# taz.de -- Feldforschung am Weihnachtsmarkt: "Schatz, den musst du probieren!" | |
> Erkenntnisse einer Verkäuferin auf einem Weihnachtsmarkt nahe Hamburg | |
> zwischen Kundenprofiling, Bonbonduftnoten und kreativen Ansprachen: | |
> Erfolgsgeheimnis geknackt! | |
Bild: Als Verkäufer auf einem Weihnachtsmarkt kann man Erstaunliches erleben. | |
Dieses Jahr habe ich mehr als 50 Stunden auf dem Weihnachtsmarkt verbracht. | |
Dahinter steckt nicht etwa unstillbarer Glühweindurst oder | |
Weihnachtsnostalgie. Ich habe dafür Geld bekommen. Mein Job: handgemachte | |
Bonbons des Hamburger "Bonscheladens" verkaufen. 100 Gramm in Tüten | |
abwiegen, Probierproben verteilen, Kinder glücklich machen, bekennende | |
Nichtnascher bekehren. | |
Nach sechs Arbeitstagen bin ich nicht nur um eine Erfahrung, Gratispralinen | |
vom Stand nebenan und Rückenschmerzen reicher, sondern meine auch, das mir | |
bisher schleierhafte Erfolgsrezept von Weihnachtsmärkten endlich geknackt | |
zu haben. | |
Ins Gedächtnis brennen sich nämlich nicht nur die vielen verschiedenen | |
Bonbonsorten ein - Bratapfel, Saftorange-Rosé, Erdbeer/Grüner Pfeffer -, | |
sondern auch Szenen wie diese: Eine Familie bleibt vor dem Stand stehen und | |
schaut neugierig auf die bunt gefüllten Gläser. Ob denn mal jemand einen | |
Bonsche probieren möchte, frage ich. Mutter nickt, eins der Kinder nickt, | |
einmal Apfelsine, einmal Bratapfel. "Hmmh," schwärmen sie, die Frau zu | |
ihrem Mann: "Schatz, den musst du probieren!" | |
## Ein interessanter Kuss | |
Gerade will ich noch einen Bonbon aus dem Glas fischen, da hat die | |
Süßigkeit schon in einem, ja, sollte es etwa ein Kuss gewesen sein, wenn, | |
dann aber einer mit sehr viel sichtbarem Zungen- und Speicheleinsatz, | |
seinen Besitzer gewechselt. "Hmmh", schwärmt jetzt auch "Schatz". Dann das | |
Kindchen: "Mama, lecker, probier mal meinen!" | |
Schwups, hat auch der Bratapfelbonsche des Töchterchens auf dem gleichen | |
Weg in Muttis Mund gefunden, während der Vater derweil seinen Bonsche an | |
den bisher leer ausgegangenen Sohn weitergereicht hat. Über diesen lustigen | |
Tausch wird laut gelacht, mir bleibt aus verkaufstaktischen Gründen nichts | |
anderes übrig, als ins Gelächter mit einzusteigen. | |
Der Rahmen des Stands schafft eine künstliche Distanz, die in Wahrheit | |
keinen Meter beträgt, und so wird man unvermeidlich Zeuge von | |
Speichelaustäuschen, Geschmackskonflikten, familieninternen | |
Machtverhältnissen, geheimen Geschenkkäufen. Das klar abgesteckte | |
Sichtfenster zwingt in eine Beobachterposition, die grundlegende | |
Erkenntnisse über das Verhalten von BürgerInnen westlicher Gesellschaften | |
in der Vorweihnachtszeit mit sich bringt. | |
Einen Weihnachtsmarkt besucht man, um "in Weihnachtsstimmung" zu kommen. | |
Umringt von Kitsch, Kunsthandwerk, Glühwein und Süßigkeiten verbringt man | |
besinnliche Stunden. Die vielen selbstgemachten Sachen suggerieren das | |
pure, das wahre Weihnachten, wie es einst, vor Jahrhunderten, begangen | |
worden sein muss, lange vor dem Coca-Cola-Weihnachtstruck und Wham!. | |
## "So wunderstill beglückt" | |
Joseph von Eichendorffs ultrakitschiges Gedicht "Weihnachten" fällt mir | |
ein, als am Stand gegenüber die gefühlt hundertste Stern-Pappgirlande für | |
schlappe 10 Euro eine entzückte Käuferin findet: "An den Fenstern haben | |
Frauen buntes Spielzeug fromm geschmückt. Tausend Kindlein stehn und | |
