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# taz.de -- Angst vor dem Verfolger: "Und dann ist er wieder da"
> Andrea Schultz berät Frauen, die von Stalkern bis in die letzte Ecke
> ihres Lebens verfolgt werden. Die Mittel der Täterinnen und Täter reichen
> von Rosen jeden Freitag bis zu Morddrohungen. Die Opfer leben häufig in
> völliger Isolation und Hoffnungslosigkeit
Bild: StalkerInnen sollen künftig einfacher vor Gericht gestellt werden können
taz: Der unbekannte Verfolger, der einer völlig verängstigten Frau
nachstellt - das kennen wir alle aus dem Fernsehkrimi. Wie sieht denn
Stalking im echten Leben aus, Frau Schultz?
Andrea Schultz: Interessanterweise ist da auch bei den Betroffenen die
Unsicherheit groß: "Werde ich überhaupt gestalkt?" Das höre ich bei der
Beratung immer wieder. Manche Frauen kommen mit Taschen voller Dokumente
und wollen mir beweisen, dass sie tatsächlich verfolgt werden. Aber mir
muss niemand etwas beweisen. Ich glaube den Frauen.
Gibt es Fälle, bei denen die Verfolgung nur eingebildet ist?
Ganz selten - und das merke ich ziemlich rasch im Gespräch. Wenn sich eine
Frau von allen schwarzhaarigen Busfahrern Berlins beobachtet fühlt, dann
ist das sicher kein Stalking.
Wo fängt Stalking an?
Im Englischen leitet es sich von dem Wort "nachschleichen" oder
"anpirschen" ab. Nach meiner Definition ist Stalking ein Verbrechen, bei
dem eine Person gegen meinen Willen ständig in meinem Leben präsent ist.
Ein Beispiel bitte …
Wenn ein Expartner einige Wochen lang versucht, den anderen mit
verschiedenen Mitteln zurückzugewinnen, dann mag das normal sein. Aber
irgendwann ist eine Grenze erreicht. Wenn Frauen unmissverständlich sagen,
ich will keinen Kontakt mehr, und der andere hört trotzdem nicht auf, dann
ist das Stalking.
Also sind es vor allem verletzte Männer, die ihre Expartnerin stalken?
Keineswegs. Es gibt auch Männer, die gestalkt werden. Wir beraten hier aber
nur Frauen. Ich habe Fälle, da werden Frauen von ihrer Expartnerin, von den
Schwiegereltern, der Mutter, der Professorin, von Arbeitskollegen oder
Bekannten aus dem Fitnessstudio belästigt.
Und von Fremden?
Das ist sehr selten. Aber manchmal haben die Frauen lange Zeit keine
Ahnung, wer sie stalkt. Sie finden zum Beispiel immer wieder
Zigarettenasche vor der Tür und wissen, da hat nachts jemand vor meiner
Wohnung geraucht. Ganz bedrohlich wird es, wenn sie merken, da war einer in
meiner Wohnung, hat vielleicht sogar in meinem Bett gelegen. Ich kenne
einen Fall, da hat der Stalker immer wieder benutzte Damenbinden auf den
Küchentisch gelegt. Das schürt solche Angst - irgendwann sieht die Frau in
allem eine Nachricht des Stalkers.
Gilt das nicht auch für Sie? Schließlich beschäftigen Sie sich jede Woche
mit Stalking.
Ich glaube, mir könnte man etwas auf den Schuh kleben, und ich würde es
übersehen.
Sie wurden noch nie gestalkt?
Doch. Einmal hat sich eine Stalkerin auf mich verlagert. Diese Professorin,
die ihre Studentin verfolgt hat, rief irgendwann hier an: "Sie haben aber
eine nette Telefonstimme". Und dann stand sie plötzlich in der
Beratungsstelle. Mich erschreckt das nicht, ich kann mich gut abgrenzen.
Aber die Frauen, die ich berate, werden über Monate oder sogar Jahre
verfolgt. Sie sind dadurch verunsichert, klein, zermürbt, zerbrochen und
krank.
Gibt es typische Stalkingopfer?
