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# taz.de -- Der Traum von einem EU-Pass: Das Leben einer anderen
> Viel hat Sofia gegeben, um an einen EU-Pass zu kommen. Geld, ihren Namen.
> Nun hat sie eine neue Existenz. Wie für die Albanerin der Traum zum
> Albtraum wurde.
Bild: Was macht das mit einer Frau, wenn sie ihre Lebensgeschichte fälscht?
BRÜSSEL taz | Wenn sich eine Mutter den Hochzeitstag ihrer Tochter
vorstellt, dann träumt sie meist von einem schönen Tag. Einem Tag voller
Stolz und Freude. Sofia* aber fürchtet keinen Tag so sehr wie diesen,
obwohl ihre Tochter gerade erst zehn Jahre alt ist. "Was könnte ich den
Schwiegereltern erzählen? Dass ich keine Ahnung habe von der Kultur meines
Heimatlandes? Dass ich nicht weiß, was man zur Hochzeit kocht und welche
Musik gespielt wird?" Die zierliche Frau von Mitte 30 schüttelt den Kopf
und sagt: "Das geht doch alles nicht."
Sofia verschweigt ihren echten Vornamen nicht nur der Reporterin. Ihr
ganzes Leben in der belgischen Hauptstadt ist ein Lügenkonstrukt.
Identität, Name - alles falsch. An diesen Lügen, so fürchtet die Mutter,
wird sie spätestens bei der Hochzeit ihrer Tochter zerbrechen. "Ich kann
jemand anders sein, wenn ich einkaufen oder putzen gehe, aber nicht, wenn
meine Tochter zum Altar geführt wird!"
Wenn man Sofia durch die Brüsseler Straßen gehen sieht, ist sie vor allem
eins: unauffällig. Sie trägt eine Jeanshose, eine dunkelgrüne Bluse und
einen halblangen grauen Mantel. Ihre Schritte sind schnell, aber nicht
hastig. Sie grüßt hin und wieder mit einem knappen "Bonjour" die Leute aus
der Nachbarschaft. Sie wirkt wie eine Zugereiste, die sich angepasst hat.
Sofia ist keine "normale" Einwanderin. Sie stammt aus Albanien. Im März
1998 ist sie von dort gemeinsam mit ihrem Mann geflohen. "Unser Land war
nach dem Bürgerkrieg völlig zerstört. Wir sahen dort keine Zukunft mehr für
uns. Meine Eltern hatten alles verloren, ich war arbeitslos. Wir hatten
keine Hoffnung mehr", berichtet Sofia. Anfang 1997 waren in Albanien
Unruhen ausgebrochen, weil groß angelegte Kreditbetrugsfälle bekannt
geworden waren. Gewalt und Plünderungen erreichten ein solches Ausmaß, dass
die staatlichen Strukturen weitgehend zusammenbrachen. Über 1.000
Todesopfer forderte der Aufstand. Sofia hatte Angst.
Ihre dunklen Augen richten sich ins Nichts, sie verstummt. Nach einer
kurzen Pause nimmt sie den Faden wieder auf: Es sei keine leichte
Entscheidung gewesen damals, aber sie habe etwas machen wollen aus ihrem
Leben, arbeiten, eine Familie gründen. Die ausgebildete Grundschullehrerin
wünschte sich eine Zukunft, weshalb sie und ihr Mann mit den Ersparnissen
ihrer Familien Visa für die Europäische Union erwarben. Jeweils 1.500
Dollar kosteten die, ausgestellt von korrupten Beamten in Albanien.
## Fremd in der Wohnung
In Belgien angekommen, gaben sich Sofia und ihr Mann als Asylbewerber aus.
Erzählten vom Bürgerkrieg, von möglichen Racheakten. Die belgischen
Behörden glaubten dem Ehepaar nicht, es sollte abgeschoben werden. "Ich
kann das verstehen, die Geschichte war erfunden", sagt Sofia. "Aber was
hätten wir machen sollen? Der Wunsch, ein menschenwürdiges Leben zu führen,
zu arbeiten, hätte für das Aufenthaltsrecht nicht gereicht."
