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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Genug statt mehr
> Mit den Methoden der industriellen Landwirtschaft ist die
> Welternährungskrise auch in Zukunft nicht zu bewältigen. Wir müssen
> umdenken.
Bild: Anna Semukha (74 Jahre) aus Weissrussland beim Aussäen von Weizen.
Dreht sich die Erde um die Sonne oder umgekehrt? Paradigma nennt man in der
Wissenschaft eine Grundannahme, die vorgibt, was gefragt, bewiesen und
überprüft wird. Paradigmen markieren den Fragehorizont, auf den sich die
Mehrheit der Wissenschaftler einigt, um Erkenntnisse und Beweise
einzuordnen. Ein Paradigma wird nicht schon abgelöst, wenn seine
Grundannahmen widerlegt sind. Es muss auch eine Alternative sichtbar sein,
die den Stand des Wissens besser integriert.
Im agrarpolitischen und -wissenschaftlichen Diskurs ist gegenwärtig ein
solcher Paradigmenwechsel zu beobachten. Zur Disposition steht nicht
weniger als das seit Ende des 19. Jahrhunderts alles überragende Ziel, mit
stets fallendem Aufwand mehr zu produzieren. Unaufhaltsam wächst die
Erkenntnis, dass die „externen“, ökologischen wie sozialen, Kosten
steigender Produktion deren Grundlage gefährden.
Was daraus folgt, ist noch umstritten. Doch die Umkehr gilt mittlerweile
als unabweisbar: Ökologische Kosten und begrenzte Ressourcen zwingen zur
massiven Reduktion von Klimagasemissionen und beim Einsatz von Pestiziden
und Mineraldünger, fossilen Energien und knappen Süßwasserreserven;
desgleichen zur systematischen Vermeidung von Abfall, Verlusten und
Verschwendung und zur Abkehr von gesundheitlich und ökologisch schädlichem
Konsum, für den sich der Begriff der „western diet“ eingebürgert hat.
Bei alledem geht es nicht nur um eine bislang unerhörte Kritik am
unbegrenzten Wachstum der Tierproduktion, genannt Veredelungswirtschaft,
als dem eigentlichen Motor industriellen Agrarwachstums. Es geht vielmehr
darum, Produktion und Verbrauch samt seiner privatwirtschaftlichen wie
staatlichen Beeinflussung als ein System zu betrachten.
## Abschied von der fossilen Landwirtschaft
Eine Binsenweisheit? Nicht für die traditionelle Agrar- und
Ernährungswissenschaften, denen die Nachfrage (und deren unausgesprochenes
Pendant: der Hunger) als naturgegeben galten. Die betrachteten es als die
zentrale Aufgabe der Agrartechnik („dem Ingenieur ist nichts zu schwör“),
die Anpassung der Umwelt an die Erfordernisse der Produktionstechnologien
zu gewährleisten, und zwar mittels „Technologietransfer“ von oben
(Wissenschaft/Industriestaaten) nach unten (Landwirte/Entwicklungsländer).
Dass dieses Konzept grandios gescheitert ist, gilt in der
Entwicklungspolitik schon jetzt als ausgemacht. Abzuwarten bleibt, wann die
Erkenntnis folgt, wie kontraproduktiv diese Kommandowirtschaft auch in den
Industriestaaten ist, wo sie privatwirtschaftlich etwas effizienter
organisiert und staatlich hoch subventioniert wird. Der geistige Abschied
von der fossilen, industriellen Landwirtschaft der letzten 50 Jahre hat
jedenfalls begonnen.
Im Auftrag von UNO und Weltbank haben rund 500 Wissenschaftler aus 86
Ländern im Weltagrarbericht 2008 die Konzepte der letzten Jahrzehnte
vernichtend kritisiert.(1) Der Bericht kommt zu dem Fazit: „Weiter wie
bisher ist keine Alternative.“ Mit Methoden der industriellen
Landwirtschaft in Europa, Amerika und Ozeanien und der grünen Revolution in
Asien mit ihren chemie- und ölabhängigen Monokulturen sei die Zukunft nicht
zu bewältigen. Man könne nicht die globale Kalorienproduktion zu immer
neuen Rekorden pushen, zugleich aber eine Milliarde Menschen hungern
lassen.
