# taz.de -- Demonstrationen in Saudi-Arabien: Die Märtyrer von Katif | |
> Seit März gibt es immer wieder Proteste im Königreich . Auch Ali | |
> al-Filfil demonstrierte gegen Unterdrückung und Chancenlosigkeit. Dafür | |
> musste er mit seinem Leben bezahlen. | |
Bild: In Abbajas und Gesichtsschleiern: Auch Frauen protestieren in Katif. | |
Die Bilder sind schrecklich. Ali al-Filfils Augen starren ins Leere. Und | |
während ein Nothilfeteam im Krankenhaus verzweifelt versucht, den leblosen | |
Körper des 24-Jährigen wiederzubeleben, quillt Blut aus einem Loch in | |
seiner Brust. Bald müssen die Ärzte jedoch aufgeben, und al-Filfil wird das | |
zweite Opfer von insgesamt vier Toten und neun Verletzten, die die Proteste | |
in der letzten Novemberwoche in und um Katif gefordert haben. | |
Diese Bilanz ist das Ergebnis einer Eskalation, die von friedlichen | |
Demonstrationen zu Straßenschlachten mit Schüssen auf die Demonstranten | |
geführt haben. Und obwohl führende Geistliche und politische Vertreter der | |
Schiiten die jungen Demonstranten zur Zurückhaltung aufgefordert haben, | |
scheint die Aussicht gering, dass der Konflikt zwischen der schiitischen | |
Minderheit und dem sunnitisch-wahhabitisch geprägten Königreich | |
Saudi-Arabien eine friedliche Lösung finden wird. | |
Das Video von al-Filfils letzten Augenblicken und Dutzende weitere sind | |
tausendfach auf Youtube und Facebook aufgerufen worden. Untermalt von Musik | |
mit Texten von Folter und Erschießungen der Sicherheitskräfte, erzählen sie | |
die Geschichte der letzten Novemberwoche: | |
Die Proteste von oft nicht mehr als 50 jungen Demonstranten; die Schüsse, | |
die sie begleiteten; die Getroffenen am Boden; gefolgt von den | |
Beerdigungen, während denen die Toten mehr als eine Stunde auf Händen durch | |
die Stadt gereicht wurden und an denen bis zu 50.000 Trauernde teilgenommen | |
haben sollen; und schließlich die Demonstration nach der ersten Beerdigung, | |
als ein Zug von rund 3.000 Demonstranten aller Altersgruppen "Tod den | |
al-Saud" (der Name der Königsfamilie) rufend durch die Stadt gezogen ist. | |
"Hinter mir lief ein pensionierter Armeeoffizier, der laut mit sich | |
gerungen hat, bevor er eingestimmt hat", berichtet der Geschäftsmann und | |
Autor Maitham al-Jischi, um zu unterstreichen, wie tief der Tod der Männer, | |
alle um die 20, die Schiiten in Katif getroffen hat. | |
## Zehn Prozent Schiiten | |
In der Stadt mit ihren umliegenden Dörfern an der Küste des Persischen | |
Golfes leben bis zu einer Million Schiiten. Katif ist jedoch nur der | |
nördliche Stadtteil der Dreistadt Dammam - al-Khobar - Dahran, um die die | |
gesamte saudische Erdöllagerstätten gelegen sind. Wie viele Schiiten in der | |
gesamten Ostprovinz Saudi-Arabiens leben, ist nicht bekannt. Diese Zahl ist | |
ein Politikum im Königreich. Nach manchen Schätzungen sind es bis zu drei | |
Millionen. Das würde einen Bevölkerungsanteil von etwas mehr als 10 Prozent | |
bedeuten. | |
Die Proteste von oft nicht mehr als einhundert Demonstranten in Katif und | |
al-Hasa, rund 100 Kilometer im Landesinneren, begannen Anfang März. An der | |
Oberfläche war ihr Auslöser die inzwischen 15 Jahre lange Inhaftierung von | |
neun Schiiten, denen die saudische Regierung den Bombenanschlag auf eine | |
US-Kaserne in al-Khobar vorwirft. Vor Gericht wurden die neun jedoch nie | |
