# taz.de -- Am Kotti: Wo Widersprüche weiterleben | |
> Seit zwei Jahren erfährt das Kottbusser Tor eine Aufwertung. Den Versuch | |
> zumindest. Neben neuen Designern schätzen auch Junkies weiter den Platz. | |
> Ein Streifzug | |
Bild: Kommt die Aufwertung? Oder bleibt alles beim alten? Am Kottbusser Tor. | |
Holger Stenzel* wankt, aber die Telefonzelle bietet Halt. "Der Kotti ist | |
wieder Nummer eins", sagt der Mann mit den hochgestachelten Haaren. | |
"Inzwischen sind alle von uns wieder hier." Man ist unsicher, ob das Fakt | |
oder Prahlerei ist, aber Holgers Kompagnon Martin Lemke* nickt. Als die | |
Polizei am Kotti so aufgedreht habe, seien sie runter zum Hermannplatz. | |
Aber da sei es jetzt noch schlimmer. Sogar der Markt am U-Bahn-Ausgang habe | |
Securities angeschafft. | |
Der Wind ist ungemütlich an diesem Nachmittag am Kottbusser Tor. | |
Weihnachten ist anderswo. Nur ein paar Lichterketten umschlingen die | |
wenigen, mickrigen Bäumchen. Die "Christliche Sucht- und Lebensberatung" | |
verteilt an einem Klapptisch Tee. | |
Lemke und Stenzel halten sich von dem Tisch fern. Sie haben dicke Jacken | |
an, Stenzel trägt sie offen. Korn und Brause haben sie in der Telefonzelle | |
abgestellt. Zum Methadonholen sei er gekommen, erzählt Lemke und zieht an | |
seiner Zigarette. Dann habe er den Tag eben am Kotti verbracht. | |
Eigentlich dürften Lemke und Stenzel hier gar nicht mehr sein. Denn das | |
Kottbusser Tor erfährt seit gut zwei Jahren eine Aufwertung. Zumindest den | |
Versuch. Seit Jahren listet der Berliner Sozialatlas die Gegend als "sehr | |
niedrig entwickelt". 72 Prozent der Bewohner haben Migrationshintergrund, | |
rund die Hälfte bezieht Hartz IV. Seit 30 Jahren sind Junkies und Trinker | |
Bestandteil des Kotti. Bis 2009 auch türkische Familienväter über eine | |
Kiezwehr berieten, wegen der vielen Urinlachen und Spritzen. | |
Nun berät ein runder Tisch aus Quartiersräten, Politikern und Initiativen. | |
Die BVG hat den U-Bahnhof seit Herbst komplett mit Kameras bestückt, die | |
Polizei ihre Streifen und Razzien gegen die Dealer verstärkt. Der Bus der | |
Drogenhilfe Fixpunkt wurde um einige hundert Meter verlegt. Das | |
Gesundheitszentrum mit "Druckraum", kündigt Bezirksbürgermeister Franz | |
Schulz (Grüne) an, soll im Frühjahr 2012 in der Reichenberger Straße | |
eröffnen. Für die Trinker werde ab der zweiten Jahreshälfte ein | |
"Aufenthaltsbereich" unter der Hochbahn gebaut. "Mit Kiosk, Toiletten, | |
Sitzmöglichkeiten", wirbt Schulz. Und einer Hecke drum herum. "Damit | |
Angetrunkene nicht auf die Straße laufen." | |
Den Kotti aufwerten - geht das überhaupt? | |
Verschwunden sind Fixer und Trinker nicht. Nur weniger sichtbar. Am Ende | |
des Bahnhofs sitzen sie hinter Säulen. Oder am Ausgang Reichenberger, vor | |
dem Späti. Lemke erzählt von regelmäßigen Platzverweisen. Einmal, ergänzt | |
Stenzel, habe er der Polizei widersprochen. "Da hatte ich die Acht auf m | |
Rücken und ne Anzeige wegen Widerstand." | |
"Ruhiger isses", sagt die Frau vom Backstand im U-Bahnhof. Könne aber auch | |
an den Bauarbeiten liegen. "Mit Junkies oder ohne - ich fands vorher jut, | |
ich finds jetzt jut." Die Frau reicht eine Streuselschnecke über den | |
Tresen, ein Euro. "Hier wird sogar noch eher geholfen, wenns Ärger gibt", | |
sagt sie. Neben ihrem Stand leert ein Typ in Rockerjacke sein Restbier auf | |