Die Industrie und Agrarlobby samt ihrer Landwirtschaftsministerien, aber
auch die Initiatoren Weltbank und FAO und viele Wissenschaftler, denen die
unbequemen Wahrheiten wie eine Nestbeschmutzung erschienen, reagierten
zunächst auf die übliche Weise: ignorieren, abwerten, lächerlich machen.
## Großes Vorbild: Die Kleinbäuerin
Drei Jahre später gehören die Botschaften des Weltagrarberichts zum
Standard wissenschaftlicher und politischer Analyse. Zum Beispiel
bestreiten nur noch Ewiggestrige, dass es, wenn wir von Raubbau auf
Nachhaltigkeit umschalten wollen, auf die Kleinbäuerinnen dieser Welt
ankommt, die als Subjekte postindustrieller Innovation statt als
vorindustrielle Restposten zu gelten haben. Und dass die industriellen
Monokulturen und der gegenwärtige Pestizid- und Mineraldüngereinsatz auf
einen Kollaps zusteuern, den aufzufangen immer weniger Zeit bleibt,
bestreiten nur noch wenige, wenn auch mächtige Gruppen. Selbst das
sozialismusverdächtige Konzept der Ernährungssouveränität, wie es der
Weltagrarbericht erstmals definiert, beginnt sich durchzusetzen.(2)
Maßgeblich an diesem Umdenken beteiligt ist ein Mann, mit dem ich mich seit
Jahren über eine symbolbeladene Glaubensfrage der Agrarpolitik streite. Für
Professor Jules Pretty von der Universität Essex ist die Agrogentechnik
Teil der Lösung, für mich bleibt sie Teil des Problems.
Pretty wandert gern durchs schottische Hochland und träumt dabei von einer
„Ecolution“. Wobei er sich fragt, ob diese zum „Survival of the Greenest�…
oder doch wieder nur zum Überleben der Reichen führt. 2001 schrieb er im
Auftrag von Greenpeace und Brot für die Welt eine wegweisende Studie über
kleinbäuerliche Formen nachhaltiger, agrarökologischer
Ertragssteigerung.(3)
## Die Sorge ums tägliche Brot erreicht die Metropolen
Pretty ist nicht nur ein passionierter Jäger und Sammler von empirischen
Beispielen wegweisender Veränderung, sondern auch ein mit allen Wassern
gewaschener Stratege. Anders als sein US- Kollege Miguel Altieri – der
„Erfinder“ des Konzepts der Agrarökologie – vermeidet Pretty es stets, s…
außerhalb des Konsenses der „herrschenden Lehre“ und ihrer Institutionen zu
stellen.
Prettys jüngste Kreation ist der Begriff „nachhaltige Intensivierung“, der
nicht nur semantisch listig gewählt ist.(4)
Für das Establishment bedeutet „Intensivierung“ noch immer: mehr Output
durch mehr Input. Dass Pretty unter Input nicht mehr Energie, Chemie und
Maschinen versteht, sondern natürliche Vielfalt, Wissen, menschliche Arbeit
und demokratische Beteiligung, wird bequemerweise ignoriert. Oder als
Billigstrategie für Subsistenzbauern interpretiert, die für den Markt
irrelevant sind, aber dennoch tunlichst nicht hungern und rebellieren
sollten.
2010 finanzierte ausgerechnet die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung
Recherchen des World Watch Instituts über „Innovationen, die die Welt
ernähren“, die eindrucksvoll belegen, welch gewaltige Fortschritte kleine,
agrarökologische Projekte in Afrika bewirken. Nur eine Schwalbe, die noch
keinen Frühling macht? Olivier de Schutter, UN-Beauftragter für das Recht
auf Nahrung, hält den Beweis für erbracht, dass man binnen fünf Jahren die
Erträge von 500 Millionen Kleinbauern dieser Welt nachhaltig verdoppeln
könnte.(5) Dies zu versprechen trauen sich nicht einmal die kühnsten
Gentechnik- und Pestizid-Apostel.
## Wachstum ist das falsche Stichwort
Im Mai 2011 präsentierte die EU-Kommission in Budapest einen
Zukunftsbericht ihres Ständigen Ausschusses für Agrarforschung (Scar) zum
Thema: „Nachhaltiger Verbrauch und Produktion in einer Welt begrenzter
Ressourcen“.(6) Darin heißt es: „In Europa ist ein radikaler Wandel bei
Verbrauch und Produktion von Lebensmitteln unumgänglich, um […] das
europäische Lebensmittelsystem in Zeiten wachsender Instabilität und
Unwägbarkeit widerstandsfähiger zu machen.“ Die Sorge ums tägliche Brot von
morgen hat die Metropolen erreicht.