Zurück nach Albanien wollte das Paar um keinen Preis. Deshalb ließ es sich
schließlich auf einen Betrug ein. Über Freunde erfuhren die beiden, dass
Konsulatsbeamte in einem südlichen EU-Mitgliedsland falsche Pässe
verkauften. Sie fuhren dorthin und bezahlten ein zweites Mal. Wie viel
genau, will Sofia nicht sagen. Es sei billiger gewesen als in Albanien das
Visum.
Mit den neuen EU-Pässen, in denen ihre Fotos klebten, waren Sofia und ihr
Mann plötzlich EU-Bürger und konnten sich frei bewegen. Aber was wie ein
Traum klingt, wird mit jedem Monat, den das junge Paar in Belgien
verbringt, mehr zum Albtraum. "Ich lebe in der ständigen Angst, entdeckt zu
werden", sagt Sofia. "Ich traue mich nicht, Freundschaften zu schließen.
Selbst in unserer Wohnung fühle ich mich nicht zu Hause. Es ist die Wohnung
einer anderen."
Als Sofia die Haustür aufschließt, schaut sie kurz nach rechts und links,
als wolle sie sich vergewissern, dass niemand sie beobachtet. Ihre Wohnung
liegt im ersten Stock in einem Brüsseler Innenstadtbezirk. Sie ist keine 40
Quadratmeter groß. Im Schlafzimmer steht das Bett ihrer Tochter neben dem
Doppelbett der Eltern. An der Wand darüber hängen einige
Filzstiftzeichnungen der Tochter, mit Reißzwecken an die Tapete gepinnt. Im
Flur ist eine kleine Dusche eingebaut. Im Wohnzimmer hat neben dem Sofa
noch der Esstisch Platz gefunden.
Zwei Fotos von der Tochter und ein Glas mit zwei Goldfischen stehen auf dem
Kaminsims. Daneben an der Wand hängt eine Ölgemälde. Sofia wirft einen
Blick darauf. "Ich weiß nicht, was das für ein Bild ist. Eine Bekannte hat
es mir gegeben." Sie fühlt sich nicht sonderlich wohl in der Wohnung. Eine
Übergangslösung, die zum Normalzustand wurde. Richtig angekommen ist Sofia
nie. Denn nicht nur mit ihrem Ankunftsland Belgien musste sie sich
anfreunden, auch mit ihrem neuen offiziellen Herkunftsland. Dessen Kultur
und Sprache kennt sie kaum, sie spricht sie holprig und fehlerhaft.
## Verlust der eigenen Sprache
Mit ihrer Identität habe sie auch die Selbstachtung verloren, sagt Sofia
und legt kurz ihre Hände übers Gesicht. Sie geht kaum aus, nimmt am
gesellschaftlichen Leben nicht teil. Immer aus Angst, sich nicht zu
verraten. Nur ein paar albanische Familien hat das Ehepaar ins Vertrauen
gezogen. "Aber auch denen traue ich nicht ganz", sagt Sofia. "Vielleicht
verrät uns doch mal jemand aus Neid oder Böswilligkeit."
Ihre eigentliche Heimat muss sie ständig verleugnen, seit ihrer Flucht ist
sie nicht mehr in Albanien gewesen. Doch Belgien ist für Sofia zu einem
Gefängnis geworden, weil ihr EU-Pass längst abgelaufen ist und der Betrug
bei einer Erneuerung sofort auffliegen würde. Immerhin war Sofias Vater im
vergangenen Sommer zu Besuch, weil die Visabestimmungen der Europäischen
Union für Albaner erleichtert worden sind. Außerdem kann sie über Internet
mit ihrer Familie skypen.
Abgesehen davon spricht Sofia nur innerhalb ihrer Wohnung albanisch, mit
ihrem Mann. Der Tochter hat sie nie albanische Bücher vorgelesen oder
Lieder vorgesungen. "Sie sollte sich sicher fühlen. Und sich in der Schule
nicht verplappern."
Kinder sind schlau. Vor einem Jahr fragte das Mädchen plötzlich, warum die
Großeltern in Albanien lebten, wo die Familie doch aus einem anderen Land
komme. Sofia bekam einen Schreck und hat ihre Geschichte erzählt - nicht
bis ins letzte Detail, aber die groben Linien. "Sie weiß jetzt Bescheid.
Das ist eine große Verantwortung, dass sie uns bei ihren Freunden nicht
verrät."