den Boden. | |
Mehmet Pugar, der Obstverkäufer oben an der Adalbertstraße, bemerkt vor | |
allem die vielen Touristen. "Mit einem Infostand könnte man richtig Jobs | |
schaffen", sinniert der Mann in der blauen Steppweste. Er wechselt ins | |
Türkische und verkauft einer Kundin mit Kopftuch Orangen. Früher seien 80 | |
Prozent der Kunden Türken gewesen, erzählt Pugar. Heute kämen immer mehr | |
Deutsche. Im Sommer sei der Stand 24 Stunden geöffnet gewesen. "Sie glauben | |
nicht, wie viele nachts um drei noch kommen." | |
Auch im Café Kotti, in der ersten Etage des Wohnkolosses Zentrum Kreuzberg, | |
redet man über Touris. Jazz läuft, Türken paffen auf Sesseln Zigaretten, | |
zwei Jungautonome diskutieren über den Verfassungsschutz. Auf dem Tresen | |
eine Sammeldose "für Gefangene". Welche auch immer. "Diesen Sommer wars | |
anders als in den Vorjahren", bemerkt die Barfrau mit den | |
Schmetterlingsohrringen. "Viele Spanier und Italiener." Und noch nie habe | |
sie so viel Sojamilch verbraucht. Man sei sich noch uneinig, wie man das | |
finde, sagt sie und gießt frische Pfefferminze auf. "Die Touris, das | |
schafft ja auch Begegnung." Trotzdem bleibt Skepsis. Die Idee mit den | |
Trinkern und der Hecke, "das ist schon skurril". | |
Franz Schulz, der Bürgermeister, überlegt etwas länger, bevor er etwas zum | |
Kotti sagt. "Wir wollen einen offeneren, sicheren Platz. Einen Ort, an den | |
die Leute gern gehen", sagt er dann vorsichtig. Schulz weiß von der | |
Kehrseite: Schon klagt eine Mietergruppe, "Kotti und Co", über | |
Mietsteigerungen, vor allem in den südlichen Wohnblöcken. Dort treffe es | |
gerade türkische Anwohner, so die Initiativler. | |
"Niemand will der Verdrängung das Wort reden", sagt Schulz. Der Kotti werde | |
"seinen spröden Charme, seine Widersprüche" bewahren. Aber Konflikte | |
müssten gelöst werden. Schulz preist den runden Tisch. Heute sei man sich | |
mit den Anwohnern einig, dass auch Trinker und Junkies zum Kotti gehörten, | |
Verdrängung keine Lösung sei. "Kein selbstverständliches Ergebnis." Der | |
Grüne will künftig nicht nur über die Drogenproblematik beraten, auch über | |
Städtebauliches, Soziales. | |
Einen Teil der Zukunft trifft man auf der Galerie des Zentrums Kreuzberg. | |
Designer, Schneider, Künstler, ein DJ-Laden reihen sich aneinander. | |
Apple-Laptops stehen auf Tapetentischen. In einem kargen Raum sitzt Mark | |
Kerves*, Bühnenbildner. Er formt ein Modell, das Radio läuft. Eigentlich, | |
sagt Kerves, sei die Miete schon zu hoch. Die Lage mache das aber wett. | |
Mittendrin, bester Anschluss. | |
Seit drei Jahren sei er hier, erzählt der Lockenkopf. Klar gehe es seitdem | |
bergauf. "Vernünftige Leute" zögen her, "bisher wandelts sich aber zum | |
Guten." Schickimicki werde der Kotti nicht. "Dafür fehlt das Publikum." | |
Kerves erinnert an die Ursprungsidee des Zentrums. Hängende Gärten hatten | |
die Planer im Sinn, ein Freilichttheater, Orte der Begegnung. Am Ende wurde | |
es doch nur ein Wuchtbau. Heute mischen sich Büros und Galerien mit | |
Teestuben und Falafelläden, unten prosten sich die Junkies zu. Vielleicht, | |
murmelt Kerves, sei das Zentrum der Ursprungsidee nie näher gewesen. | |
* Name geändert | |
24 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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