| # taz.de -- Regisseurin über Neo-Western: "Weil sie Gott auf ihrer Seite wähn… | |
| > Kelly Reichardts Film "Meeks Cutoff" ist kein klassischer Western. Ein | |
| > Gespräch über Reisestrapazen, strenge Kopfbedeckungen und die Stille der | |
| > Wüste. | |
| Bild: Tödliche Schönheit: Die Wüste ist ein sehr stiller Ort. | |
| taz: Frau Reichardt, "Meek's Cutoff" ist Ihr erster historischer Film. Was | |
| hat Sie am Western-Genre gereizt? | |
| Kelly Reichardt: Zunächst einmal ist meine Perspektive im Vergleich zum | |
| klassischen Western verschoben, weil mein neuer Film die Besiedlung | |
| Nordamerikas aus der Sicht von Menschen zeigt, die keine Verfügungsgewalt | |
| haben. Jon Raymond [der Drehbuchautor, Anm. der Red.] war zufällig auf die | |
| wahre Geschichte von Stephen Meek gestoßen, und ich finde, sie besitzt | |
| immer noch - oder gerade wieder - eine brennende Aktualität. | |
| Meek ist ein Anführer, der eine Gruppe Menschen in die Wüste führt, ohne zu | |
| wissen, was er eigentlich tut; gleichzeitig gibt es die Siedler, die ihrem | |
| Anführer zu misstrauen beginnen, obwohl ihr Leben von ihm abhängt. Auch das | |
| Thema Wasser als lebenserhaltende Ressource und die Umweltfragen, die im | |
| Film anklingen, besitzen heute wieder eine Relevanz. | |
| Die Siedlertrecks über den Oregon Trail dienten Mitte des 19. Jahrhunderts | |
| dazu, um den pazifischen Nordwesten Amerikas, der vor allem von Briten | |
| bewohnt war, mit "Amerikanern" aus dem Osten zu besiedeln. Steckt im Bild | |
| von der Nation im Zustand der Identitätsfindung heute Aktualität? | |
| Wenn man die Tagebücher der Siedler liest, bekommt man einen Einblick in | |
| die tiefe Religiosität dieser Menschen. Sie sind in den Westen | |
| aufgebrochen, ohne zu ahnen, was sie dort erwartet - weil sie Gott auf | |
| ihrer Seite wähnten. Darin klingt schon der amerikanische Anspruch an, dass | |
| die Eroberung des Landes im Einklang mit Gottes Wille stehe. Es ist eine | |
| sehr verzwickte Erzählung. Einerseits behandelt mein Film die Ausbeutung | |
| des Landes und seiner Vergangenheit; andererseits erzählt er auch eine | |
| heroische Geschichte. | |
| Der Eindruck, den man aus den Tagebüchern der Siedlerinnen gewinnt, | |
| unterscheidet sich gravierend von dem Bild, das der Western uns als | |
| Filmgenre vermittelt. Das Leben dieser Menschen war ein zähes, langwieriges | |
| Unterfangen. Die Tagebücher beschreiben auch die unglaubliche Monotonie, | |
| dieses riesige Land zu durchqueren. | |
| Was Ihr Film eindrucksvoll schildert. "Meek's Cutoff" verfällt fast in | |
| einen Trancezustand. Menschen marschieren durch die Wüste oder sitzen am | |
| Lagerfeuer, Wagenräder werden umständlich gewechselt. Die Szene, in der | |
| Michelle Williams zwei Warnschüsse abgibt, dauert gefühlte zwei Minuten. | |
| Die Vorstellung von Zeit war damals noch völlig anders. Das Leben war | |
| insgesamt viel arbeitsintensiver, jede Handlung kostete enorm viel Zeit. Je | |
| länger ich über diesen Umstand nachdachte, desto klarer wurde mir, dass die | |
| Langsamkeit und die Ausdauer eine ganz eigene Spannung in sich bergen, | |
| Topoi, die dem klassischen Western für gewöhnlich fehlen. | |
| Ging es Ihnen darum, die traditionelle Rhetorik des Western gezielt zu | |
