# taz.de -- Bildung nach dem digitalen Klimawandel: Das Buch verdunstet in die … | |
> Füller, Buch und Tintenkiller gehören der Schule der Vergangenheit an. | |
> Die digitalen Netzmedien machen aus starren Textblöcken flüssigen | |
> Wissensstoff. | |
Bild: Lesen wird in Zukunft sehr anders aussehen. | |
Die Gutenberg-Galaxis wurde schon vor 50 Jahren für beendet erklärt - mit | |
dem Fernsehen als Leitmedium. "Ein Abgrund öffnet sich zwischen der | |
zurückgebliebenen Welt der Klassenzimmer und der neuen Welt der | |
elektronischen Medien zu Hause", schrieb Marshall McLuhan 1967. Das | |
elektronische Zeitalter sei angebrochen. Information gleichzeitig und für | |
alle. Öffnung des Spielfelds, Verlust der Privilegien, Global Village. | |
Tatsächlich änderte sich dann in den Klassenzimmern aber gar nicht viel. | |
Bis heute blieb es im Prinzip bei dem System, das sich Ende des 19. | |
Jahrhunderts zusammen mit der industriell-bürokratischen Organisation | |
herausgebildet hatte: Der Lehrer ist das Medium. Die Schule hat das | |
Wissensmonopol. Wer nicht mitkommt, ist selber schuld. | |
Im Jahr 1900 war diese Schule ein hochmodernes Medium. Mein Großvater wurde | |
geboren als der siebte Sohn einer Oberpfälzer Bauernfamilie und starb als | |
promovierter Leiter der lebensmittelchemischen Untersuchungsanstalt in | |
München. Ein angesehener Bürger. Für ihn war die Schule der einzige Weg, | |
Teil der industriellen Wissensgesellschaft zu werden. Ein Ort der Befreiung | |
- trotz Prügel, Notenterror und Frontalunterricht. | |
Heute wird nicht mehr geschlagen, aber die Schule als Medienraum hat sich | |
kaum verändert. Es ist gespenstisch. Ich selbst bin von 1966 bis 1978 zur | |
Schule gegangen. Der heutige Unterricht meiner Tochter auf einem | |
renommierten bayerischen Gymnasium gleicht bis ins Detail meiner Schulzeit | |
von 1966 bis 1978. Als hätte man die Zeit eingefroren. Nur die neue | |
Latein-Mode und Abiturfeiern mit Tanzkurs und Abendkleid hätten wir damals | |
seltsam gefunden. Medienrevolution? Gab's nur draußen in der Popkultur. In | |
der Schule stellte man mit "Sprachlaboren" das 1900-Klassenzimmer nach - | |
nur rigider: jede/r SchülerIn abgekapselt, mit Mikro, Kopfhörer und | |
zentralem Schaltpult. | |
Tatsächlich stammen die bis heute neuesten Schulmedien aus dieser Zeit: | |
Overheadprojektor und Fotokopierer. Das sind Lehrermedien. Und welche neuen | |
Technologien gab es, die die Schüler ermächtigen? Nur den Tintenkiller | |
(seit 1972). Immerhin, der wurde ständig verbessert: Meine Tochter killert | |
ganze Seiten rückstandsfrei weg. Bei uns damals - jede Korrektur eine | |
Riesensauerei. | |
## Kafkaeske Torwächter | |
Verkehrte Welt. Heute liegt das Wissen draußen in der Luft. Mit einem Klick | |
kann jede/r auf jeden Wissensbestand in Echtzeit zugreifen. Aber drinnen | |
müssen die Handys ausgeschaltet werden, damit die Schüler nicht mal eben | |
Wissen googeln können. Hefte weg, wir schreiben Extemporale! | |
Trotzdem hatte McLuhan recht. Die Medienkulturrevolution brauchte nur ihre | |
Zeit, bis sie endlich die Wissensspeicher öffnete und alle die kafkaesken | |
Torwächter - wie jetzt den Schultrojaner - überflüssig machte, die | |
Unbefugten den Zutritt verwehren. Der Hauptgrund für diese Verzögerung ist, | |
dass das wichtigste Medium des Wissens weiterhin Text ist: Fixierte | |
Zeichen, abgelöst von den Urhebern und von der sinnlichen Wirklichkeit. Der | |
eigentliche Einschnitt kam erst durch die Digitalisierung: PC, E-Mail, Web | |
