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# taz.de -- Debatte Rechtsterrorismus: Die Wirklichkeit ist bitter
> Rechtsextreme Gewalt ist in Deutschland keine Ausnahme, sondern Alltag.
> Die Regierung muss dringend ihre Realitätsverweigerung beenden.
Bild: Ein Eigenleben entwickelt? Der Thüringer Verfassungsschutz.
Über 13 Jahre lang konnte eine rechtsextreme Terrorgruppe in Deutschland
ihr Unwesen treiben und dabei neun Menschen brutal ermorden - und zwar
völlig unbehelligt. Das hat in den vergangenen Tagen vielen die Augen
geöffnet. Dennoch bleibt festzuhalten: Rechtsextreme Gewalt ist in
Deutschland keine Ausnahmeerscheinung, sondern Alltag - und zwar seit
langem!
Die plötzlichen und lauten Rufe nach einem Verbot der NPD sind zwar
naheliegend und verständlich, doch die Argumente für ein solches Verbot
gelten nicht nur in Zeiten medialer Hochkonjunktur. Nicht zuletzt, weil es
ein geradezu obszöner und nur schwer zu ertragender Zustand ist, dass der
demokratische Staat seine Feinde selbst finanziert. Denn solange die NPD an
Wahlen in den Kommunen, auf Landes- und auf der Bundesebene teilnimmt, hat
sie Anspruch auf Wahlkampfkostenerstattung, ebenso wie sie auf staatliche
Parteienfinanzierung zählen kann.
## Der Verfassungsschutz garantiert heute den Fortbestand der NPD
So notwendig ein Verbot der NPD ist, so sorgfältig muss ein
Verbotsverfahren vorbereitet sein - und hier liegt das eigentliche Problem:
Das erste Verfahren scheiterte 2003, weil das Bundesverfassungsgericht sich
nicht in der Lage sah, bei Aktivitäten der NPD zu unterscheiden, ob sie dem
originären und selbstmotivierten Handeln von NPD-Funktionären zuzurechnen
waren, oder ob der Staat in Form von V-Leuten des Verfassungsschutzes -
also bezahlten Vertrauenspersonen in der NPD - als agent provocateur in
Erscheinung trat, mithin spiritus rector war. Kurz: Es war nicht erkennbar,
ob rechtsextreme Aktivitäten und Straftaten allein der NPD zuzurechnen
waren oder auch dem Staat.
Die Entscheidung des Gerichts wurde damals heftig kritisiert. Nach dem, was
wir in diesen Tagen über die Verirrungen selbst von Beamten des
Verfassungsschutzes erfahren, bleibt nur zu sagen: Das Gericht hatte mit
seiner damals ungeliebten Entscheidung nicht nur Recht gesprochen, sondern
- leider - auch recht.
Ohne eine Abschaltung der V-Leute in der NPD ergibt also ein neues
Verbotsverfahren keinen Sinn. Daher müssen die Innenminister des Bundes und
der Länder in den kommenden Wochen beraten, auf welche Weise ein Abzug
verdeckter Ermittler und die Distanzierung von V-Leuten innerhalb der NPD
zu bewerkstelligen ist. Es kann nicht sein, dass ein Verbot der NPD auf
Jahre hinaus an den V-Leuten des Verfassungsschutzes scheitert. Das ist
doch der eigentliche Skandal: Der Verfassungsschutz selbst ist inzwischen
zum Bestandsschutz, ja zur Bestandsgarantie der verfassungsfeindlichen NPD
geworden!
## Sind V-Leute inzwischen vor allem Scharfmacher?
Das Argument, ohne V-Leute entstünden unkalkulierbare Risiken, kann nicht
mehr gelten. Die rechtsextreme Terrorzelle konnte weit über zehn Jahre
unbehelligt schwere Straftaten bis hin zum Mord begehen, ohne in den Blick
von Polizei und Justiz zu geraten - trotz aller V-Leute in NPD und
rechtsextremer Szene.
Verschiedenen Berichten zufolge soll ein Beamter des hessischen
Verfassungsschutzes zum Zeitpunkt eines Mordes am Tatort, bei weiteren
Morden zumindest in der Nähe des Tatortes gewesen sein. Sollte sich dies
bewahrheiten, so handelte es sich wohl - mindestens - um Strafvereitelung
im Amt. Es verstärkt sich der Eindruck, dass V-Leute nicht nur mitlaufende
Informanten waren, sondern staatlich bezahlte Scharfmacher und Gewalttäter.
Das führt zu der Frage, ob der Verfassungsschutz nicht inzwischen ein
gefährliches Eigenleben entwickelt und geradezu systematisch rechtsextreme
Gewalt unterschätzt hat. Diese möglichen Verirrungen müssen untersucht und
aufgeklärt werden, wenn es den Verfassungsschutz überhaupt weiter geben
soll!
Schließlich müssen sich auch die Bundesregierung und die sie tragenden
Parteien fragen lassen, ob ihr Blick auf das Problem des Rechtsextremismus
nicht völlig verfehlt ist.
## Die Bundesregierung verharmlost hartnäckig
Die Mittel für die Bundesprogramme zur Rechtsextremismusprävention werden
gerade gekürzt. Die Gefahr des Rechtsextremismus wird stetig relativiert
und genauso stupide wie hartnäckig mit dem zuletzt sichtbarer gewordenen,
aber andersartigen Linksextremismus gleichgesetzt. Rechtsextrem motivierte
Übergriffe werden regelmäßig und entgegen aller Kritik als Jugendgewalt
abgetan.
Initiativen, die sich um Fördermittel für ihren Einsatz für demokratische
Kultur bemühen, werden als "auf dem linken Auge blind" eingestuft oder gar
als linksextrem diffamiert und stehen mit der Extremismusklausel vor
Bekenntniszwang und Gesinnungsschnüffelei. Die Bundesregierung richtet den
Fokus ihrer Bemühungen offenkundig darauf, zivilgesellschaftliches
Engagement abzuwehren, und sie verharmlost rechtsextremistische
Einstellungen und Umtriebe sowie die daraus entstehenden Gewalttaten.
Damit muss Schluss sein!
In großer Regelmäßigkeit folgt die gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit
den Zyklen einer medialen Konjunktur, die immer nur dann hinschaut, wenn
sich etwas Schreckliches ereignet hat.
Es wäre sehr zu begrüßen, wenn es nun endlich bei allen demokratischen
Parteien zu einem angemessenen Problembewusstsein käme.
Die Erkenntnis, dass der braune Sumpf Brutstätte terroristischer Strukturen
ist, lässt nun hoffentlich auch die letzten Realitätsverweigerer zur
Besinnung kommen.
19 Nov 2011
## AUTOREN
Wolfgang Thierse
## TAGS
Schwerpunkt Rechter Terror
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