# taz.de -- "American Dream Movement" in Washington: Sie wollen das Kapitol zur… | |
> Mehr als 3.000 Menschen sind nach Washington gereist, um ihre Forderungen | |
> zur Sozialpolitik vorzutragen. Sie verstehen sich als Ergänzung zur | |
> Occupy-Bewegung. | |
Bild: Das Kapitol, Sitz der beiden gesetzgebenden Kammern der USA. | |
WASHINGTON taz | Antisar Vickers und Regina Carter haben den Dienstag im | |
Vorzimmer ihres Kongressabgeordneten Erik Paulsen verbracht. Sie wollten | |
mit ihm über eine Verlängerung der Arbeitslosenunterstützung über das | |
Jahresende hinaus und über ein nationales Job-Programm reden. Aber der | |
Republikaner aus dem 3. Wahlkreis von Minnesota hatte keine Zeit. | |
Am Sonntag sind die beiden Frauen mit 100 anderen Leuten mehr als 1.700 | |
Kilometer im Bus von Minneapolis nach Washington gereist. Vier Tage lang | |
nehmen sie in der US-Haupstadt an einem nationalen Treffen teil. "Take back | |
the Capitol" lautet der Titel: Holt das Kapitol zurück, den Sitz der beiden | |
gesetzgebenden Kammern der USA. | |
Das "[1][American Dream Movement]" – ein Zusammenschluss von Gewerkschaften | |
und linken Gruppen – hat das Treffen organisiert und finanziert. In der | |
letzten Tagungswoche dieses Jahres, bevor die Abgeordneten in den | |
Weihnachtsurlaub gehen, sind mehr als 3.000 Menschen aus allen Ecken der | |
USA in die Hauptstadt gereist, um ihre Forderungen vorzutragen. Manche | |
haben Aktenordner mit gesammelten Leidensgeschichten und Forderungen | |
mitgebracht. | |
Viele Angereiste sind arbeitslos, viele Afroamerikaner. Bei der abendlichen | |
Gratis-Ausgabe von Pizza in einem großen weißen Zelt auf der Mall, auf | |
dessen Außenseite steht: "Wir sind die 99 Porzent" ruft ein Rapper ins | |
Mikrofon: "Hier sind die Grenzen zwischen weiß und schwarz aufgehoben." | |
## Ran an die Parteien | |
Das viertägige Treffen ist ein Versuch, die Abgeordneten für soziale Fragen | |
zu sensibilisieren. Es geht darum, das neue Klima, das die Occupy-Bewegung | |
geschaffen hat, zu nutzen. Die Leute, die seit dem 17. September | |
öffentliche Plätze in den USA besetzen, achten auf den größtmöglichen | |
Abstand von der organisierten Politik. Die DemonstrantInnen in der Mall | |
hingegen wollen so nah wie möglich an die Parteien und an die gewählten | |
Abgeordneten herangehen. | |
"Es geht um eine faire Wirtschaft", sagt Mark D. McCullough, | |
Festangestellter von der Gewerkschaft SEIU in Washington: "Wir wollen, dass | |
der Kongress Arbeitsplätze schafft, statt Sozialausgaben zu streichen." Die | |
Aktion ist für ihn eine Ergänzung – und keineswegs Konkurrenz – zur | |
Occupy-Bewegung, die sich seit den Räumungen in den Großstädten New York, | |
Los Angeles, Philadelphia und Oakland zunehmend auf die US-Hauptstadt | |
konzentriert. | |
"Wir haben sehr viel mit der Occupy-Bewegung gemeinsam", sagt McCullough. | |
Er trägt Anzug und Krawatte. Und er sagt, dass in diesen vier Tagen die | |
Mall nicht besetzt sei. Zum Übernachten gehen die TeilnehmerInnen in | |
Herbergen. | |
Nachdem ihr Abgeordneter sie abblitzen ließ, sitzen Antisar Vickers und | |
Regina Carter unter einem Zeltdach in der Mitte der Mall. Von oben prasselt | |
dichter Regen auf die Plane. Die beiden Frauen rauchen Kette und bereiten | |