Immerhin hat Sofias Tochter seit ein paar Monaten einen belgischen Pass.
EU-Bürger können schon mit neun Jahren die Nationalität ihres Geburtslandes
annehmen. Das beruhigt Sofia. Denn bisher haben ihre ganzen Versuche, doch
noch legal in Belgien leben zu können, keinen Erfolg gezeitigt. Sie müsste
dafür beweisen können, dass sie bereits mehrere Jahre in Brüssel lebt.
Wegen ihrer falschen Identität gibt es diese Beweise nicht.
Mehrere Anläufe hat Sofia gemeinsam mit ihrer Anwältin Véronique Melis
unternommen. Melis Büro liegt einige Kilometer von Sofias Wohnung entfernt
am anderen Ende der Brüsseler Innenstadt. Melis hat sich auf
Einwanderungsrecht spezialisiert. Sofia hat sie über einen Verein gefunden,
der sich um irreguläre Einwanderer kümmert. Sie haben sich nur ein paarmal
getroffen, weil der Anwältin schnell klar war, dass sie Sofia nicht helfen
kann, weil es keine Beweise für ihren Aufenthalt in Belgien gibt.
## Wer betrügt, fliegt raus
Die Anwältin kennt viele solcher Fälle, Menschen, die unter falscher
Identität in Brüssel leben. "Die Europäische Union kriminalisiert mit ihrer
Abschottungspolitik die Einwanderung. Menschen, die hier leben möchten,
sind geradezu gezwungen, mit mafiösen Netzwerken zusammenzuarbeiten", sagt
Melis, die hinter ihrem massiven Schreibtisch im ersten Stockwerk ihrer
Kanzlei sitzt und ihren Blick über die Aktenberge wandern lässt. "Die
meisten dieser Menschen werden irgendwann verrückt."
Es werde auch immer schwieriger, bei den belgischen Behörden um Verständnis
für die Einwanderer zu werben, fügt Melis hinzu. "Früher fanden es alle
legitim, dass jemand seine Papiere fälscht, um aus einem Land zu fliehen,
in dem ein Genozid droht. Heute findet die EU nichts mehr legitim."
Für Sofia hat sie wenig Hoffnung. 2007 hat Belgien ins Einwanderungsrecht
aufgenommen, dass die Aufenthaltserlaubnis sofort entzogen wird, wenn
auffliegt, dass bei der Erlangung Betrug im Spiel war. Melis weiß, das ist
keine leere Drohung.
Sofia rechtfertigt sich nicht. Sie ist selbst für ihre ausweglose Situation
und ihre Lügen verantwortlich, das weiß sie. Aber sie versteht nicht, warum
es in der EU keine Möglichkeit gibt, einzuwandern, wenn man nicht politisch
verfolgt wird oder von Folter bedroht ist. "Wir wollten nie jemanden
ausnutzen. Wir wollten immer arbeiten. Ich würde so gern in meinen alten
Beruf einsteigen. Warum gibt es in der EU keine Greencard wie in Amerika
oder in Kanada?", fragt Sofia mit einem bitteren Ton in der Stimme.
Mittlerweile spricht sie fast fehlerfrei Französisch. Aber da sie keine
Diplome mit dem falschen Namen vorlegen kann, arbeitet sie als Putzfrau.
Weil die Europäische Union ihre Grenzen so eifrig bewacht, erfinden - so
schätzt Sofia - 70 bis 80 Prozent der Flüchtlinge Geschichten, um Asyl zu
bekommen. "Es bleibt uns nichts anderes übrig."
Sie hat daran gedacht, nach Kanada zu gehen. Aber ihr Mann ist dagegen. Er
habe keine Kraft mehr. Er leide auch weniger unter dem Versteckspiel als
sie.
Manchmal hat Sofia Sehnsucht. Dann möchte sie am liebsten die zwei großen,
weinroten Plastikkoffer packen, die seit ihrer Ankunft vor der Wohnungstür
auf dem Treppenabsatz stehen. Aber sie weiß, dass sie diese Chance verpasst
hat. "Wenn wir zurückgehen, verlieren wir alles - sogar unsere hier
erarbeitete Rente. Und in Albanien würden wir uns genauso fremd fühlen wie
hier."
* Name geändert
15 Nov 2011
## AUTOREN
Ruth Reichstein
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