# taz.de -- Gedanken zur Liebe zum "Fest der Liebe": Moral, Sex und Wahn | |
> Schon wieder feiern wir ein sogenanntes Fest der Liebe. Dabei ist es doch | |
> so notwendig, über dieses Gefühl hinauszugelangen, hin zum höchsten aller | |
> Ziele: der Freundschaft. | |
Bild: Statt Liebe und Heirat könnte es doch auch mal Freundschaft sein. | |
"Daß es Männer gibt, die aus jeder Sehnsucht einer Frau gleich ein Kind | |
machen, beweist immer, daß sie selbst schon tot sind." (Ernst Fuhrmann) | |
Die romantische Liebe führt in der heutigen "konsumorientierten | |
Gesellschaft" zu einer "Aufwertung des Ichs" und bestimmt den "sozialen | |
Wert einer Person". Wie das geschieht, hat die Soziologin Eva Illouz in | |
ihrem Buch "Warum Liebe weh tut" erklärt. In dem Roman "Salamander" urteilt | |
der Autor Jürgen Lodemann: "Manchmal scheint mir, Amis definieren sich nur | |
noch übers Vögeln. Irene meint, so laufe das auch in der Literatur, von | |
Updike bis Franzen, da dominieren Pornokratie. Sex als Wichtigkeits- und | |
Leistungsnachweis." | |
Das Problem ist jedoch weniger die Sexbesessenheit oder der Drang, sich | |
ständig aufs Neue zu verlieben, sondern dessen Verunmöglichung, darüber | |
hinauszugelangen - zur Freundschaft. Daran ändert auch die "Polyamorie" | |
nichts, über die es auf einer Internetseite heißt: "Mehrfachbeziehungen - | |
sollen sie gelingen - brauchen spezielle Strategien und ,Werkzeuge'." | |
Freundschaft, das bedeutet z. B., den Anderen auch dann noch und erst recht | |
zu schätzen, wenn er oder sie sich anderweitig verliebt. Die Alternative, | |
wenn man das nicht schafft, heißt: Eifersucht, ständige Kontrolle, | |
Heiratenwollen, Kinderkriegen - um den anderen fester an sich zu binden. | |
Die Liebe, die nicht in Freundschaft mündet, führt fast zwangsläufig zur | |
Familiengründung. Weil hierzulande aber die Beteiligten immer | |
selbstbewusster und selbständiger werden, nützt das alles nichts. Das ist | |
es, was "weh tut". | |
Der Andere, mit dem ich dagegen in Freundschaft verbunden bin, "ist nicht | |
mehr Begrenzung, sondern die Bedingung der individuellen Freiheit", | |
insistiert Axel Honneth. Ähnlich sah dies auch Michel Foucault: "Das Ziel, | |
auf das die Entwicklung der Homosexualität jetzt hinausläuft, ist das | |
Problem der Freundschaft", schrieb er. Dieses "Ziel" gilt auch für die | |
Entwicklung der Heterosexualität. | |
## Verantwortung ist Unfreiheit | |
Die Freundschaft definierte Foucault als "die Summe all der Dinge, über die | |
man einander Freude und Lust bereiten kann", wobei er dieses "Problem" in | |
den Horizont einer "Ethik" stellte - als eine Form, die "man seinem | |
Verhalten und seinem Leben gibt". Diese Suche nach "Existenzstilen" sei | |
notwendig, weil die bisherige "Suche nach einer Form von Moral, die für | |
alle annehmbar wäre - in dem Sinne, dass alle sich dem zu unterwerfen | |
hätten, sich als eine Katastrophe erwies". | |
Wenn wir nicht über die Liebe hinauskommen, dann brauchen wir Moral: Du | |
musst treu sein, du darfst den (Ehe-)Partner nicht verlassen, du musst für | |
deine Kinder sorgen, du musst deine Familie unterstützen usw. Daraus | |
resultiert: "Verantwortung", was nur ein anderes Wort für ein | |
zähneknirschendes Sich-in-die-Unfreiheit-Fügen ist. Statt von einer "Ethik" | |
könnte man laut Foucault auch von einer "Praxis der Freiheit" reden: | |
Einerseits ist "die Freiheit die ontologische Bedingung der Ethik, | |
andererseits ist die Ethik die reflektierte Form, die die Freiheit | |
annimmt". Das kann man auch "Existenzstil" oder "Lebenskunst" nennen. Von | |
dieser war heuer viel die Rede, in Berlin widmete sich ein ganzer Kongress | |
der "Lebenskunst", wobei es primär um "Ökologie", "Klima" und | |
"Nachhaltigkeit" ging. | |
Die von Foucault vorgeschlagene "Lebenskunst" findet im Sozialen statt: | |
"Paare, Gruppen, sogar (gelungene) Familien (so was gibt es) - was wäre | |
beneidenswerter?" fragte sich Roland Barthes, der dennoch in Bezug auf "das | |
Paar", das sich findet, von einem "Wahn" spricht: "Wir verbringen unser | |
Leben damit, uns von jemandem verzücken zu lassen, versuchen mit dem | |