2.0, iPhone. Die allgegenwärtige magische Seite, auf der jeder | |
Textausschnitt sofort erscheinen kann. | |
Die Google-Galaxis schreddert alle starren Textblöcke. Das Wissen kommt in | |
Fluss. Seitdem kann jede/r Texte finden, kopieren, bearbeiten, schreiben, | |
verbreiten, teilen und kommentieren, jetzt und sofort. Ein Textuniversum, | |
das nicht mehr aus Büchern und Aufsätzen besteht, sondern aus immer kleiner | |
werdenden Paragrafen: ein Häppchen, ein Bit. | |
## Digitaler Klimawandel | |
Wir befinden uns inmitten eines digitalen Klimawandels. Ein Buch ist in der | |
Google-Ära nichts Festes mehr: eher so etwas wie eine vorübergehende | |
Ballung von flüssigem Wissensstoff. Es ist kein Zufall, dass | |
Flüssigkeitsmetaphern seit dem Web 2.0 allgegenwärtig sind: Winzige | |
Wissens- und Informationspartikel ("microcontent") ballen sich zur "Cloud". | |
"Drop.io" hieß ein populärer Cloud-Speicherservice. Die Tropfen vereinen | |
sich zu Rinnsalen ("flows"), die Rinnsale zu Strömen ("streams"), die sich | |
sammeln in Tümpeln und Seen ("pools"). | |
Und weil dieser globale Informationskreislauf immer schneller wird, | |
verdunsten und verdampfen diese Pools viel schneller als früher: Die Luft | |
ist gesättigt mit winzigen Wissens- und Informationsspartikeln, die als | |
Infotropfen herabregnen, jeder so klein wie ein Blick auf einen Bildschirm. | |
Wie eine einzelne Aufmerksamkeitsspanne. | |
Es ist klar, dass das nicht ohne Folgen für das Lernen bleiben kann: | |
Wissen, das nicht ständig im Umlauf ist - schon vergessen. Wissen, das | |
nicht ständig benutzt und angeeignet und bearbeitet wird - nicht aktuell. | |
Und dafür brauchen wir die digitalen Netzmedien. | |
"Die Welt ist flach" heißt ein Buch des New-York-Times-Autors Thomas L. | |
Friedman über die Auswirkungen der Globalisierung und des Internet. Das | |
ökonomische Spielfeld ist eingeebnet, es gibt keine privilegierten Nischen | |
mehr. Positiv ausgedrückt: Alle können mitspielen. Negativ ausgedrückt: Man | |
muss immer in Bewegung bleiben. | |
Das gilt global, aber auch regional und sozial: Ein Schulabbrecher in einem | |
Dorf im Bayerischen Wald kann sich heute selbst zum Webprogrammierer auf | |
Weltniveau weiterbilden, der täglich mit den Besten seines Faches im | |
Kontakt steht. Eine kleine Spezialfabrik, die die neuesten Technologien | |
verwendet und den bürokratischen Apparat einspart, kann ihre Produkte in | |
ganz Europa vertreiben. | |
Und umgekehrt: Alle, deren Geschäft auf knapper, exklusiver Information | |
beruht, stehen auf Treibsand. Wüsten breiten sich aus, Gletscher schmelzen | |
ab - Zeitungen sterben. Das alles muss man lernen, um sich in der neuen | |
Welt zu bewegen wie ein Fisch im Wasser. Vor 100, 150 Jahren leistete die | |
Schule das, so gut es damals eben ging. Aber heute? | |
## Stofffixierte Schule | |
Die heutige lehrerzentrierte und stofffixierte Schule ist dysfunktional. | |
Sie muss anders werden, jetzt, in den nächsten Jahren. Aber wird sie sich | |
wirklich ändern? Eher nicht, ist man geneigt zu sagen. Wie auch? Das Geld | |
reicht ja noch nicht einmal, um Schuldächer abzudichten und Stundenausfall | |
zu verhindern. Und wer sollte eine grundlegende Reform treiben? | |
Alle Beteiligten halten ängstlich fest am Status quo. In den Debatten über | |
das Bildungssystem geht es nicht um die Schule, wie sie ist, sondern nur um | |
die Beschwörung von Glaubenssätzen, die das je eigene Weltbild stützen. Und | |
SchülerInnen haben nun mal keine Lobby - obwohl es um sie geht. | |
Eine gemeinsam geplante und geschlossene Schulreform wird es also nicht | |
