| # taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Moral und Mut | |
| > Passen Postmoderne und Widerstand nicht zueinander? Und zeichnen sich | |
| > Dissidenten durch intellektuelle Starrköpfigkeit aus? | |
| Wer kann im Totalitarismus widerstehen? Bei einem "Workshop" des | |
| Imre-Kertesz-Kollegs der Universität Jena zum Thema "Approaches to | |
| postmodernity from the East. The Generation of Zygmunt Bauman and Agnes | |
| Heller" ging es um die Frage, ob und welchen Einfluss die Erfahrung des | |
| realen Sozialismus auf die Entstehung der postmodernen Philosophie hatte. | |
| Dass dem wirklich so war, konnte nicht erwiesen werden, indes: | |
| Übereinstimmung schien darin zu bestehen, dass Postmoderne und Widerstand | |
| nicht zueinanderpassen: Ernsthafte Dissidenz erfordere einen moralischen | |
| Rigorismus, den das postmoderne Denken, auf Ironie gestellt, nicht | |
| aufbringen kann; weshalb wirklich mutige Dissidenten - etwa der | |
| tschechische Dramatiker Vaclav Havel im Unterschied zum Romancier Milan | |
| Kundera - kompromissunwillig und -unfähig seien. So sei es kein Zufall | |
| gewesen, dass der Ironiker Kundera emigrierte, derweil der Rigorist Havel | |
| sich immer wieder weigerte, das Land zu verlassen, und ins Gefängnis ging. | |
| Die Unverträglichkeit von Dissidenz und Ironie ist keine Eigentümlichkeit, | |
| die sich im realen Sozialismus entwickelte. Auch Gandhi, Martin Luther King | |
| oder Nelson Mandela waren keine Ironiker - von Martin Niemöller und anderen | |
| Gegnern des Nationalsozialismus ganz zu schweigen. Woher auch soll jemand, | |
| der sich in heiterer Distanz zu den eigenen Überzeugungen moralischer Art | |
| hält, die Kraft und Leidensfähigkeit aufbringen, für diese Überzeugungen | |
| unter allen Umständen einzutreten? | |
| ## Leib und Leben riskieren | |
| Zeichnen sich also Dissidenten, Widerständler letztlich durch | |
| intellektuelle Starrköpfigkeit aus? Schließen sich Mut und geistige | |
| Beweglichkeit gegenseitig aus? Ist es denkbar und möglich, auf der Basis | |
| vorletzter, bestenfalls wahrscheinlicher Gründe ernsthafte Gefährdungen von | |
| Freiheit, Leib und Leben zu zu riskieren? | |
| Diese Frage lenkt die Aufmerksamkeit auf das abendländische Urbild aller | |
| intervenierenden Intellektuellen, auf Sokrates, der im Jahre 399 vor der | |
| christlichen Zeitrechnung einem "Justizmord" zum Opfer fiel. Sokrates wurde | |
| des Atheismus und der Jugendverderbnis angeklagt und schließlich nach einer | |
| Mehrheitsabstimmung vor dem attischen Volksgerichtshof zum Tode durch den | |
| Giftbecher verurteilt. | |
| Sokrates aber war ein Ironiker, also jemand, der nach antiker Überzeugung | |
| einen Sachverhalt durch sein Gegenteil ausdrückt, und zwar "in Verbindung | |
| mit einer ausdrucksvollen Betonung oder Haltung." Ironie war es etwa, als | |
| Freud bei seiner Ausreise von Wien nach London 1938 schrieb, dass er die | |
| nationalsozialistische Gestapo jedermann empfehlen könne. | |
| Sokrates aber verwickelte seine Gesprächspartner auf dem Marktplatz in | |
| Athen überaus höflich in angeregte Gespräche über das Wesen des Wahren, | |
| Guten und Schönen, deren Ausgang die Gesprächspartner stets wie begossene | |
| Pudel dastehen ließ. Dass das den ihrer Torheit überführten Honoratioren | |
| nicht gefiel, ist verständlich; dass sie deshalb Sokrates loswerden | |
| wollten, nachvollziehbar. Ironie setzt die Überzeugung voraus, nichts zu | |
| wissen, und Sokrates war davon überzeugt, zu wissen, dass er nichts wisse - | |
| im Unterschied zu allen anderen, was ihm als unerträgliche Arroganz | |
| angekreidet wurde und schließlich zum Todesurteil führte. | |
| Allerdings: die Athener waren keine Unmenschen: Sie ließen die Tür der | |
| Todeszelle offen und unbewacht, so dass Sokrates nach dem Wunsch seiner | |
| Schüler leicht hätte fliehen können. Er weigerte sich. | |
| ## Ironische Emigranten | |
| Platons Dialog "Kriton" schildert das Drama. In ausführlichen Gesprächen | |
| fantasiert Sokrates aus, was die Gesetze Athens, so sie sprechen könnten, | |
| zu ihm sagen würden: dass er als Emigrant unwürdig und kriecherisch würde | |
| leben müssen und ihm die Gesetze Athens in der Unterwelt endlich vorhalten | |
| würden: "Entfliehst du aber, so schmählich Unrecht und Böses mit Gleichem | |
| vergeltend, deine eigenen Versprechungen und Verträge mit uns verletzend | |
| und allen denen Übles zufügend, denen du es am wenigsten wolltest, dir | |
| selbst nämlich, deinen Freunden, dem Vaterlande und uns?" | |
| Am Ende stand für ihn die Loyalität zum eigenen Gemeinwesen höher als das | |
| Leben. Der Tod des Sokrates sollte Folgen haben: Aus Entrüstung über diesen | |
| Justizmord verfasste sein Schüler Platon ein Buch über den Staat, in dem er | |
| für eine auf Gerechtigkeit und Wahrheit, ganz unironische, totalitäre | |
| Herrschaft von Philosophenkönigen plädierte. | |
| Es war die Karikatur dieses Ideals, das die kommunistischen | |
| Parteidiktaturen des Ostblocks exekutierten: Der Widerstand gegen sie | |
| spaltete sich in ironische Emigranten, starrsinnige Moralisten und gegen | |
| ihren Willen zur Ausreise gezwungene Dissidenten wie Solschenizyn oder Wolf | |
| Biermann, der Mitte November seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag begeht. | |
| 31 Oct 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
| Micha Brumlik | |
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