Es kann prinzipiell jeden treffen. Das sehen Sie doch an den Stars: Ich
glaube nicht, dass Michelle Hunziker oder Emma Watson die typischen Opfer
sind. Aber Menschen, die sich schwer abgrenzen können, sind eher betroffen.
Wenn zum Beispiel eine Frau von ihrem Expartner gestalkt wird, dann lag
häufig schon in der Beziehung etwas im Argen. Da musste die Frau die
Handtücher bügeln und genau auf Kante im Schrank platzieren, durfte ihre
beste Freundin oder ihre Eltern schon Jahre nicht mehr besuchen. Und am
Ende der Beziehung sagt der Partner: "Wenn ich dich nicht haben kann, soll
dich keiner haben". Dann wird es gefährlich.
Wie gefährlich?
Das ist unterschiedlich. Alle gestalkten Frauen stehen unter enormem
Leidensdruck, werden zumindest psychisch misshandelt. Lebensbedrohlich sind
die Stalker mit ansteigendem Gewaltpotenzial. Die fangen an, Briefchen zu
schreiben, anzurufen, die Tür einzutreten, die Katze an den Baum zu nageln,
das Auto zu zerstören. Das ist nicht zu unterschätzen.
Sie bieten eine regelmäßige Stalkingberatung an, außerdem den Austausch in
einer Selbsthilfegruppe und Informationsabende. Wie viele Frauen kommen
denn jeden Monat?
Um die fünf. Manche kommen nur ein einziges Mal, andere in unregelmäßigen
Abständen immer wieder. Bei vielen ist die Hemmschwelle aber sehr hoch.
Die Frauen schämen sich?
Ja. Viele haben die Erfahrung gemacht, dass ihr eigenes Umfeld, die Polizei
und Anwälte ihnen nicht glauben. Oder sie bekommen Sachen zu hören wie:
"Freu dich doch, wenn du jeden Freitag Rosen geschickt bekommst." Es ist
dann ein absolutes Aha-Erlebnis, wenn ich sage: "Das, was mit Ihnen
passiert, ist Stalking, und das ist ein Verbrechen."
Welche Möglichkeiten haben die Frauen?
Seit 2007 ist Stalking ein eigener Tatbestand im Strafgesetzbuch, und die
Täter können belangt werden. Aber bis das greift, ist es ein sehr langer
Weg. Ich rate den Frauen, die Belästigungen genau zu dokumentieren, um sie
vor der Polizei oder vor Gericht als Belege anführen zu können. Das ist
schwer, weil die Frauen ja gerade nicht ständig an die Verfolgung denken
wollen. Aber so kann man ein Näherungsverbot erwirken, bei stärkeren
Bedrohungen sogar eine Gefängnisstrafe für den Täter.
Reicht das aus, um die Täter abzuschrecken?
Wenn alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, ist das schon gut.
Aber letzten Endes kann man verbieten, einsperren - und dann? Nach zwei bis
drei Jahren kommt der Täter wieder raus und hatte viele Tage Zeit, um sich
zu überlegen, was er als Nächstes macht.
Was bleibt dann noch: untertauchen?
Zum Beispiel. In einigen besonders schweren Fällen hat man die Frauen
"sterben" lassen. "Social death" nennen wir das: Alle Spuren einer Person
werden verwischt, und sie zieht in eine andere Stadt. Mir stellt sich da
die Frage: Was macht eine Hartz-IV-Empfängerin mit vier Kindern - die kann
nicht einfach umziehen. Und häufig findet der Stalker eine Lücke: Irgendwo
in der Korrespondenz mit Anwälten und Gerichten taucht doch die neue
Adresse auf. Und dann ist er wieder da.
Das klingt verdammt hoffnungslos.
Für viele fühlt es sich auch genauso an. Es gibt Frauen, die kriechen nur
noch durch die Wohnung aus Angst, beobachtet zu werden. Tragen Kopfhörer,
um das Telefon nicht mehr zu hören. Sie entwickeln massive Ängste, reden
mit niemandem mehr. Viele denken an Selbstmord. Manche gehen zu ihren
stalkenden Expartnern zurück.