schauen, sind so wunderstill beglückt." | |
Die Aussicht darauf, auch nur einen Hauch dieses romantischen, | |
unverdorbenen Weihnachtsglücks zu erhaschen, reicht als Motivation, sich | |
alle Jahre wieder durch die drängelnden Massen zu schieben. Denn hier, auf | |
dem Weihnachtsmarkt, ist die Welt noch in Ordnung, ist VerkäuferIn noch | |
HerstellerIn, wie damals bei von Eichendorff, Anfang des neunzehnten | |
Jahrhunderts. | |
So sind Weihnachtsmärkte auch von der üblichen Kritik am saisonalen | |
Konsumwahn ausgenommen. Hier darf noch guten Gewissens gekauft werden, und | |
das aufwendige Tannengesteck, die Seife mit der eingearbeiteten Muschel, | |
der Wärmflaschenbezug in Norwegeroptik dürfen auch ihren Preis haben, weil | |
selbstgemacht. Gratis mit dazu gibt es das beruhigende Gefühl, sein Geld an | |
der richtigen Stelle gelassen zu haben, und die persönliche Bindung zur | |
Verkäuferin. "Ihnen frohe Weihnachten" - "Einen besinnlichen dritten | |
Advent", die Kreativität der individuell auf die KundInnen zugeschnittenen | |
Grußworte kennt keine Grenzen. | |
## Der Rücken schmerzt | |
Als der Regen niederprasselt und deswegen die Marktbesucher ausbleiben, | |
bleibt Zeit zum Plaudern mit Uwe Sponnagel, den alle nur Spoon nennen und | |
dem zusammen mit seiner Frau Andrea der "Bonscheladen" gehört. Er ist | |
Diplom-Pädagoge, hat als Student Anfang der Achtziger in Berlin ein Haus | |
besetzt, lange Zeit mit Arbeitslosen gearbeitet, und gerade hat er | |
Rückenschmerzen vom vielen Bonbonmachen. Er ist das Gegenteil von dem, was | |
man sich unter einem Unternehmer vorstellt, und doch durch den | |
"Bonscheladen" zu einem geworden. | |
Vor sechs Jahren eröffneten er und seine Frau den kleinen Laden im | |
Hamburger Stadtteil Ottensen, nachdem ihnen die Idee dazu in einer | |
Bonbonmacherei auf der dänischen Insel Bornholm gekommen war, nachdem ein | |
Jahr lang die Familienküche mit klebrigen Bonbonexperimenten eingesaut | |
wurde. | |
Der Laden steckt mitten im brummenden Weihnachtsgeschäft, Hunderte von | |
Bestellungen, 600 Kilo Bonbons stellten die drei Angestellten und Spoon | |
letzte Woche her. "Fix und fertig" seien sie, sagt Spoon, "aber das sind ja | |
Luxusprobleme", fügt er hinzu. So nette Geschichten gibt das her, dass auch | |
ich das Gefühl habe, hier auf der richtigen Seite des Konsums zu stehen. | |
Mit dem besten Gewissen rege ich auch die nächsten KundInnen zum | |
Geldausgeben an, was sind schon drei, vier, zehn Euro mehr für leckere | |
Bonsche. "Bis nächstes Jahr", verabschiede ich mich am letzten Tag vom | |
Pralinenmann nebenan. | |
22 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Carla Baum | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Protest gegen Gentrifizierung: Rabatz beim Adventsshopping | |
Mit Aktionen in mehreren Stadtteilen demonstrierten Hunderte gegen | |
Wohnungsnot, Wuchermieten, Verdrängung und Privatisierung öffentlicher | |
Räume. | |
Berliner Ausstellung über Religion und Stadt: Gospel in der Lagerhalle | |
Ohne eurozentrischen Blick: "the Urban Cultures of Global Prayers" in der | |
Berliner NGBK zeigt künstlerische Arbeiten über neue religiöse Bewegungen | |
in den Städten der Welt. | |
Hexenprozess in Bayern: Dem Teufel verschrieben | |
Vor allem Kinder waren die Opfer eines der letzten deutschen Hexenprozesse. | |
Über Rainer Becks große Studie "Mäuselmacher oder die Imagination des | |
Bösen". |