gestellt. | |
Bald richteten sich die Proteste jedoch gegen die Benachteiligung der | |
Schiiten in Politik und Wirtschaft. In einem Bericht von 2009 nennt die | |
Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch die Situation der saudischen | |
Schiiten "systematische staatliche Diskriminierung". | |
Nachdem Anfang Mai führende Geistliche ein Ende der Proteste forderten, um | |
Gesprächen mit der saudischen Regierung eine Chance zu geben, ebbten die | |
Proteste ab. Im Juli begannen sie jedoch erneut; allerdings oft nur mit | |
einigen Dutzend jungen Demonstranten. | |
## Generationenkonflikt | |
"Diese Entwicklung ist einem deutlichen Generationenkonflikt bei uns | |
geschuldet.", sagt der Autor al-Jischi, der selbst Mitte dreißig ist. "Die | |
40-, 50- und 60-Jährigen haben alles, Ersparnisse, einen guten | |
Lebensstandard. Aber für einen wie mich bleibt ein Traum, ein Grundstück zu | |
kaufen." | |
Einen Wendepunkt stellte die Auseinandersetzung vor der Polizeiwache in | |
Awamia Anfang Oktober dar, einem der ärmeren Dörfer am Rande Katifs. Die | |
Polizei hielt zwei alte Männer fest, damit sich ihre Söhne stellten. | |
Angeblich hätten sie Proteste organisiert. Daraufhin versammelten sich | |
Demonstranten vor der Polizeiwache, warfen Brandbomben und schossen auf die | |
Sicherheitskräfte. Nach saudischen Regierungsangaben wurden elf Beamte | |
verletzt. | |
"Die Leute in Awamia sind vor ein paar hundert Jahren aus der Hochebene im | |
Zentrum des Landes hierhergekommen", sagt al-Jischi. "Die Kultur der Wüste | |
haben sie behalten. Dass alte Männer festgenommen wurden, hat sie | |
fürchterlich in Rage gebracht." | |
Am 20. November wurde der 19-jährige Student Nasser an einer Straßensperre | |
erschossen. Dem Bericht einer lokalen Menschenrechtsgruppe zufolge | |
ignorierte er auf dem Weg von der Schule nach Hause die Aufforderung der | |
Sicherheitskräfte, anzuhalten. Sie erschossen ihn mit vier Kugeln in den | |
Nacken und Hinterkopf. | |
Seitdem ist die Gewalt eskaliert. Auch Leute in Katif, die nichts mit den | |
Demonstrationen zu tun haben, sagen, seitdem sei fast jede Nacht | |
Gewehrfeuer in den Straßen zu hören. Einige Häuser im Süden der Stadt sind | |
noch immer mit Einschusslöchern überzogen. An Straßensperren an allen | |
zentralen Adern der Stadt kontrolliert die Polizei Fahrzeuge, und nachts | |
patrouillieren leichte Panzer die Straßen. | |
Um den Behörden keinen Vorwand zu geben, das Verbot der religiösen Rituale | |
während des schiitischen Trauermonats Muharram durchzusetzen, haben vier | |
führende Geistliche ein zeitweiliges Ende der Demonstrationen gefordert. | |
Dennoch gingen die Proteste in Katif und den umliegenden Dörfern weiter, | |
allerdings ohne gewaltsame Auseinandersetzungen. Am Donnerstagnachmittag | |
vorletzter Woche zum Beispiel zogen mehrere hundert Demonstranten durch | |
Katif. Zwei Reihen Kinder mit Bannern vorneweg, auf denen "Katifs | |
Märtyrer", die vier jungen Toten, abgebildet waren; dahinter Männer aller | |
Altersgruppen; und am Ende rund 30 in schwarze Abbajas und Gesichtsschleier | |
gehüllte Frauen. Die Demonstranten skandierten: "Wir sind stolz auf die | |
Märtyrer. Wir werden eure Sache nicht vergessen". | |
Auf die Frage, warum er trotz der Gewalt bei den Protesten dennoch | |
demonstrieren gehe, sagt Mohammed al-Ali [Name geändert, d. Red.]: "Wenn | |