Der Scar-Bericht fordert eine radikale Wende in der Landwirtschaftspolitik
und der Agrarforschung. Künftiger Schwerpunkt müsse der Mangel, nicht das
Wachstum sein: der Mangel an Lebensmitteln und natürlichen Ressourcen, aber
auch an Wissen und verfügbarer Zeit, um sich auf möglicherweise abrupte
Systemveränderungen einzustellen. Schon die Entwicklung der einzelnen
Faktoren sei alarmierend, völlig unberechenbar seien jedoch die
nichtlinearen Folgen von sich gegenseitig verstärkenden
Rückkoppelungseffekten.
Der Scar-Bericht unterscheidet zwei gegensätzliche Ansätze der
Agrarforschung: das produktivistische Paradigma, das nach wie vor auf
Produktionssteigerung plus etwas mehr ökologische Effizienz setzt; und das
Suffizienz-Paradigma, das sich am Erforderlichen und Verfügbaren
orientiert. Gefordert wird die Entwicklung „radikal neuer Agrarsysteme“
nach dem Grundsatz, nicht mehr als nötig und so effizient wie möglich zu
produzieren. Letztlich seien Produktion und Verbrauch nicht am monetären
Wachstum zu messen, sondern an ihrem Beitrag zu Wohlergehen und Gesundheit
der realen Menschen.
## Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation
Und es gibt weitere Beispiele: Der Wirtschafts- und Sozialbericht der UN
fordert die „große grüne Technologie-Transformation“(7) und ein „System
nachhaltiger Agrarinnovation“ im Sinne der Empfehlungen des
Weltagrarberichts. Er hält fest, dass „für die meisten Anbaufrüchte kleine
Höfe die optimale Größe bieten“ und auch in Sachen „nachhaltiger
Ertragssteigerungen und Bekämpfung ländlicher Armut die besten Resultate
versprechen“.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für globale Umweltfragen
(WBGU) empfiehlt einen neuen „Gesellschaftsvertrag für eine Große
Transformation“(8).( )Die Landwirtschaft müsse den Erfordernissen des
Klimawandels angepasst werden, etwa durch Besteuerung der Lebensmittel nach
ihrer Ressourcenintensität. Und das Büro des Deutschen Bundestags für
Technologiefolgeabschätzung fordert in einem Bericht die Abkehr von der
„Mengenperspektive“ und ein ganzheitliches Ernährungskonzept.(9)
Die Einleitung zu einer programmatischen Schrift der
Welternährungsorganisation (FAO)hat niemand anders als der indische „Vater
der Grünen Revolution“, M. S. Swaminathan, verfasst. Darin heißt es: „Das
gegenwärtige Paradigma intensiver Pflanzenproduktion wird den
Herausforderungen des neuen Jahrtausends nicht gerecht. Um zu wachsen, muss
die Landwirtschaft lernen, zu sparen und zu erhalten.“(10)
## Weniger Dünger, weniger Pestizide
Zwar besteht die FAO, im Scar-Bericht noch als Verfechterin des
Produktivismus präsentiert, auf Produktionssteigerungen, aber sie fordert
nicht mehr pauschal eine Steigerung der globalen landwirtschaftlichen
Produktion um 70 Prozent, sondern eine Verdoppelung der
Lebensmittelproduktion in den Entwicklungsländern – eine quantitativ wie
qualitativ bemerkenswerte Neubestimmung.
Desgleichen fordert die FAO einen massiv reduzierten Einsatz von
Mineraldünger und Pestiziden. Das von Pretty übernommene „neue Paradigma“
der „nachhaltigen Intensivierung des Anbaus“ (sustainable crop production
intensification, SCPI) setzt vor allem auf Mulchen, Leguminoseneinsatz,
Fruchtwechsel und pfluglose Bodenbearbeitung, und auf Agrarökosysteme statt
Einzeltechnologien. Die Bodenfruchtbarkeit wird zur zentralen Kategorie der
Intensivierung durch ökologische Methoden, etwa auch bei Agroforstsystemen.
Und das Loblied auf Hochleistungssorten wird ergänzt durch die Forderung
nach Beteiligung der Bauern und Integration ihrer traditionellen Sorten und
Wissenssysteme. Das „antigemeinschaftliche“ Patentsystem wird ebenso
angezweifelt wie die Fähigkeit der sechs globalen Agrochemie-Giganten, die
am dringendsten benötigten Produkte zu liefern und die auch an weniger
zahlungskräftige Abnehmer.
