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# taz.de -- Erinnerung an Klaus Schlesinger: Im Radius von fünf Kilometern
> Der Schriftsteller, Journalist und Anarchist Klaus Schlesinger wäre heute
> 75 Jahre alt geworden. Eine gelungene und erfrischende Biografie erinnert
> an ihn.
Bild: Bürgerlichkeit im Sinne politischer und kultureller Anpassung hat ihn ni…
Im Oktober 1980 tauchte er erstmals in der Wattstraße auf, in den
Redaktionsräumen der taz in Berlin-Wedding. Mit seinen wilden grauen Haaren
und dem Vollbart erinnerte er – ob er es wollte oder nicht, war unklar – an
Karl Marx.
Es stellte sich heraus, dass er Klaus hieß, Schriftsteller war und aus der
DDR kam. Da wir jungen taz-Redakteure weder über die DDR noch über
Literatur viel wussten, konnten wir mit seinem Nachnamen "Schlesinger"
nichts anfangen.
Klaus arbeitete in den Abend- und Nachtstunden, nachdem die Produktion der
taz abgeschlossen war, an Sonderseiten, die den Titel "Literataz" trugen
und alle drei, vier Monate in die Zeitung eingefügt wurden. Zu den
Redakteuren der Beilage zählten seine Kollegen Hans Christoph Buch und
Helga Nowak, und, wenn ich es recht erinnere, György Dalos. Das autonome
Redaktionskollektiv veröffentlichte Gedichte von Wolf Biermann, Kurt
Bartsch oder Adolf Endler und Prosa von Monika Maron, Uli Plenzdorf, Peter
Schneider oder Wolfgang Hilbig.
Klaus war Mitte 40, an die 20 Jahre älter als wir, sprach mit diesem
schönen Berliner Akzent, der in West-Berlin nur mehr selten zu hören war,
und rauchte unablässig französische Gitanes. Er kam aus einem Land, das uns
West-Berliner Linksradikalen fremder war als Frankreich oder England,
obwohl wir es jeden Tag mit der U-Bahn auf dem Weg von Kreuzberg zur
taz-Redaktion unterquerten: die Deutsche Demokratische Republik.
Erst zehn Jahre nachdem er in der taz aufgetaucht war, las ich den Satz,
der ein Schlüssel zu Klaus Schlesingers Leben und Werk ist; in der 1990
veröffentlichten "persönlichen Chronik" mit dem Titel "Fliegender Wechsel":
"Ohne meinen Lebenskreis, der einen Radius von höchstens fünf Kilometern
hatte, jemals für längere Zeit als vier Wochen zu verlassen, habe ich die
Nachteile dreier Gesellschaftssysteme erfahren können."
Dieser Satz sagt zum einen, dass Schlesinger durch und durch ein Berliner
Schriftsteller war. Der Mittelpunkt seines Lebenskreises lag etwa beim
Alexanderplatz. Er wuchs in der Dunckerstraße in Prenzlauer Berg auf, als
Berlin Reichshauptstadt war; er hatte in der Hauptstadt der DDR gelebt, in
West-Berlin und in der wieder vereinigten deutschen Hauptstadt.
Zum anderen offenbart das unelegante Wort "Gesellschaftssysteme", dass
Schlesinger ein politischer Schriftsteller war, für den der Untergang, die
Teilung und Vereinigung Deutschlands und seiner Heimatstadt Berlin mehr
waren als die Kulisse für seine Erzählungen und Romane. Das deutsche Drama
des 20. Jahrhunderts führte ihn zu einem Anarchismus mit sozialistischem
Unterbau.
## Gegner von größeren Geburtstagsfeiern
Klaus Schlesinger, der im Mai 2001 gestorben ist, wäre heute 75 Jahre alt
geworden. Als Gegner von größeren Geburtstagsfeiern hätte er dies wohl
weitgehend ignoriert. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es ihn übermäßig
gefreut hätte, dass die Literaturwissenschaftlerin Astrid Köhler jetzt eine
Biografie über ihn vorgelegt hat.
Obgleich er auch Menschen verehrte, wie etwa seinen väterlichen Freund
Stefan Heym, hatte er eine tiefe Abneigung gegen Personenkult und
Autoritäten aller Art. Er empfand es selbst als zwanghaft, aber konnte
nicht anders, als immer wieder gegen Vorgegebenes und Vorgesetzte zu
rebellieren.
Deshalb war es nicht verwunderlich, dass er sich in West-Berlin nicht von
der Konrad-Adenauer-Stiftung als Dissident feiern ließ, sondern 1981
schnell seinen Weg zu den Hausbesetzern fand. In den besetzten Häusern in
Berlin-Schöneberg, in der Winterfeldtstraße, lernte ich Klaus Schlesinger
näher kennen, als sympathischen, überaus solidarischen Genossen; und als
jemand, der wunderbar erzählen und vorlesen konnte. Er gehörte zu den
Schriftstellern, deren Texte am besten klingen, wenn sie von ihnen selbst
gelesen werden.
Seine Texte hatten viel mit ihm zu tun, mit dem in der Dunckerstraße
geborenen Berliner Jungen, dessen Vater Angestellter bei Ullstein und
Mitglied in der NSDAP war, aber im Endkampf um Berlin spurlos verschwand;
mit dem Schüler, der aus der Oberschule geflogen war, weil er Mitschülern
westliches Propagandamaterial in die Schultaschen gesteckt hatte.