man es im Blut hat, kann man nicht aufhören. Selbst wenn man es wollte." | |
Stellvertretend für viele in Katif sagt al-Ali, die Gespräche mit dem | |
Gouverneur der Ostprovinz, Prinz Mohammed Bin Fahd, seit dem Beginn der | |
Proteste hätten nichts eingebracht. | |
"Solche Gespräche gibt es seit 30 Jahren. Unsere Vertreter sagen uns | |
danach, der Gouverneur habe Veränderungen versprochen, aber dann passiert | |
nichts. Ich frage mich, ob er überhaupt etwas zu sagen hat. Am Ende werden | |
die Entscheidungen doch in Riad gefällt, und dort hat das wahhabitische | |
Establishment das Sagen." | |
Während in der Hauptstadt Prinz Mohammed eine Untersuchung der Umstände der | |
vier Todesfälle versprochen hat, sagte der Sprecher des Innenministeriums, | |
General Mansur al-Turki, bei einer Pressekonferenz in Riad, dass "die | |
kriminellen Elemente" bei den Protesten streng bestraft würden. Reflexartig | |
beschuldigte er den Iran hinter den Demonstrationen zu stehen: "Die Unruhen | |
wurden von fremden Elementen angestiftet." Fremde Elemente - das ist der | |
saudische Code für die Islamische Republik auf der anderen Seite des | |
Persischen Golfes. | |
## Blutrote Trauerfahnen | |
In den ersten zehn Tagen des Monats Muharram (dieses Jahr vom 26. November | |
bis 25. Dezember) gedenken die Schiiten der Niederlage Imam Husseins in der | |
Schlacht von Kerbela, im heutigen Irak. In öffentlichen Vorlesungen | |
erzählen Geistliche die tragische Geschichte des Enkels des Propheten nach, | |
bei denen viele Zuhörer in lautes Schluchzen ausbrechen. Dieses Jahr zogen | |
nach dem Gedenken rund 100 Männer durch die Straßen und schlugen sich im | |
Takt mit voller Wucht auf die Brust. | |
An Suppenküchen wurde kostenloses Essen und Tee verteilt. An Mauern und | |
Häuserwänden hingen Plakate mit dem ikonengleichen Konterfei Husseins. Und | |
von den Dächern wehten schwarze und blutrote Trauerfahnen. "Wir hängen die | |
roten Fahnen auf, weil wir glauben, dass die Mörder Husseins immer noch | |
nicht bestraft wurden", sagte al-Ali. Er räumt ein, dass Demonstranten bei | |
Protesten geschossen haben, sagt jedoch: "Die sind nicht von uns. Das sind | |
Provokateure, die uns schaden wollen." | |
Der Vorsitzende der Menschenrechtsgruppe HRFS, Ibrahim Mugaitib, ist nicht | |
überrascht, dass es bei den Protesten zu Schießereien gekommen ist. "In der | |
saudischen Kultur ist es so, dass jeder Haushalt bewaffnet sein sollte", | |
sagt er. "Aber natürlich laufen 95 Prozent der Leute nicht mit Waffen auf | |
der Straße herum." | |
Wie andere berichtet auch er, dass es in der Region von Katif einen | |
florierenden Schwarzmarkt für Schusswaffen gebe. Bei Hochzeiten und anderen | |
Feiern werde vor allem in Awamia immer wieder mal in die Luft geschossen. | |
"Wir haben die Behörden schon lange aufgefordert, diese gefährlichen Waffen | |
aus dem Verkehr zu ziehen", so Mugaitib. Aber die hätten nichts | |
unternommen. | |
Für al-Ali hat das alles kaum Bedeutung. Er sagt, er und andere werden auf | |
jeden Fall weiter demonstrieren. Wie lange will er das durchhalten? | |
"Solange bis die Schuldigen am Tod der vier Märtyrer bestraft sind. Und bis | |
wir endlich nicht mehr Bürger zweiter Klasse sind." | |
14 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Peter Böhm | |
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