ihre nächste Aktion im Capitol vor. Sie werden – wieder in großer Gruppe – | |
vor das Büro des Chefs des Repräsentantenhauses ziehen. "Speaker" John | |
Boehner ist ebenfalls Republikaner. Die Sprechchöre haben sie bereits | |
eingeübt. Unter anderem werden sie von Boehner Jobs sowie den Bau von | |
Brücken und Straßen verlangen. | |
## "Die Politik ist gekauft" | |
Optimistisch über die Möglichkeiten der organisierten Politik sind die | |
beiden Frauen nicht. "Dies hier ist ziemlich gekauft", sagt die 30jährige | |
Antisar Vickers und macht eine ausladende Geste, die von dem abendlich | |
beleuchteten Kapitol bis hin zum Weißen Haus an der Längsseite der Mall | |
reicht. | |
Auch von den DemokratInnen ist sie enttäuscht. Sie ist sich nicht sicher, | |
ob sie in Zukunft überhaupt noch wählen wird. "Klar ist unser Präsident | |
schwarz", sagt sie, "aber in den Ghettos, aus denen wir kommen, hat das | |
keine Auswirkung". | |
Die beiden Frauen haben sich erst in diesem Herbst in Minnesota | |
kennengelernt. Die 52jährige Regina Carter, die zusammen mit einer Nichte | |
und deren Kindern in einem Haus wohnt, erfuhr in diesem Herbst zufällig, | |
dass die Bank das Haus der Familie bereits ein Dreivierteljahr zuvor an | |
eine andere Bank weiter verkauft hatte und dass eine Räumung drohte. Die | |
Familie bat die örtliche Occupy-Gruppe um Hilfe. Seither zelten Antisar | |
Vickers und andere junge Leute in dem Vor- und Rückgarten der | |
räumungsbedrohten Familie. | |
"Ich bleibe, bis sie ihr Haus bekommen, oder bis ich verhaftet werde", sagt | |
Antisar Vickers. Sie lebt mit ihrer 13jährigen Tochter von 437 Dollar | |
Sozialhilfe und charakterisiert sich selbst als "arme, afroamerikanische | |
Frau". In diesem Herbst macht sie eine Erfahrung, die diese beiden Stigmata | |
in den Hintergrund drängt: "Zumindest für eine Weile fühle ich mich als | |
eine amerikanische Bürgerin." | |
## "Eine historische Gelegenheit" | |
Die 38jährige Adrienne Evans ist aus dem mehr als 3.400 Kilometer | |
entfernten Idaho zu "Take back the Capitol" nach Washington gekommen. "Wir | |
würden eine historische Gelegenheit verpassen, wenn wir jetzt nicht | |
mobilisierten", sagt die Soziologin, die in Idaho die Gruppe "US-Action" | |
leitet. Mit acht anderen Leuten aus Idaho war auch Adrienne Evans tagsüber | |
im Capitol. | |
Weil der republikanische Abgeordnete Raul Labrador "keine Zeit" hat, lesen | |
die neun in seinem Vorzimmer laut den 29 Seiten langen Text, den sie für | |
die Aktion vorbereitet haben. Es sind Leidensgeschichten aus Idaho: Kranke, | |
die sich keinen Arzt leisten können, Bauern, die ihren Hof verlieren, und | |
Arbeitslose, die kein Geld für die Ratenzahlungen für ihr Haus haben. | |
Danach empfangen zwei andere Abgeordnete aus Idaho, James Risch und Mike | |
Crapo, die Gruppe. Einer der beiden Politiker habe beim Zuhören feuchte | |
Augen bekommen, berichtet Adrienne Evans. | |
Idaho ist komplett in republikanischer Hand. Aber die Politiker wissen, | |
"dass die Dinge dabei sind, sich zu ändern", ist die Aktivistin überzeugt. | |
7 Dec 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.rebuildthedream.com/about.php | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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