An der Charité war Klaus Schlesinger Chemielaborant geworden und lernte
seinen lebenslangen Freund "Ypsilon" kennen, mit dem er Bücher verschlang:
Sartre, Döblin, Böll und viele andere. Er begann selbst zu schreiben,
seinen ersten Text veröffentlichte 1960 die Zeitschrift ndl (Neue deutschen
Literatur). Er handelte von einem jüdischen Jungen im Warschauer Ghetto.
Schlesinger hatte geheiratet, lebte mit seiner Frau Ruth und bald auch Sohn
David in einer Einzimmerwohnung mit Außenklo in der Chausseestraße in
Berlin-Mitte.
Der Bau der Mauer war ein Schock; noch mehr, dass Freund Ypsilon bald nach
West-Berlin floh. Schlesinger absolvierte bei der Neuen Berliner
Illustrierten (NBI) einen Kurs in Literarischer Reportage, nach dem Vorbild
von Egon Erwin Kisch. Doch ein Schwenk der SED in der Kulturpolitik brachte
Ende 1965 das Ende des Kurses.
Der Rostocker Hinstorff-Verlag gab dem von Existenzängsten geplagten
Schlesinger einen Vorschuss, um an einem Roman zu arbeiten. Es folgten
Aufträge vom Rundfunk und Drehbücher. Da er sich in Jazzkneipen und anderen
Treffpunkten der Ost-Berliner Boheme herumtrieb, versuchte die Stasi, ihn
als Spitzel anzuwerben. Er erklärte, er stünde unter einem pathologischen
Zwang, Geheimnisse sofort ausplaudern zu müssen.
## Der Systemvergleich
Anfang der 1970er Jahre heiratete Klaus Schlesinger die Schauspielerin und
Sängerin Bettina Wegner, Tochter überzeugter Kommunisten. Es war seine
zweite Heirat. 1971 erschien sein Roman "Michael", die Geschichte eines
junges Mannes, der seinen Vater als Kriegsverbrecher auf einem Foto
erkennt.
Das Buch brachte den Durchbruch und wurde in vier Sprachen übersetzt.
Schlesinger wurde in den Schriftstellerverband aufgenommen, seine Erzählung
"Alte Filme" erschien auch in der Bundesrepublik und wurde vom ZDF
verfilmt.
Wenn es 68er in der DDR gab, dann zählten Schlesinger, Wegner und ihre
Freunde zu ihnen. Die Berliner Wohnung des Paares in der Leipziger Straße
wurde zum Treffpunkt von Dissidenten. Günter Grass, Peter Schneider und
andere West-Kollegen kamen zu deutsch-deutschen Lesungen und Diskussionen.
Schlesinger und Wegner organisierten im "Oktoberclub" eine
Veranstaltungsreihe mit Musik, Literatur und Diskussion. Sie wurde bald
verboten. Die Stasi eröffnete zu dem rebellischen Paar den operativen
Vorgang "Schreiberling". Später erarbeiteten Geheimdienstoffiziere einen
"Zersetzungsplan", mit dem Ziel, die Ehe der beiden zu ruinieren.
Schlesinger war kein Freund der Anpassung. Ende 1976 unterzeichnete er das
Manifest von Künstlern gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Drei Jahre
später protestierte er mit Kollegen dagegen, dass das Devisengesetz gegen
die Oppositionellen Robert Havemann, Stefan Heym und Wolfgang Hilbig
angewandt werden sollte. Der Schriftstellerverband der DDR schloss
daraufhin neun Mitglieder aus, unter ihnen Schlesinger.
Nachdem er im Mai 1980 mit einem dreijährigen Ausreisevisum nach
West-Berlin kam, gehörte er zu den wenigen Berlinern, die sich in beiden
Teilen der Stadt ungestört bewegen konnten: ein großes Privileg, doch er
bezahlte es mit dem Zwang zum Systemvergleich. Ost, West; West, Ost. Der
Untergang der DDR bedeutete das Ende der Vergleiche und Alternativen für
ihn: ein schwerer Schlag. Er fühlte sich seines möglichen Rückzugsgebietes
beraubt.
Nachdem er 1982 in die "Potse 157/159", zwei besetzte Häuser in
Berlin-Schöneberg, gezogen war, taten seine Schriftstellerkollegen aus Ost
und West das Abtauchen in die anarchistische Lebenswelt als spätpubertäre
Verirrung ab.
Literarisch produktiv war er in diesen Jahren weniger. Seine wunderbaren
Berlin-Romane "Die Sache mit Randow" und "Trug" schrieb er später, als er
alleine wohnte und dann mit seiner dritten Frau Daisy zusammenzog.
Der Literaturwissenschaftlerin Astrid Köhler, die Schlesinger nie
begegnete, ist eine gut recherchierte und erfrischend lebendige Biografie
Schlesingers gelungen. Köhler lebt teils in London und ist vom englischen
Biografiestil beeinflusst, der sehr viel mehr ins Persönliche geht als die
Werkexegesen deutscher Literaturwissenschaftler. Und als Ostdeutsche kann
sie auch das Leiden an der DDR besser verstehen als Westdeutsche.
Schlesingers Jahre unter den Hausbesetzern sind das einzige, was sie nicht
vollständig in den Griff bekommen hat. "Verweigerung der Bürgerlichkeit",
nennt sie diese Phase.
Dabei hat Schlesinger die Bürgerlichkeit im Sinne politischer und
kultureller Anpassung sein ganzes Leben lang nicht interessiert. Zum einen
war er in seiner Ablehnung des Kapitalismus unbeirrbar, zum anderen war er
schlicht zu faul, sich zu rasieren.
##
9 Jan 2012
## AUTOREN
Michael Sontheimer
## TAGS
DDR
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