# taz.de -- Historiker Ian Kershaw über NS-Zeit: "Es fehlte der Wille, Hitler … | |
> Der britische Historiker Ian Kershaw und sein neues Buch "Das Ende": Ein | |
> Gespräch über den Durchhaltewillen des Nazi-Regimes und mordende | |
> Neonazis. | |
Bild: Der Historiker Ian Kershaw hat ein Buch über das Ende des NS-Regimes ges… | |
taz: Herr Kershaw, Sie beschreiben in Ihrem Buch "Das Ende", wie Hitler und | |
die Nazis 1944/45 ohne jede Chance auf einen Sieg weiterkämpften, bis alles | |
zerstört war. Woran lag dieser Irrsinn? | |
Ian Kershaw: Ich glaube, das lag vor allem an dem Terror, der von dem | |
Regime ausging. Es war deshalb unmöglich, eine Revolution wie 1918 zustande | |
zu bringen. Aber Terror erklärt natürlich nicht alles - etwa die Haltung | |
der Generäle, die Hitler bis zum Schluss gefolgt sind. Es gab auch andere | |
Faktoren. Mentalitäten, die die NS-Machtstrukturen untermauerten, spielten | |
eine große Rolle. | |
Ich hüte mich davor, nach nationalen Stereotypen zu suchen, etwa, dass es | |
eine typisch deutsche Haltung gegeben hätte, die zu diesem Krieg bis zum | |
Ende geführt hätte. Aber man muss natürlich die politische Kultur in | |
Betracht ziehen, um zu erklären, warum Eigenschaften wie Pflicht oder Ehre | |
und Gehorsam eine so bedeutende Rolle spielten, dass die Menschen in der | |
Tat bereit waren weiterzukämpfen, bis alles in Scherben fiel. | |
Bei den Generälen hat nach dem Anschlag vom 20. Juli niemand aufgemuckt. | |
Sie haben Hunderttausende ihrer Soldaten in den Tod geschickt und wussten | |
doch, dass der Krieg verloren war. | |
Da stellt sich natürlich die Frage, welche Möglichkeiten in dieser letzten | |
Phase vorhanden gewesen wären, um etwas dagegen zu tun. Man braucht nicht | |
apologetisch heranzugehen, sondern nur schlicht die Frage stellen: Wie | |
stand es damals um die Machtmöglichkeiten? | |
Das Gegenbeispiel ist Italien: Mussolini ist von innen gestürzt worden - | |
von seinem eigenen faschistischen Großkonzil. In Deutschland war das | |
anders. Es gab überhaupt kein kollektives Gremium, das imstande gewesen | |
wäre, das auch nur zu versuchen. Fast alle Positionen waren zudem von | |
Ultraloyalisten eingenommen. Ich glaube, es fehlte der Wille. Es fehlte | |
aber auch die Möglichkeit, Hitler zu stürzen. | |
Warum sind so wenige Soldaten desertiert? Lag es an den Standgerichten, die | |
Fahnenflüchtige ohne Umstände zum Tod verurteilt haben? | |
Das war ein naheliegender Grund. Aber man rechnet bei der Zahl von | |
Deserteuren und Versprengten mit 300.000 bis zu einer halben Million. Das | |
ist unter diesen Umständen eine beträchtliche Zahl. | |
Aber nicht nur im Militär gab es keinen Widerstand. Fast bis zum Schluss | |
funktionierten nahezu alle staatlichen Institutionen weiter. Die Post wurde | |
ausgeliefert, die Kinos spielten weiter, die Lebensmittelversorgung hat | |
zumindest halbwegs funktioniert. Hätte man nicht erwarten können, dass | |
zumindest die unteren Beamten eine eher abwartende Stellung einnehmen | |
können? | |
Es gab eine gewisse Leitkultur in Deutschland. Diese Beamten wurden so | |
ausgebildet und indoktriniert, dass sie ein ausgesprochenes Pflichtgefühl | |
entwickelten, selbst wenn das aus unserer heutigen Sicht natürlich völlig | |