„Und sie bewegt sich doch!“, möchte man frohlocken. Wäre da nicht die
eklatante Diskrepanz zwischen den neuen Tönen und dem realen Geschehen in
Markt und Politik. Ungeachtet der diskutierten Auswege aus der Sackgasse
industrieller Landwirtschaft galoppieren die Märkte in exakt die
entgegengesetzte Richtung davon: Der Lebensmittelpreisindex liegt heute
über den bisherigen Rekordmarken des Jahres 2008, angeheizt durch Biosprit,
Agrarspekulation und die neokoloniale Landnahme von Investoren, die den
künftigen Mangel als tolles Geschäft sehen. Auch im Hinblick auf die zur
Entscheidung anstehende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU scheint
die einmalige Chance eines politischen Paradigmenwechsels fast schon
vertan. Jedenfalls wenn man die Vorschläge der Kommission und die
Reaktionen der Agrarminister und des Europäischen Parlaments betrachtet:
keine klaren Umwelt- und Nachhaltigkeitsziele, keine Perspektive für die
Kleinbauern Europas, die zu Millionen vor dem Aus stehen, kein Ausstieg aus
dem unanständig billigen Import von Agrarrohstoffen aus – ökologischen oder
humanitären – Krisenregionen, keine Abschaffung der Exportsubventionen für
Veredelungsprodukte.
Dennoch und trotz aller Vereinnahmungsversuche durch industrielle und
institutionelle „greenwasher“ ist die hier beschriebene Paradigmendämmerung
ein Grund zur Hoffnung. Zu wissen wohin die Reise gehen muss, ist zwar
keine hinreichende, aber doch eine unverzichtbare Voraussetzung für
engagiertes Handeln.(11)
Fußnoten:
(1) International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and
Technology for Development (IAASTD), „Agriculture at a crossroads“, 2009:
[1][www.agassessment.org]. Der komplette Weltagrarbericht und alle hier
erwähnten Studien unter: [2][www.weltagrarbericht.de].
(2) „Ernährungssouveränität“ ist demnach „das Recht von Menschen und
souveränen Staaten, auf demokratische Weise ihre eigene Agrar- und
Ernährungspolitik zu bestimmen“.
(3) Die mehrfach fortgeschriebene Bestandsaufnahme von 286 Beispielen aus
Asien, Afrika und Lateinamerika, die 12,6 Millionen Kleinbauern erfasst,
ist heute ein Standardwerk: Jules Pretty und andere, „Resource-conserving
agriculture increases yields in developing countries“:
[3][pubs.acs.org/doi/full/10.1021/es051670d].
(4) Foresight, „The future of food and farming: Challenges and choices for
global sustainability“. Final Project Report, Government Office for
Science, London 2011.
(5) Olivier de Schutter, „Agroecology and the right to food“, Report
presented at the 16th Session of the United Nations Human Rights Council,
2011.
(6) Ständiger Ausschuss für Agrarforschung der Europäischen Union (Scar),
„Sustainable food consumption and production in a resource-constrained
world“, 2011.
(7) World Economic and Social Survey 2011, „The Great Green Technological
Transformation“.
(8) Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale
Umweltveränderungen (WBGU), „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für ei…
Große Transformation“, 2011.
(9) Büro für Technologiefolgeabschätzung beim deutschen Bundestag (TAB),
„Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems – Ansatzpunkte,
Strategien, Umsetzung“, TAB-Arbeitsbericht, Nr. 142, Berlin 2011.
(10) FAO, „Save and grow – A policymaker’s guide to the sustainable
intensification of smallholder crop production“ („save“ hat hier die
doppelte Bedeutung von „sparen“ und „erhalten“), 2011.
(11) Siehe [4][www.meine-landwirtschaft.de].
[5][Le Monde diplomatique] vom 9.12.2011
1 Jan 2012
## LINKS
[1] http://www.agassessment.org/
[2] http://www.weltagrarbericht.de/
[3] http://pubs.acs.org/doi/full/10.1021/es051670d
[4] http://www.meine-landwirtschaft.de/
[5] http://www.monde-diplomatique.de
## AUTOREN
Benedikt Haerlin
## TAGS
Landwirtschaft
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