| # taz.de -- Trauer um Václav Havel: Dissidententum ist unsterblich | |
| > Václav Havel glaubte an die Moral in der Politik, an die Einmischung des | |
| > Bürgers, an Selbstlosigkeit und Solidarität. Eine letzte Laudatio am Tag | |
| > des Abschieds. | |
| Bild: Tausende nahmen am Trauerzug in Prag teil: Tschechien weint um seinen Rev… | |
| Václav Havel hat ein außergewöhnliches Vermächtnis hinterlassen, das nicht | |
| nur Politiker seines Landes, sondern in ganz Europa anregen könnte, wo es | |
| an engagierter Führung mangelt. | |
| Sein Tod bewirkt, dass Politiker, Kommentatoren, aber auch gewöhnliche | |
| Menschen in Tschechien sich plötzlich fragen: Waren Havels Appelle an Moral | |
| und Anständigkeit, die man mit dem Ende seiner Präsidentschaft 2003 mehr | |
| oder weniger vergessen hatte, nicht doch mehr als nur leeres Moralisieren, | |
| wie seine Gegner immer behauptet hatten? Nach seinem Tod avanciert Havel | |
| nun zu einer Person, die viele der aktuellen Probleme kommen sah. | |
| Havel war ein ungewöhnlicher Politiker, was vielleicht teilweise daher | |
| rührte, dass er 1989 von der Geschichte in die Politik katapultiert worden | |
| war. Wie eine Figur aus einem seiner absurden Theaterstücke wurde er am 29. | |
| Dezember 1989 Präsident der Tschechoslowakei, nur sechs Wochen nach Beginn | |
| der Samtenen Revolution. Ein paar Monate früher hatte er noch im Gefängnis | |
| gesessen. Es ist unmöglich, Havel, den Autor, von Havel, dem Dissidenten, | |
| oder Havel, dem Politiker, zu trennen. | |
| Aus einer der reichsten tschechischen Familien stammend und daher nach der | |
| Machtübernahme der Kommunisten 1948 wegen "falscher Klassenzugehörigkeit" | |
| verfolgt, machte Havel dieses Missgeschick wett, indem er sich als | |
| Stückeschreiber einen Namen machte, nur um nach 1968 erneut zum Paria zu | |
| werden. | |
| Schon seine ersten Stücke waren politisch, sie machten sich über den | |
| kommunistischen "Jargon" lustig. Auch während des Prager Frühlings blieb | |
| Havel ein Oppositioneller, der die Idee eines "Sozialismus mit menschlichem | |
| Antlitz" nie akzeptierte. Für ihn war eine gut ausgebildete liberale | |
| Demokratie die einzige Alternative zum Kommunismus. | |
| Als Dissident wurde Havel, weil inoffizieller Sprecher der | |
| antikommunistischen Opposition, zu einer Art Politiker. Im Augenblick des | |
| Siegs wurde er zum regulären Führer dieser Opposition. Doch er brachte auch | |
| nach 1989 seine "abweichenden" Standpunkte in die Politik ein. Er empfand | |
| zutiefst, dass Politiker Orientierung anbieten und Ideen formulieren | |
| sollten, ungeachtet der Konsequenzen, so wie er es während des | |
| kommunistischen Regimes gemacht hatte. | |
| ## Václav Havels Erbe | |
| ## | |
| Diese Haltung, die Havel "in der Wahrheit leben" nannte, ist vielleicht | |
| sein wichtigstes Erbe. Es fehlt schmerzlich - in Europa allgemein, in der | |
| Tschechischen Republik insbesondere. Havel war vielleicht einer der letzten | |
| einer nun verschwundenen Klasse von Politikern, eine echte | |
| Führungspersönlichkeit in außergewöhnlichen Zeiten, weil sein Engagement | |
| dem Allgemeinwohl und nicht dem Machterhalt galt. Ein Dissident als | |
| Präsident - das musste unorthodox sein. | |
| Anders als in den vielen Trauerreden und Kommentaren heute behauptet, in | |