Tatsächlich? Weil die Bedrohung dann beherrschbarer erscheint?
Richtig. Eine Partnerschaft mit Gewalt oder Erniedrigung erscheint diesen
Frauen erträglicher, als jeden Tag darauf zu warten, dass der Stalker an
der nächsten Hausecke steht. Mein Ziel ist es, dass die Frauen sich
irgendwann fragen: "Moment mal! Was lasse ich da eigentlich mit mir
machen?" Das ist der erste Schritt.
Wütend werden auf den Stalker?
In gewisser Weise. Viele Frauen fühlen sich im wahrsten Sinne des Wortes
wie das Kaninchen vor der Schlange. Nur einmal stand bei einer
Veranstaltung eine Frau auf und fragte, wo sie eine Pistole kaufen kann, um
sich zu schützen. Aber das ist natürlich keine Lösung.
Was raten Sie den Frauen stattdessen?
Aus der Isolation heraustreten, sich das Umfeld ins Boot holen. Man kann
beim Fitnessstudio sagen: "Wenn dieser Typ kommt, ruft die Polizei." Oder
mit Nachbarn, dem Arbeitgeber, den Kollegen sprechen. Ich entwerfe mit
jeder Frau eine Strategie: Was passiert zum Beispiel mit der Post? Die muss
jemand kontrollieren, um ein steigendes Gewaltpotenzial des Täters zu
erkennen. Aber das kann eine Freundin übernehmen. Im Zweifel machen wir
das.
Sie beschäftigen sich hauptsächlich mit der Perspektive der Gestalkten.
Spielen der Täter und seine Motive überhaupt keine Rolle?
Ich versuche im Gespräch schon herauszubekommen, wie der tickt. Aber nur,
um zu beurteilen, wie gefährlich er werden kann. Ansonsten gibt es für
Stalker extra Beratungsstellen, auch hier in Berlin. In Nürnberg hat man
gute Erfahrungen damit gemacht, die Täter aufzusuchen und mit ihnen zu
reden, weil manchen offensichtlich gar nicht klar ist, was sie anrichten.
Aber die, deren Lebensziel das Stalking ist, die erreicht man damit nicht.
Ich muss an den französischen Film "Wahnsinnig verliebt" aus dem Jahr 2002
denken. Der erste Teil zeigt die Perspektive einer jungen Frau - wie sie
immer wieder abgewiesen und verletzt wird. Im zweiten Teil offenbart sich,
dass sie eine Stalkerin ist und einen Mann verfolgt, der ihr nie Anlass zur
Hoffnung gegeben hat. Aber sie wertet zufällige Zeichen als
Liebesbekundungen.
Das ist ganz typisch. So denken die Stalker: Wenn sie heute den grünen
Schal trägt, dann ist das ein Zeichen, dass sie an mich denkt. Wenn Guido
Westerwelle im Fernsehen die rechte Hand hebt, dann liebt er mich noch. Und
so weiter.
Das ist doch eine psychische Erkrankung!
Ich wehre mich dagegen, das als Krankheit abzutun und den Stalkern damit
eine gewisse Schonung einzuräumen. Stalking ist eine Straftat. Die
Leidtragenden sind die Gestalkten.
Haben Sie Angst um die Frauen, die Sie beraten?
Bei mindestens einer weiß ich: Wenn der Kerl sie erwischt, dann kann alles
passieren.
Wie viel von diesen Schicksalen nehmen Sie nach der Arbeit mit nach Hause?
Manchmal denke ich noch in der U-Bahn darüber nach, was sich manche Stalker
einfallen lassen. Aber wenn ich Friedrichshain hinter mir lasse, vergesse
ich das. Sonst könnte ich den Job nicht mehr machen.
Melden sich die Frauen bei Ihnen, wenn es ein Happy End gibt?
Manchmal bekomme ich einen Anruf: "Er hat eine neue Freundin, es ist
vorbei." Dann sage ich "Gratuliere". Leider bedeutet das häufig, dass der
Stalker ein neues Opfer gefunden hat.
10 Nov 2011
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Stalking
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