# taz.de -- Ureinwohner in Indien: Avatar in echt | |
> Im ostindischen Dschungel wehren sich die Ureinwohner vom Volk der | |
> Dongria Kondh gegen einen Rohstoffkonzern. Dank Hollywood haben sie | |
> Chancen. | |
Bild: Angehörige des Volkes der Dongria Kondh in den Niyamgiri Bergen. | |
Die Anreise aus Delhi ist anstrengend und dauert zwei Tage: Flug, | |
Überlandfahrt, Berg- und Dschungelwanderung. Erschöpft erreichen | |
Fotografin, Übersetzer und Reporter das kleine Dorf Lakpadar in den | |
Niyamgiri-Bergen im ostindischen Bundesstaat Orissa. | |
Die indische Schriftstellerin Arundathi Roy hat vermittelt und den Empfang | |
möglich gemacht. Dorfchef Sikoka Laddo wartet schon: "Wie lange habt ihr | |
gebraucht?", fragt er. "Zwei Tage!", antwortet Patra, der Übersetzer. "Ich | |
dachte, ihr braucht zwei Monate", erwidert Laddo. | |
Willkommen in einem anderen Zeitalter! Zu Fuß sind es zwei Monate von Delhi | |
nach Lakpadar. So hat Laddo gerechnet, denn er geht nur zu Fuß. Er braucht | |
kein Flugzeug, kein Auto, kein Gewehr und keinen Strom. Ohne alle | |
Errungenschaften der Zivilisation, nur von den Früchten des Waldes lebt er | |
in den Bergen. Laddo steht dazu: "Wir sind glücklich", sagt er über das | |
Dasein im Dschungel. | |
Laddo ist ein groß gewachsener Mann, den Oberkörper trägt er meist frei, | |
seine lockigen schwarzen Haare als Pferdeschwanz. Er ist nicht nur der | |
Häuptling, er ist der Held eines indischen Ureinwohnervolkes, der Dongria | |
Kondh. Seit Jahren führt er einen Dschungelkrieg gegen den Bergbaukonzern | |
Vedanta, der unten im Tal eine Fabrik für die Aluminiumproduktion gebaut | |
hat, die Vedanta mit Bauxit aus den Niyamgiri-Bergen füttern will. | |
## Immer kampfbereit | |
Doch das Abbaugebiet liegt genau unter den Gipfeln, die den Dongria Kondh | |
heilig sind. Deshalb sind Laddo und sein kleines Volk mit 10.000 | |
Angehörigen stets kampfbereit. "Gut, dass du angemeldet bist", sagt Laddo | |
zum Reporter. "Wen wir nicht kennen, den zerreißen wir in Stücke." | |
Das ist kein Spaß. Schon seit Jahren traut sich kaum ein Fremder mehr in | |
die Wälder der Niyamgiri-Berge. Denn die Dongria Kondh sind bewaffnet: Die | |
Männer mit Pfeil und Bogen, die Frauen mit Buschmessern. Die Bögen sind | |
klein wie Kinderspielzeug, die Buschmesser haben lose, nicht verschraubte | |
Griffe. Doch das reicht zur Abschreckung. Der Dschungel ist voller Gerüchte | |
von zerstückelten Vedanta-Angestellten. Laddo ahmt tonlos einen Pfiff nach, | |
mit dem er sein Volk zum Kampf aufruft. "Der Pfiff bedeutet Menschjagd", | |
raunt Patra. | |
Doch derzeit herrscht Frieden in den Niyamgiri-Bergen. In Delhi verhandelt | |
dieser Tage der Oberste Gerichtshof über das Schicksal von Laddos Volk. Im | |
Namen des Vedanta-Konzerns klagt dort die Regierung des Bundesstaates | |
Orissa gegen das indische Umweltministerium. Vedanta, einer der größten | |
Rohstoffkonzerne der Welt, geführt von dem indischen Milliardär Anil | |
Agarwal, wird von einer mächtigen Businesslobby unterstützt. Viele | |
Unternehmen sehen die Dongria Kondh als bedeutenden Präzedenzfall. | |
Denn seit 2008 gibt es in Indien ein neues Waldgesetz, das Ureinwohnern des | |
Dschungels, die sich noch von der unberührten Natur ernähren, Besitzrechte | |
an ihren Wäldern sichert. Aufgrund dieses Gesetzes hat das | |
Umweltministerium seit 2010 alle Bauvorhaben in den Niyamgiri-Bergen | |