verkehrt war. In England hätten die Menschen vielleicht ähnlich agiert, | |
aber doch nicht ganz so konsequent. In Italien erst recht nicht. | |
Auch aus der Industrie kam kein Widerstand, wiewohl diese doch 1933 mit | |
dafür gesorgt hatte, dass die Nazis an die Macht gekommen waren. Nun | |
mussten die Industriellen zusehen, wie ihre Fabriken zerbombt wurden. Wie | |
erklären Sie sich das? | |
Man hat früher in der Geschichtswissenschaft die politische Bedeutung der | |
Großindustriellen wahrscheinlich zu stark betont. Von dem marxistischen | |
Standpunkt aus wurde vertreten, dass die Großindustrie die staatliche Macht | |
in der Hand gehabt habe. Man kann aus heutiger Sicht erkennen, dass das | |
nicht stimmt. | |
In der letzten Kriegsphase arbeiteten die Industriellen sehr eng mit | |
Rüstungsminister Albert Speer zusammen, um das Schlimmste zu verhüten. | |
Macht, um Hitler zu stürzen, besaßen sie schlicht nicht. Es gab keinen | |
einzigen Industriellen, der am Attentat gegen Hitler am 20. Juli 1944 | |
beteiligt war. Ihr Anliegen war nur noch, die eigenen Betriebe vor der | |
totalen Zerstörung zu schützen. | |
Sie schreiben, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt des Krieges auch die | |
Deutschen zu Opfern wurden. Dieselben Deutschen haben zugesehen, wie die | |
KZ-Häftlinge auf ihren Todesmärschen durch ihre Dörfer getrieben wurden. | |
Waren diese Deutschen wirkliche Opfer? | |
Die Deutschen haben sich selbst als Opfer betrachtet. Wenn man zum Beispiel | |
deutsche Kinder betrachtet, dann waren diese selbstverständlich unschuldig. | |
Aber die eigentlichen Opfer des Nationalsozialismus waren nicht die | |
Deutschen. Das waren die verfolgten, gefolterten und ermordeten | |
Minderheiten, die vermeintlichen Volksfeinde. Wenn auch natürlich Menschen, | |
die ausgebombt worden waren, in einem gewissen Sinne Opfer waren. Aber es | |
waren häufig die gleichen Leute, die zuvor Hitler zugejubelt hatten. | |
Dieselben Deutschen nahmen nach Kriegsende die alliierte Vorherrschaft über | |
Deutschland fast widerstandslos hin. Es gab kaum Werwölfe, mit denen die | |
Nazis zuvor noch gedroht hatten. Wie erklären Sie sich das? | |
Die Menschen waren einfach zu zermürbt und zu kriegsmüde. Sie waren | |
fatalistisch eingestellt und überhaupt nicht rebellisch. Anders als zum | |
Beispiel beim jüngsten Irakkonflikt, als der Krieg erst nach dem | |
militärischen Sieg der Westalliierten begann, hatten die Deutschen mehr als | |
fünf Jahre mit ungeheuren Zerstörungen und Verlusten erlebt. Nur die | |
wenigsten verspürten da noch Lust, weiterzukämpfen. Die meisten haben sich | |
nur noch nach dem Kriegsende gesehnt und waren weder geistig-moralisch noch | |
physisch in der Lage, etwas gegen die Alliierten zu unternehmen. | |
Dass die Nazi-Führer und die SS bis zum Ende gekämpft haben, ist angesichts | |
ihrer Verbrechen verständlich. Aber dann haben sich viele ganz kurz vor | |
Schluss doch abgesetzt - nehmen wir zum Beispiel die Gauleiter. Die | |
Bevölkerung hatten sie vorher in den Tod geschickt. | |
Ja, das stimmt. Die meisten der NS-Schergen versuchten, ihre eigene Haut zu | |
retten. Und den meisten ist das auch gelungen. Manche konnten nach dem | |
Krieg wieder eine Karriere machen, wenn auch keine politische - mit einigen | |
