# taz.de -- Falsche Kalkulation: AKW-Abriss teurer als geplant | |
> Das litauische Atomkraftwerk Ignalina zeigt, wie die Kosten für den Abbau | |
> eines ausgedienten AKWs explodieren können. Drei Milliarden Euro sind da | |
> nichts. | |
Bild: Ganz schön teuer: Das abgeschaltete Atomkraftwerk Ignalina. | |
STOCKHOLM taz | Auf 670 bis 1.200 Millionen Euro wurden in einem Ende | |
September bekannt gewordenen Gutachten der Unternehmensberatung Arthur D. | |
Little die Kosten für den Abriss eines in der EU stillgelegten Atomreaktors | |
kalkuliert. | |
Doch nach den Erfahrungen, die man derzeit mit dem Abriss des litauischen | |
AKW Ignalina macht, dürften diese Zahlen zu niedrig angesetzt sein. Bei | |
einem Lohnniveau, das weniger als einem Drittel des deutschen entspricht, | |
geht man dort mittlerweile von Rückbaukosten in Höhe von mindestens 2,93 | |
Milliarden Euro aus. Nun teilte die Regierung in Vilnius der EU mit, dass | |
sie für den Zeitraum von 2014 bis 2020 weitere 700 Millionen Euro benötige. | |
In Ignalina stehen zwei Reaktoren vom sowjetischen Typ RBMK-1500, | |
grafitmoderierte Siedewasserreaktoren wie der Katastrophenreaktor von | |
Tschernobyl. Die Abschaltung dieser Reaktoren war Vilnius zur Bedingung für | |
einen Beitritt des Landes zur Europäischen Union gemacht worden. | |
Gleichzeitig erklärte sich die EU bereit, 95 Prozent der beim Abriss | |
entstehenden Kosten zu tragen. Der erste Ignalina-Reaktor war Ende 2004, | |
der zweite Ende 2009 vom Netz gegangen. | |
Der Ignalina-Abbau ist mittlerweile im Gange. Für die erste Rückbauperiode | |
von 2004 bis 2013 hat die EU einen Betrag von 1,45 Milliarden Euro | |
bereitgestellt. Mit einem ähnlich hohen Zuschuss wird für den Zeitraum von | |
2014 bis 2029 gerechnet. Im Jahr 2030 soll nach das derzeitige AKW-Gelände | |
wieder "grüne Wiese" sein. | |
## "Kritische Situation" | |
Doch die bisher veranschlagten Summen reichten nicht, meint man in Vilnius. | |
Von einer "kritischen Situation" sprach Energieminister Arvydas Sekmokas: | |
60 Prozent der von Brüssel bis 2013 budgetierten Gelder seien verbraucht | |
und noch kein einziges Teilprojekt des Rückbaus sei abgeschlossen. | |
Der Minister hatte schon vor einem Jahr eine Aufstockung der ersten Tranche | |
um eine Milliarde Euro gefordert. Sonst könne der ursprüngliche Zeitplan | |
nicht eingehalten werden und die Gesamtkosten würden noch weiter steigen. | |
Ministerpräsident Andrius Kubilius warf der EU kürzlich in einem | |
Rundfunkinterview vor, sie wolle sich aus der Verantwortung für die Kosten | |
der Ignalina-Schließung stehlen. | |
Litauens Regierung räumt allerdings ein, dass auch Chaos bei der bisherigen | |
Organisation die Finanzierungslücke verursacht habe. Die EU-Kommission | |
spricht von "Unregelmäßigkeiten". Die litauische Sonderstaatsanwaltschaft | |
für Korruption ermittelte - bislang ohne Resultat. | |
## Arbeiten im Verzug | |
Zurzeit verzögert ein unfertiges Brennelemente-Zwischenlager, das einige | |
hundert Meter von den Altreaktoren entfernt im Bau ist, die weiteren | |
Arbeiten. Bei dessen Bau wurden alle finanziellen Kalkulationen über den | |
Haufen geworfen - nun sind die Arbeiten kräftig in Verzug. | |
Den Auftrag hatte 2005 ein deutsches Konsortium erhalten, das aus der | |
Gesellschaft für Nuklear-Service - einem Gemeinschaftsunternehmen deutscher | |
AKW-Betreiber - und der Nukem Technologies besteht, die mittlerweile im | |
Besitz der staatlichen russischen Atomstroyexport ist. Und das | |
Zwischenlager sollte eigentlich schon 2009, gleichzeitig mit der | |
Abschaltung des zweiten Reaktors, fertig sein. | |
Es wird um Geld gestritten. Das Konsortium behauptet, mehr Leistungen | |
erbracht zu haben, als es bislang bezahlt bekommen habe. Die litauische | |
Regierung nennt das Abzocke und vermutet den langen Arm Moskaus: Das | |
deutsch-russische Konsortium wolle mit kalkulierter Verzögerung mehr Geld | |
herausholen. Die kommt Litauen nämlich teuer zu stehen: Es muss für die | |
Extrakosten zahlen, die anfallen, weil die Brennelemente über Jahre länger | |
im Reaktor verbleiben müssen. Beträge zwischen 6 und 18 Millionen Euro | |
werden dafür genannt. | |
Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, die den Fonds der | |
EU-Gelder verwaltet, der den Ignalina-Abriss finanzieren soll, schaltete | |
mittlerweile zwei Experten der schwedischen Atommüllgesellschaft SKB ein, | |
die bis Ende des Jahres ein Gutachten vorlegen sollen. In Vilnius hatte man | |
gehofft, mit dem Referenzprojekt des Ignalina-Rückbaus einen Fuß ins | |
einträgliche Geschäft mit dem europaweit anstehenden Abriss von | |
Altreaktoren bekommen zu können. Bislang entwickelt sich das | |
Ignalina-Projekt aber eher zu einem Negativbeispiel. | |
3 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Atomkraft | |
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