anderen zu verschmelzen. Aber dann beginnt das Zusammenleben" - und dazu | |
brauche es eine "Ethik der Distanz", ein "Schweigen des Begehrens, | |
Gleichgültigkeit". | |
Doch indem ich das "Begehren des anderen abtöte, töte ich das Begehren zu | |
leben. Wenn mich der Körper des anderen nicht erregt oder wenn ich den | |
anderen niemals berühren kann - wozu dann noch leben? Der Kreis der Aporie | |
- der Auswegslosigkeit - ist damit geschlossen." | |
## In der Liebe hat man keine Wahl | |
Einen "Ausweg" bietet scheinbar die Polyamorie beziehungsweise die erneute | |
Partnersuche: "Die Wahl ist das entscheidende kulturelle Kennzeichen der | |
Moderne", behauptet Eva Illouz, die in Bezug auf die Liebessuche, forciert | |
durch Internetkontaktbörsen, von "romantischen Wahlentscheidungen" spricht. | |
Man wird heute permanent zur Wahl angestachelt: Nicht nur um den | |
attraktivsten Partner zu finden, sondern damit zusammenhängend auch den | |
besten Stromanbieter, den Mobilfunk mit den günstigsten Konditionen, den | |
Club mit den interessantesten Leuten, den Versicherungs- und Bankkonzern | |
mit den niedrigsten Tarifen usw. | |
Es geht jedoch gerade darum, diesen und anderen Wahlmöglichkeiten | |
auszuweichen, um den Kopf freizuhalten - und sich Gedanken über die Welt | |
und seine Mitmenschen und Mitlebewesen zu machen. Auch beim Verlieben | |
braucht es keine (romantischen) "Wahlmöglichkeiten", im Gegenteil geht es | |
dabei eher darum, jemanden zu finden, mit dem man möglichst viele | |
Gemeinsamkeiten hat bzw. findet. Gerade in der Liebe hat man eigentlich so | |
gut wie keine Wahl! | |
Nur Minderheiten sind produktiv, meinte Foucault, und jeder ist eine | |
Minderheit. Diese ganzen Gadgets dagegen sind etwas für Mehrheiten, die ihr | |
Leben verplanen - aus Angst vor dem Abenteuer. Kurzum: Es geht gerade | |
darum, keine Wahl zu haben - dann aber dagegen zu kämpfen. "Ich revoltiere | |
- also sind wir!", wie Albert Camus sich ausdrückte. | |
Erst im Werden eines "Wir" bekommt man das, was einem fehlt: die Aufhebung | |
aller Trennungen - zwischen Mann und Frau, arm und reich, islamisch und | |
christlich etc. Es fällt einem dabei geradezu in den Schoß, wie die | |
ägyptischen Aufständischen auf dem Tahrirplatz voller Verwunderung | |
bemerkten. Aber kann man sich das hier und heute überhaupt noch vorstellen? | |
In der Studentenbewegung gab es z. B. keine Ausländer, keinen einzigen, | |
während wir uns jetzt mit "Türken", "Arabern" und ähnlichem Bioquatsch | |
rumschlagen müssen. | |
## Giraffen oder Gänse gibt es nicht | |
In Wirklichkeit gibt es sie gar nicht - ebenso wenig Giraffen oder Gänse. | |
Jede Gans und jede Giraffe sind anders, sprechen eine andere Sprache. Es | |
ist eine Frage der Kommunikation, der Nähe, der Empathie. Erwin | |
Strittmatter schrieb 1992 über seinen Hof: "Allein über hundert Fohlen sind | |
hier geboren. Es gab nur eine Ponystute, mit der ich nicht ins Gespräch | |
kam." Anders gesagt: die Art "Russe" oder "Gans" ist ein Distanzproblem, es | |
gibt sie nur aus der Entfernung, ist bloß eine erste (optische) Annäherung | |
- bei der es freilich für die (statistischen) Mehrheiten bleibt, näher | |
kucken sie sich nur die Gadgets an, die sie wirklich kaufen wollen. | |
Die "geistig-moralische Wende", die in den Achtzigerjahren griff, hat es | |
jedoch geschafft, dass wir heute keine Internationalisten/Weltbürger mehr | |
sind, sondern in binären Logiken wie Täter/Opfer, Ausländer/Deutsche | |
verstrickt. Bereits in den Siebzigerjahren wich die Deterritorialisierung | |
der Reterritorialisierung. Zuvor hat man sich hier jedenfalls besser am | |
Mekongdelta als in Westberlin ausgekannt, denn es ging darum, in der Welt | |
zu sein und nicht in Kreuzberg oder Freiburg - womöglich sogar, um dort | |
richtig zu "leben" oder fest zu "wohnen". Laut Jean Baudrillard gibt es nur | |
noch Simulationen von Territorien. Gilt das auch für die im "Zwischenreich | |
von Narzissmus und Idealisierung" angesiedelte Liebe? Dann hat Slavoj Zizek | |
Recht: "Love is evil!" Er begreift das als positiv geladenes Gefüge. | |
23 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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