Ausnahmen wie Hans Globke. (Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und ab | |
1953 unter Bundeskanzler Konrad Adenauer Chef des Bundeskanzleramts, d. | |
Red.) | |
Sie schreiben, dass in einem Krieg in aller Regel die unterlegene Partei zu | |
einem bestimmten Zeitpunkt einen Waffenstillstand anbietet - ganz im | |
Gegensatz zu Hitler-Deutschland. Wenn man sich heute die Situation etwa in | |
Libyen anschaut, dann hatten wir dort wieder ein Regime, dessen Machthaber | |
bis zum Tod gekämpft hat. | |
Die Generalisierung war ein bisschen verfrüht (lacht). Aber der Krieg, den | |
Sie erwähnen, war in erster Linie ein Bürgerkrieg. Libyen wird auch jetzt | |
von der libyschen Bevölkerung regiert und nicht von äußeren Feinden. Aber | |
Sie haben recht: Diese Verallgemeinerung trifft offenbar auf diese jetzigen | |
kleineren Kriege, wie etwa in Libyen oder Syrien, nicht zu. Es gibt aber | |
einen wesentlichen Unterschied: Die NS-Propaganda hatte mit ihrer | |
Behauptung in der Bevölkerung Erfolg, dass es bei einer Niederlage zur | |
Vernichtung der Deutschen kommen würde. | |
Nun waren die Deutschen sehr autoritär und Hitler-gläubig geprägt. | |
Andererseits hat das demokratische Experiment nach 1945 in Deutschland | |
erstaunlich gut funktioniert. Wir können uns nicht sicher sein, ob die | |
Deutschen etwa um 1955 schon Demokraten waren. Aber sie haben zumindest die | |
demokratischen Spielregeln eingehalten. Ein Widerspruch? | |
Das verdanken wir dem Wirtschaftswunder. Mir scheint, in den 1940er Jahren | |
war die Demokratie in Deutschland noch ein bisschen wackelig. Erst | |
angesichts des Wirtschaftswunders hat sich die Demokratie voll | |
durchgesetzt. Die Zahl der Hitler-Bewunderer ging erst in den 1950er Jahren | |
deutlich zurück. | |
Sie haben von der jüngsten Mordserie durch Neonazis in der Bundesrepublik | |
gehört. Erkennen Sie noch irgendeine Parallele zwischen der | |
nationalsozialistischen Herrschaft und diesen neonazistischen Tätern? | |
Ich kann da keine direkten Verbindungen zum Nationalsozialismus erkennen. | |
Die Ideologie mag als Motivationsgrundlage für Aktionen dienen, die ganz | |
andere Ziele haben. Ich sehe das eher als wilde Aktion von Leuten, die | |
keine feste NS-Ideologie verinnerlicht haben. Sie mögen aus welchen Gründen | |
auch immer die jetzige Gesellschaft ablehnen und als Zuflucht in Muster des | |
Nationalsozialismus fallen - wobei sie wahrscheinlich nur wenige Kenntnisse | |
über diese Zeit besitzen. | |
Haben Sie denn eine Vorstellung, was diese verbrecherische Ideologie für | |
manche Menschen immer noch attraktiv macht? | |
Das müssen Außenseiter der heutigen Gesellschaft sein. Wo schauen diese | |
Leute hin auf der Suche nach einer besseren Gesellschaft? Man schaut | |
natürlich nicht auf den Untergang des Nazi-Reiches 1945, sondern auf die | |
sogenannten guten Zeiten in den 1930er Jahren, als alles angeblich so | |
großartig war, als Deutschland den Kopf hochhalten konnte. Diese Leute | |
suchen nach einem gesellschaftlichen Muster, das besser als die heutige | |
Zeit sein soll. Das ist vielleicht keine gute Erklärung. Aber ich habe | |
keine bessere. | |
24 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
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