| denen Havel als jemand beschrieben wird, der den Übergang zur Demokratie | |
| wesentlich geprägt habe, ist dieses erbärmliche Bild von Demokratie, das | |
| die tschechische Demokratie heute abgibt - mit ihrer in alle Bereiche | |
| reichenden Korruption, dem Mangel an politischer Führung und dem | |
| antieuropäischen Bekenntnis einiger ihrer Spitzenpolitiker - der Gegensatz | |
| von dem, was Havel wollte. | |
| Er war Gegner einer zynischen Politik, bei der politische Parteien wie | |
| Agenturen mächtiger Interessen agieren. Noch in der Zeit seiner | |
| Präsidentschaft sprach er von den Gefahren der Globalisierung, der | |
| Notwendigkeit globaler Verantwortung, seiner Vision von Europa als einem | |
| Bündnis von Staaten und Regionen. Und er beklagte in den letzten Jahren | |
| stets, dass Politiker fehlen, die sich der Risiken und Folgen dessen | |
| bewusst sind, was er als "sinnlosen" Fortschritt der Industriegesellschaft | |
| um jeden Preis ansah: Umweltzerstörung oder blanker Konsumismus. | |
| ## Demokratie braucht aktive Bürger | |
| Havel war Fürsprecher einer Demokratie, die auf einer starken | |
| Zivilgesellschaft und Moral basiert. Parteien würden zu Sekten, wenn sie | |
| sich dem Einfluss von unten verschließen, schrieb er. Ein demokratisches | |
| System basiere nicht allein auf Institutionen und Mechanismen der | |
| Gewaltenteilung; Demokratie benötige mehr als politische Parteien und freie | |
| Wahlen. Vor allem braucht sie Demokraten: aktive Bürger, die sich in der | |
| Öffentlichkeit engagieren und Selbstlosigkeit sowie Solidarität erweisen. | |
| Es überrascht nicht, dass Havels politische Gegner ihn in den letzten | |
| Jahren als naiven Moralisten abstempelten. Viele normale Bürger wandten | |
| sich von ihm ab, weil er ihnen ihre eigene fehlende Courage während des | |
| Kommunismus zurückspiegelte. Während Havel im Ausland weiterhin Respekt und | |
| Bewunderung fand, war seine Popularität zu Hause angekratzt. | |
| Weil Havel nicht durch die übliche parteipolitische Schule gegangen war, | |
| glaubte er oft, die Regeln des politischen Spiels nicht einhalten zu | |
| müssen. Er zeigte Verachtung für Kompromisse und moralische Ausflüchte. | |
| Während er im Ausland glänzte, galt Havel in seiner Heimat als in | |
| Zänkereien verstrickt. | |
| Seine Kritiker behaupteten, er habe an Intrigen und Hinterzimmerpolitik | |
| Geschmack gefunden, um seine Ziele zu erreichen. Andere warfen ihm vor, | |
| "unpolitische Politik" zu machen - ein Verständnis von Demokratie, das aus | |
| Dissidentenzeiten rührte, dessen Protagonisten Parteien durch | |
| zivilgesellschaftliche Kräfte ersetzen wollen. | |
| In Wahrheit wurde Havel in die tägliche Politik hineingezogen, weil ihm die | |
| tschechische Verfassung keine Wahl ließ. Er musste Beamte ernennen, | |
| Premierminister bestellen, Orden verleihen, Reden halten. Es stimmt, er | |
| provozierte die Parteichefs mit seiner oft unorthodoxen Herangehensweise. | |
| Vielleicht kann nur so ein origineller und unorthodoxer Mensch wie Havel | |
| ein politischer Führer in revolutionären Zeiten werden. Revolutionen | |
| erfordern moralische Klarheit und feste Überzeugungen. Aber das Erringen | |
| der Macht hat seinen Preis. | |
| Aus dem Englischen von Sabine Seifert. | |
| 23 Dec 2011 | |
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