# taz.de -- Kommentar Merkels Koalition 2012: Sieg des Stoizismus | |
> In Angela Merkels Kosmos kommt das Wort "Krise" nicht vor, Eskalationen | |
> ebenso wenig. Und die Nichtexistenz der FDP münzt sie konsequent in | |
> eigene Stärke um. | |
Bild: Je stärker es brennt in der Koalition, desto kühler wird Angela Merkel. | |
Die Hunde bellen, doch die Karawane zieht weiter. Was Helmut Kohl einst | |
kritischen Journalisten zuraunzte, weiß auch Angela Merkel. Sie hat das | |
Kohlsche Aussitzen perfektioniert. | |
Die Plagiatsaffäre zu Guttenbergs, Wahlpleiten wie in Baden-Württemberg, | |
die Kehrtwende in der Energiepolitik, der ständige Streit über die | |
Europapolitik und milliardenschwere Rettungspakete, die fortgesetzte | |
Selbstzerstörung der FDP, zuletzt ein Bundespräsident, der alles moralische | |
Kapital des Amtes verspielt - 2011 wird als das Jahr in Erinnerung bleiben, | |
in der die Koalition fast im Wochentakt in neue Krisen stürzte. | |
Dennoch zieht die schwarz-gelbe Karawane weiter ins neue Jahr. Mit einer | |
Kanzlerin Merkel an der Spitze, die langsam und stetig durch die Wüste | |
stapft, unbeeindruckt von dem sich prügelnden Haufen hinter ihr. Und es | |
spricht sehr viel dafür, dass das erst mal so bleibt. Wie viele | |
Kommentatoren in den Medien haben ihr im vergangenen Jahr das vorschnelle | |
Ende ihrer Amtszeit prophezeit - Merkel ist gerade dabei, sie Lügen zu | |
strafen. Warum steht die Kanzlerin nach diesem Jahr so gut da? | |
Ein Grund dafür liegt in ihrem Naturell. Merkels berühmte Nüchternheit geht | |
mit einem unerschütterlichen Stoizismus einher, der das, was anderen | |
Parteistrategen Herzrasen verursacht, als irrelevant ignoriert. Je stärker | |
es brennt in der Koalition, desto kühler wird sie. In Merkels Kosmos kommt | |
das Wort "Krise" nicht vor, Eskalationen ebenso wenig. Deshalb kommt es im | |
persönlichen Gespräch Merkels mit Journalisten zu erstaunlichen | |
Diskrepanzen, zwischen aufgeregten Fragen nach der Zerrüttung der Koalition | |
hier, und den abgeklärt-sachlichen Antworten da. Krise, welche Krise? | |
Und, noch wichtiger: Zwischen dem desaströsen Zustand der Koalition und dem | |
Regieren besteht für sie kein zwingender Zusammenhang. So hat Merkel die | |
Krise der irrlichternden FDP als Dauerzustand akzeptiert, über die sie auch | |
dann kein Wort verliert, wenn sich mit Christian Lindner ihr fähigster Kopf | |
in den vorläufigen Politruhestand verabschiedet. Unangenehm das alles, ja, | |
aber eben nicht zu ändern. Und wenn sich tatsächlich etwas verhakt wie bei | |
der Vorratsdatenspeicherung, über die Union und FDP seit Monaten erbittert | |
streiten, wird eben erstmal nichts gemacht. | |
Wichtig ist für die Zukunft von Schwarz-Gelb die enorme Bindewirkung | |
zwischen Merkel und der FDP, die taktischen Motiven folgt. Die Kanzlerin | |
will ihr Schicksal nicht davon abhängig machen, ob sich die SPD in eine | |
große Koalition locken lässt. Und sie weiß, dass die Freidemokraten | |
umgekehrt an sie gekettet sind, weil ein Ausscheiden aus der Koalition im | |
Moment ihr politisches Todesurteil wäre. | |
Das gilt auch fürs neue Jahr, zumal Merkel die Nichtexistenz der FDP | |
konsequent in eigene Stärke ummünzt. Selten hat ein Kanzler in einer | |
Koalition so unangefochten den Ton angegeben wie Merkel, der plumpe | |
Dominanzgesten zuwider sind. Selbst von dem moralisch diskreditierten | |
Bundespräsidenten wird sie profitieren. Weil er nur dank ihres Rückhalts im | |
Amt bleibt, weil er in Zukunft noch stärker als Diskursinstanz ausfällt, | |
als bisher schon. | |
Wie stabil das schwarz-gelbe Bündnis auch 2012 bleiben könnte, lässt sich | |
am besten an der Europapolitik fest machen. Lange nahmen die | |
koalitionsinternen Zerreißkräfte bei diesem Thema ständig zu, weil selbst | |
die zögerliche und latent verspätete Rettungstaktik, zu der sich Merkel | |
durchrang, die Vertreter der reinen ordnungspolitischen Lehre in der FDP | |
überforderte. | |
Seit dem Mitgliederentscheid, den der FDP-Vorstand um Philipp Rösler knapp | |
für sich und den Regierungskurs entschied, sieht es anders aus. Der | |
angeschlagene Rösler kann jetzt nicht mehr ausscheren, ebenso wenig der | |
Rest des Parteivorstands. Seine politische Zukunft ist auch mit dem | |
Europakurs der Regierung verknüpft. | |
Und den wird weiter Merkel vorgeben. Wenn im neuen Jahr wichtige | |
Entscheidungen zu Europa anstehen, etwa die über den Europäischen | |
Stabilitätsmechanismus, muss Rösler deshalb alles tun, damit die FDP in | |
ihrem Sinne funktioniert. Wieder einmal ist die Schwäche des anderen ihre | |
Stärke. Oppositionsspitzen, die in kleiner Runde über das vorzeitige Ende | |
der Koalition spekulieren, freuen sich deshalb zu früh: Merkels Koalition | |
erweist sich im Zweifel auch 2012 als stabiler, als sie zu sein scheint. | |
1 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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