geben. Alle grundlegenden Änderungen werden erzwungen sein. Drei starke | |
Trends sehe ich, die als solche Sachzwänge wirken können: | |
Erstens die Geldkrise. Es wird nicht mehr Geld geben, sondern weniger. Viel | |
weniger. So schmerzhaft wenig, dass aus reiner Not Veränderungsdruck | |
entsteht. Vielleicht werden die Schulen von morgen gerade in den verödenden | |
ländlichen Regionen entstehen. | |
Zweitens die Zeugniskrise. Während Schüler und Studenten wertvolle | |
Lebenszeit mit dem sinnlosen Büffeln von Stoff für | |
Multiple-Choice-Prüfungen verschwenden, geht deren Wert immer mehr gegen | |
null. In der flachen, digitalen Welt gibt es keine Lebenszeitarbeitsplätze | |
in großen Beton-und-Glas-Organisationen mehr. Immer mehr werden in | |
"Projekten" arbeiten, in ständig wechselnden Szenarios. Diese Art von | |
flexibler Arbeit bekommt man aber nicht, wenn man ein gutes Zeugnis | |
vorweist. | |
Das sind zwei negative Sachzwänge. Positiv steht dem nur eines entgegen: | |
Drittens: Die emanzipatorische Kraft der neuen digitalen Netzmedien. | |
Schulen und Universitäten verwalten Wissen heute noch im starren Modus | |
Bibliothek. Heute greifen wir über hochmobile Endgeräte auf das Wissen zu. | |
Es ist das Design, das das Bewusstsein schafft: Software Design, User | |
Experience Design, User-centered Design. Eine neue Kulturtechnik. Es gibt | |
nicht mal gute deutsche Ausdrücke dafür. | |
Und erst heute ist diese Technik reif für den Schuleinsatz. Erst jetzt kann | |
sie ein/e SchülerIn als direkte Verlängerung des eigenen Wissensdrangs | |
benutzen. Erst jetzt braucht man keine "Computerräume" mehr. Die | |
elementaren Technologien sind - derzeit - nicht viele: Vier digitale Tools, | |
die sich gegenseitig ergänzen. Wenn man sie allen SchülerInnen in die Hand | |
gibt, können sie Lern- und Wissensprozesse von Grund auf ändern: | |
Erstens ein Tablet-PC wie das iPad: Für das gemeinsame Arbeiten im | |
Internetmodus: sammeln, anreichern, organisieren, remixen, eigene Objekte | |
daraus machen, diese wieder teilen. | |
Zweitens ein kleines, mobiles Netzgerät wie das iPhone. (Für schnelle | |
Schwarmkommunikation, für die Zirkulation von Mikroinformationen und um an | |
reale Orte und Dinge digitale Informationen zu heften.) | |
Drittens ein digitaler Stift mit Audio-Aufnahme wie der LiveScribe. | |
(Schreiben mit der Hand, das weder "Hefteintrag" noch nostalgische | |
Kalligrafie ist. Ein magisches Gerät zum Mitnotieren, Aneignen, "visuellen | |
Denken". Eine Brücke zwischen analoger und digitaler Welt.) | |
Viertens ein E-Book-Reader wie der Kindle. (Purer Text in schwarz-weiß, | |
ohne Netz und Multimediasperenzchen: konzentriertes Lesen, Markieren, | |
Annotieren, Teilen von Stellen und Gedanken. Und nicht nur vorgefertigte | |
"Schulbuchtexte": Selbst Erarbeitetes wird mit einem Klick zu Buchformat.) | |
Zusammen kostet das derzeit (!) noch rund 400 Euro pro SchülerIn und Jahr. | |
Dafür spart man sich: Fotokopien, Bücher, Beamer, Computerräume. | |
Früher oder später wird der Kreislauf an die Stelle jener Medien treten, | |
die bis heute Schülerhirne prägen: Füller, Buch und Tintenkiller, fliegende | |
Kopierzettel und die Lehrerstimme, die niemals schweigt. Nach der | |
Schulaufgabe ist vor der Schulaufgabe. jahre-, jahrzehntelang. Und vier | |
Wände, die eine Welt draußen halten, die sich derweil rasend schnell | |
verändert. | |
7 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Martin Lindner | |
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