untersagt. Ein Novum. Doch selten haben Umweltschützer in Indien das letzte | |
Wort. "Wenn das Minenprojekt in den Niyamgiri-Bergen genehmigt wird, wäre | |
es das bislang stärkste Signal dafür, dass Indien Entwicklung und | |
Arbeitsplatzbeschaffung genauso ernst nimmt wie seine Bedürfnisse im | |
Umweltschutz", rät ein Aktienstrategiepapier der Deutschen Bank vom 30. | |
Juni dieses Jahres. Noch sind die Konzerne guter Hoffnung. | |
## Jäger und Sammler | |
Laddo ahnt das. "Wir haben nicht gefeiert", sagt er über den Beschluss des | |
Umweltministeriums vom vergangenen Jahr. "Ihre Fabrik steht noch. Sie | |
werden wiederkommen", warnt er sein Volk. Doch erst einmal geht das Leben | |
weiter. | |
In Lakpadar lebt Laddo in einer niedrigen, brusthohen Hütte mit seiner Frau | |
und zwei Kindern. Frühmorgens vor Sonnenaufgang kocht sie ihm Hirse über | |
einer einfachen, nur von zwei Steinen begrenzten Feuerstelle. Draußen ist | |
es feucht und kühl. Die Monsunzeit währt hier bis weit in den Herbst hinein | |
und weicht die Böden auf. Barfuß zieht Laddo mit fünf Männern los, um | |
Brennholz zu schlagen. Mit Äxten auf den Schultern brechen sie in den | |
Dschungel auf. "Brüder, lasst uns in die Berge zum Arbeiten gehen", lautet | |
der Refrain ihres Liedes, das sie bei ihrem Marsch über enge Pfade singen. | |
Bald haben sie ein Stück Wald gefunden, das sie mit ihren Äxten bearbeiten. | |
Winzig und hilflos wirkt die Gruppe vor dem hochgewachsenen Gestrüpp des | |
Dschungels. Den Männern helfen weder Motorsäge noch Freischneider. Und doch | |
kommen sie erstaunlich schnell vorwärts. Bald liegt ein großer Holzstapel | |
vor ihnen, stehen mitten im Wald plötzlich Zitronenbäume, Bambus und | |
Heilpflanzen frei. Ihre Früchte und Blätter ernten später die Frauen. | |
Die Dongria Kondh sind Jäger und Sammler und leben noch fast wie in der | |
Steinzeit. Von Ackerbau, Schulen und Geld wollen sie nichts wissen. | |
Allerdings soll man das nicht schreiben, sagen ihre Unterstützergruppen in | |
Delhi oder London, weil es das Vorurteil stütze, die Bergbewohner seien | |
primitiv und zurückgeblieben. Solche Vorteile hätten schon oft zur | |
Vertreibung von Ureinwohnern geführt. Doch die Zeiten ändern sich. Gerade | |
die Unverfälschtheit ihrer Urwaldtraditionen verleiht den Dongria Kondh | |
heute eine besondere Ausstrahlung - weit über die Niyamgiri-Berge hinaus. | |
Kein Geringerer als Rahul Gandhi, Generalsekretär der in Delhi regierenden | |
Kongresspartei und potenzieller Nachfolger des alternden indischen | |
Regierungschefs Manmohan Singh, nahm sich zuletzt ihrer Sache an. Zweimal | |
schon besuchte der Enkel des Republikgründers Jawaharlal Nehru den | |
Urwaldhäuptling Laddo. Nie zuvor wagte ein Führer der Kongresspartei eine | |
solche Annäherung an Indiens Ureinwohner. | |
## Gandhi hängt an der Wand | |
Gandhi bewirkte auch den Baustoppbeschluss des Umweltministeriums. Sein | |
Foto mit den Kindern des Dorfes, die viele Ohren- und Nasenringe tragen, | |
hängt heute unter dem Vordach einer Hütte in Lakpadar. Das Foto ist in ganz | |
Indien bekannt. Es schmückte die Titelseiten fast aller Zeitungen. Daneben | |
standen Schlagzeilen, die Gandhi als "Indiens Avatar" priesen. | |
Denn ausgerechnet Hollywood war den Ureinwohnern zur Hilfe gekommen. Der | |
Film "Avatar", der weltweit größte Kassenschlager aller Zeiten, erzählt | |