| untergraben oder hält sich Ihr Film einfach nur eng an die Tagebücher der | |
| Siedler und Siedlerinnen? | |
| Viel von "Meek's Cutoff" ist bereits in Jon Raymonds Skript angelegt. Für | |
| mich lag die Herausforderung darin, aus dem Alltag, den Jon beschreibt, | |
| einen eigenen filmischen Rhythmus zu entwickeln. Zu Beginn der Reise sind | |
| die Tagebücher noch poetisch, es wird viel von Gottes Land und all diesen | |
| großen Idealen gesprochen. An dem Zeitpunkt, wo der Film einsetzt, als der | |
| Treck längst vom Weg abgekommen ist, sind die Menschen schon zu Tode | |
| erschöpft, und die Tagebücher bestehen nur noch aus knappen Aufzählungen | |
| von Arbeitsabläufen. Als ich diese Passagen las, wusste ich, was für einen | |
| Film ich machen wollte. | |
| Sie haben "Meek's Cutoff" nicht in Widescreen gedreht, sondern im beinah | |
| schon historischen Academy-Format. Das setzt Ihre Figuren in ein ganz | |
| anderes Verhältnis zur Landschaft als der klassische Western. | |
| Für mich war es wichtig, den Zuschauern zu verstehen zu geben, dass ein | |
| Mensch mit den damaligen Mitteln gerade zwölf Meilen pro Tag vorankam. Mit | |
| Cinemascope kann man sozusagen schon in das Morgen beziehungsweise zurück | |
| ins Gestern blicken. Ich aber wollte mich voll und ganz auf die Menschen im | |
| Jetzt konzentrieren. Die schmalere, fast quadratische Kadrage | |
| versinnbildlicht für mich auch die Sicht der Frauen unter ihren großen | |
| Hauben, die keine periphäre Sicht erlaubten. | |
| Ich war sehr beeinflusst durch Robert Adams' Fotografien vom modernen | |
| amerikanischen Westen, für die er oft quadratische Einstellungen benutzte, | |
| um mehr mit dem Vordergrund zu arbeiten. Im gewisser Weise verliert man | |
| beim Widescreen-Format Informationen an den Rändern. | |
| Mich hat besonders die Solidarität unter den Frauen bewegt. Die Frauen | |
| laufen meist zusammen, nicht mit ihren Männern. | |
| Diese Nähe zwischen den Frauen war eine Konsequenz der strikten | |
| Arbeitsteilung im Treck. Die Männer waren in erster Linie damit | |
| beschäftigt, die Wagen zu lenken. Für mich als Western-Fan war es | |
| aufregend, Einblick in die weibliche Sicht dieser Epoche zu bekommen. Die | |
| Frauen haben diese beschwerliche Reise auf sich genommen, ohne ein | |
| wirkliches Mitspracherecht zu haben. Aus den Tagebüchern geht jedoch | |
| hervor, dass sie in den Zelten mit ihren Ehemännern Politik gemacht haben. | |
| Das war, wenn sie so wollen, ihr Machtbereich. | |
| Der Umgang der Männer mit ihren Frauen ist interessant. Er ist respektvoll | |
| und sehr formal. Hatte das etwas mit der Religion zu tun? | |
| Ich denke schon. Die Frauen haben ihren Ehemann meist beim Nachnamen | |
| angesprochen, das war normal. Man darf aber nicht vergessen, unter welch | |
| widrigen Umständen diese Trecks stattfanden. Das war auch eine sehr formale | |
| Angelegenheit, bis hin zur Kleidung. Die Leichtigkeit der Reise liegt eher | |
| in der Freundschaft unter den Frauen. Ich erinnere mich an den Eintrag | |
| einer Frau, die schreibt, dass sie ihr eigenes Tagebuch unter anderem | |
| deshalb führt, falls ihr Mann sie eines Tages besser kennenzulernen | |
| wünsche. Das fand ich einfach unglaublich. | |
| All ihre Filme sind im Grunde gescheiterte Roadmovies. Menschen kommen vom | |
