolut, Frauen übernehmen die patriarchalischen Denkstrukturen von
Männern. Häufig fordern die Frauen in der Familie sogar stärker, solch eine
Tat zu begehen. Sie machen größeren Druck auf die Männer, das Thema wird
innerhalb der Gemeinschaft heftig diskutiert, die Betroffenen werden
psychisch unter Druck gesetzt. Diese "Gespräche" der Frauen bei Besuchen,
Feierlichkeiten oder am Telefon führen oft zur Verstärkung des Konflikts.
Anders als bei "Ehrenmördern" geht es bei "Ehrenmörderinnen" seltener um
sexuelle Aspekte. Diese Frauen haben die traditionellen Werte stark
verinnerlicht, was ihnen vielleicht auch als unterdrückten Frauen eine Form
von Sicherheit und eine Rolle in der Gemeinschaft gibt. Deswegen
unterstützen sie eine solche Tat direkt oder indirekt.
Auf der anderen Seite muss ein sexuell freier Mann nicht damit rechnen,
Opfer eines "Ehrenmords" zu werden. Denn in diesen Gesellschaftsschichten
werden die Frauen unter dem archaischen Aspekt als Besitz des Mannes
verstanden – umgekehrt gilt das nicht.
Wenn ein Deutscher aus Eifersucht seine Frau umbringt, wird von einer
"Beziehungstat" gesprochen. Warum wird der Begriff "Ehrenmord" immer im
Zusammenhang mit Muslimen verwendet?
Dieses Phänomen gibt es nicht nur in muslimischen Kulturkreisen, sondern
auch in Süditalien, Brasilien, Indien oder in Griechenland. Es gibt im
weitesten Sinne sogenannte Ehrenmorde auch in der deutschen Gesellschaft,
aber es ist seltener. Die meisten "Ehrenmorde" werden von Muslimen an
Muslimen begangen. Ihre Zahl ist in den vergangenen zehn Jahren im
arabischen und türkischen Raum gestiegen.
Trotzdem: Angenommen, ein Deutscher tötet seine Partnerin aus Eifersucht.
Das ist doch nichts anderes, als wenn ein Türke das macht.
Auf emotionaler Ebene handelt es sich um einen Unterschied. Die psychischen
Prozesse sind vergleichbar, aber der soziale Druck unterscheidet sich hier.
Der muslimische Mann weiß, dass eine öffentlich gewordene Ehrverletzung ihn
unter Druck setzt. Er weiß, er muss sein Ansehen wiederherstellen.
Vergleichbares erleben wir bei einem deutschen Mann nicht.
Bei dem deutschen Ehemann geht es um einen innerpsychischen Konflikt, mit
dem er möglicherweise nicht zurechtkommt. Bei einem traditionell türkischen
Mann spielt neben dem innerpsychischen Konflikt auch der soziale Konflikt
eine Rolle. Der türkische Mann muss also versuchen, ein psychisches und
soziales Gleichgewicht zu finden.
Sind "Ehrenmorde" ein religiöses Phänomen?
Sie werden teilweise religiös interpretiert, rein wissenschaftlich stimmt
dies aber nicht. Auch wenn in den Medien "Ehrenmorde" und Islam miteinander
verbunden werden – "Ehrenmorde" sind eine vorislamische Tradition, die in
manchen islamischen Gesellschaften noch akzeptiert wird. Wenn wir uns den
Koran anschauen, finden wir den Aspekt des "Ehrenmords" so eindeutig nicht.
Das Strafrecht in Deutschland orientiert sich deshalb am hiesigen
Wertemaßstab. Bei "Ehrenmorden" gab es an deutschen Gerichten früher die
Tendenz, unterschiedliche kulturelle Vorstellungen als strafmildernd zu
betrachten. Mittlerweile ist klar, dass sich auch Migranten an deutsche
Rechtsnormen halten müssen.
Die befragten "Ehrenmörder" gingen im Durchschnitt fünf Jahre lang zur
Schule. Ist fehlende Bildung ein Katalysator für diese Form von Gewalt?
Ja. Wer eine niedrige Schulbildung hat, kennt möglicherweise weniger
Lösungsalternativen, der kann in Konflikten weniger human reagieren. Wenn
das soziale Umfeld dann auch noch fanatisch ist, ist die Gefahr groß, eine
solche Tat zu begehen.
Und die Furcht vor Strafe reicht nicht aus, um einen Menschen davon
abzuhalten, solch eine Tat zu begehen?
Nein, diejenigen, die sich dazu entschlossen haben, kalkulieren den eigenen
Tod oder eine lebenslange Haftstrafe mit ein.
Sie fordern eine innere Reform der patriarchalisch strukturierten
Gesellschaften. Werden sich solche Kreise der Aufklärung öffnen?
Für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre bin ich für Deutschland weniger
optimistisch. Wir gehen soziologisch davon aus, dass in dieser Zeit ein
Machtwechsel zwischen den Migrantengenerationen stattfindet, sich die
Probleme noch zuspitzen werden. Wir werden noch mehr Konflikte haben,
möglicherweise mit noch mehr Gewalt und sogenannten Ehrenmorden
konfrontiert werden, bis diese Übergangsphase beendet ist.
Kennen Sie Beispiele aus der Praxis?
In einem Fall hat ein Mann den Liebhaber seiner Ehefrau auf einem
öffentlichen Platz erschossen. Er hat den 16-jährigen Sohn mitgenommen, der
noch fanatischer war als sein Vater. So werden überholte Werte und
Verhaltensweisen von Generation zu Generation weitergereicht.
31 Oct 2011
## AUTOREN
Cigdem Akyol
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