seit seiner Premiere im Dezember 2009 die Geschichte der Na'vi, eines | |
Waldvolks auf einem fernen Planeten, das sich im 22. Jahrhundert der | |
rohstoffgierigen Menschheit und ihrer Bulldozer erwehren muss - ganz | |
ähnlich wie die Dongria Kondh heute. Das Hollywood-Drehbuch wurde | |
schließlich auch in Anlehnung an das Schicksal der indischen Ureinwohner | |
geschrieben. Weshalb Avatar in Indien ein großes Publikum fand - gerade als | |
der Konflikt zwischen Vedanta und den Bewohnern der Niyamgiri-Berge sich | |
zuspitzte. | |
Gandhi trieb auch das Kalkül des Wahlmanagers seiner Partei. Zwar sind die | |
Dongria Kondh ein kleines Volk, das nicht zur Wahl geht. Doch leben in | |
Indien immer noch 84 Millionen Ureinwohner, über 8 Prozent der Bevölkerung, | |
die traditionell nichts mit Hinduismus, Islam und der indischen | |
Mainstreamkultur zu tun haben. Dort, wo sie wählen, gingen ihre Stimmen | |
früher meist an die Kongresspartei, weil die unter Nehru entstandene | |
Verfassung ihnen viele Minderheitsrechte sicherte. Doch diese Rechte zählen | |
heute nicht mehr viel. | |
Zahlreiche Ureinwohnerstämme haben sich deshalb auf die Seite der | |
maoistischen Guerilla in Indien geschlagen und kontrollieren mit ihr im | |
Osten des Landes riesige Waldgebiete, eines davon so groß wie Österreich. | |
Insofern war es für die Kongresspartei höchste Zeit, wieder den Draht zu | |
ihrer alten Klientel aufzunehmen. | |
Laddo aber wollte erst gar nichts von Gandhi wissen. Erst Patra, der | |
Übersetzer, der lange Jahre um das Vertrauen der Dongria Kondh warb und | |
ihre Sprache erlernte, konnte den Stammesführer überzeugen, dass man die | |
ausgestreckte Hand eines Nehru-Enkels in Indien nicht ausschlagen darf. | |
Schließlich verstand Laddo. "Wir werden alle sterben, wenn du nicht für uns | |
kämpft", sagte er zu Gandhi bei dessen letztem Besuch. | |
## Der Hausbergdrache | |
Das Misstrauen aber ist geblieben. Zwar liegt die Vedanta-Fabrik im Tal | |
heute still wie ein schlafender Drache vor seinem Hausberg. Tausende von | |
Saisonarbeitern haben die Gegend verlassen. Den Ureinwohnern ist die Fabrik | |
ein ständiges Mahnmal für die Bedrohung ihrer Existenz. "Wenn Vedanta zu | |
uns kommt, bin ich bereit, zu töten und zu sterben", sagt Sikoka Kunji, die | |
Nachbarin Laddos in Lakpadar. Sie sitzt friedlich vor ihrer Hüttentür und | |
siebt wilde Hirse. | |
Drei goldene Ringe glänzen in ihrer Nase, nur ein lockeres Tuch umhüllt | |
ihren Körper. Sie erzählt von ihren Kindern, die sie lieber nicht auf die | |
Schule ins Tal schickt. "Dort liefert Vedanta das Schulessen", sagt Kunji. | |
Für die Zukunft wünscht sie sich ein ungestörtes Leben: "Ich wünsche mir | |
kein Geld, das würde nur Ungleichheit schaffen", sagt sie. Ganz bewusst | |
lehnen die Dongria Kondh die Errungenschaften der Zivilisation ab. Auch | |
wegen "Avatar" verstehen das immer mehr Menschen. Nur vor Gericht zählt das | |
nicht. | |
Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, der zum ersten Mal das neue | |
Waldgesetz auslegt, wird in den nächsten Monaten erwartet. Ausgang | |
ungewiss. Doch Laddo wartet nicht allein auf ein Happy End. Sondern ein | |
Gandhi mit ihm. | |
11 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Georg Blume | |
## TAGS | |
Aluminium | |
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