| Weg ab, bleiben stecken oder finden ihr Ziel nicht. Es gab eine Zeit, da | |
| war das Roadmovie noch positiv konnotiert, als Genre der Selbstfindung. | |
| Ja, aber das ist lange her. Was derzeit in Amerika passiert, stimmt mich | |
| nicht gerade optimistisch. Die Menschen sind in ihrer Hoffnung auf einen | |
| etwas demokratischeren Präsidenten maßlos enttäuscht worden. Das Roadmovie | |
| ist immer auch ein Spiegel seiner Zeit. Wenn du früher einen Trip durch die | |
| USA gemacht hast, besaß jeder Bundesstaat noch seine eigene Identität. Es | |
| gab regionales Essen, lokale Radiostationen etc. Heute sehen die | |
| Stadtbilder überall gleich aus, ein Taco Bell reiht sich an den nächsten. | |
| Diese Uniformität ist nicht nur in den USA zu beobachten. Die Orte | |
| verlieren allmählich ihren Charakter, ihre Spezifität. | |
| Ihre Filme dagegen zeigen diese verlorenen Orte mit einer Genauigkeit, die | |
| man schon politisch nennen könnte. Ein durchschnittliches Kleinstadtnest | |
| wie in "Wendy und Lucy" mit seinen ewig gleichen Straßenzügen aus | |
| Gebrauchtwarenhändlern, Autowerkstätten und Einkaufszentren kriegt man | |
| heute im amerikanischen Independentkino kaum noch zu sehen. | |
| Die Genauigkeit ist eine Frage der Recherche. Ich bin für jeden Film über | |
| Monate herumgereist, um - wie im Falle von "Old Joy" - die besten heißen | |
| Quellen oder für "Wendy und Lucy" den richtigen Parkplatz zu finden. | |
| Location Scouting ist der längste und zermürbendste Teil meiner Arbeit. | |
| Aber je mehr man die Drehorte eingrenzt beziehungsweise eliminiert, desto | |
| spezifischer wird auch das Bild von dem Ort, der einem vorschwebt. Dieser | |
| Aspekt meiner Arbeit ist dann wiederum hilfreich beim Ausarbeiten der | |
| Geschichte. | |
| Haben die Orte auch einen Einfluss auf das Sounddesign ihrer Filme? In | |
| "Meek's Cutoff" arbeiten Sie oft mit Totalen, und interessanterweise nimmt | |
| die Tonspur ebenfalls die gesamte Geräuschkulisse der Einstellung auf, so | |
| dass von den Gesprächen in der Distanz oft nur ein Murmeln zu vernehmen | |
| ist. | |
| Die Wüste ist ein sehr stiller Ort. Manchmal saß unser Tonmann stundenlang | |
| herum, ohne dass sich die Nadel seiner Messgeräte auch nur einen Millimeter | |
| rührte. Wir haben uns lange überlegt, wie wir diese Stille im Film | |
| rüberbringen könnten, ohne dass der Film komplett geräuschlos wird. Am Ende | |
| haben wir uns dazu entschlossen, den Ton mit Boom-Mics aufzunehmen, was die | |
| Stimmen etwas dumpfer macht, dafür aber die Umweltgeräusche voll erfasst. | |
| Ich erinnere mich an den Dreh in der Salzebene, einer zentralen Szene für | |
| die Männer. Doch die werden nur in der Rückansicht gezeigt, während die | |
| lauschenden Frauen in Nahaufnahmen zu sehen sind, obwohl sie gar keine | |
| Dialoge haben | |
| Auch bei solchen ästhetischen Erwägungen geht es mir immer darum, die | |
| Perspektive meiner Figuren zu verdeutlichen. Die Frauen sind von den | |
| Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, sie müssen die Männer angestrengt | |
| belauschen. Ich will die Zuschauer an dieser Perspektive teilhaben lassen. | |
| 10 Nov 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Busche | |
| ## TAGS | |
| Montana | |
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