Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neuer Roman von Sayed Kashua: Aus der Kreutzersonate gefallen
> Der neue Roman des palästinensischen Autors Sayed Kashua ist mehr als ein
> Nahostsujet. Er reflektiert auf existenzielle Weise das Verhältnis von
> Leben und Kunst.
Bild: Kashuas Schauplatz: Nicht so leichtes Leben unter Palmen in Jerusalem.
Bestimmt könnte Sayed Kashua seine Bücher ebenso gut auf Arabisch schreiben
wie auf Hebräisch. Kashua ist Palästinenser mit israelischem Pass und einer
der wichtigsten Autoren seines Landes, also: Israels. Dass er, der
Zweisprachige, als Autor das Hebräische seiner Muttersprache vorzieht, hat
vermutlich vorrangig pragmatische Gründe.
Man hat ein ungleich größeres Publikum; nicht zuletzt aber auch ein ganz
anderes. In Kashuas Fall ein jüdisches und, darüber hinaus, ein
internationales, sprich westliches Publikum, denn als hebräischer Autor
steigt die Wahrscheinlichkeit, in andere Sprachen übersetzt zu werden.
Aber wer weiß, ob solche Überlegungen eine Rolle gespielt haben: Vielleicht
wäre ein arabisches Lesepublikum gar nicht so interessiert an den
Problemen, die Kashuas Protagonisten so haben. Soziokulturelle
Standortsuchen? Identitätsprobleme? Neurotische kleine Scharmützel um
Status und Image in der von westlichen Werten geprägten Großstadt?
Luxusproblemchen im Grunde, die zu haben das große Privileg jener
Minderheit unter den PalästinenserInnen ist, die mit der israelischen
Staatsangehörigkeit und den richtigen Bildungschancen ausgestattet sind.
Die, auf der anderen Seite, zwar Teil der israelischen Gesellschaft sind,
aber dennoch nicht ganz dazugehören.
## Mischung aus Sarkasmus und Zorn
Einer von ihnen ist Sayed Kashua selbst, der als bekannter Autor und
Kolumnist der renommierten Zeitung Haaretz in der Mitte der Gesellschaft
angekommen ist. 2002 erschien Kashuas erster, großes Aufsehen erregender
Roman "Tanzende Araber", in dem der junge Autor mit einer unnachahmlichen
Mischung aus trockenem Sarkasmus und komischem Zorn die zwiespältigen
Integrationsbemühungen junger Araber in die jüdische Mehrheitsgesellschaft
porträtierte.
Eine Lightversion dieses spezifischen Humors ist mittlerweile im
israelischen Fernsehen sehr erfolgreich, wo seit 2007 die Sitcom "Avoda
aravit" ("Arabische Arbeit") läuft, für die Kashua als Autor verantwortlich
zeichnet. Er stellt hier einen Bekanntenkreis aus gebildeten Palästinensern
und Juden in den Mittelpunkt, deren an sich friedliche Koexistenz in der
Großstadt Jerusalem nicht reibungsfrei bleibt.
Dem Medium entsprechend, steht in "Avoda aravit" die Komik des Geschehens
im Vordergrund. Es geht um die Tücken des Alltags, die Größe von
Duschköpfen und den unterschiedlichen Wasserdruck in jüdischen und
arabischen Haushalten, um Hunde, die bellen, wenn ein Araber in der Nähe
ist, um die Schwierigkeiten der interkonfessionellen Liebe, und - als
unbeirrbares Basso continuo - um die Relativität und lächerliche
Kontextabhängigkeit politischer und religiöser Überzeugungen.
## Klassiker gegen Komplexe
Derart zwischen den, ja, man möchte eigentlich vermeiden zu sagen, Fronten
zu stehen, ist für einen Künstler, der Sinn für das komische oder auch
absurde Potenzial gesellschaftlicher Konflikte mitbringt, natürlich im
Grunde Gold wert. Sayed Kashua jedenfalls scheint dort, wo er ist, genau
richtig positioniert zu sein, so viel produktive Funken schlägt er aus dem
Spannungsfeld zwischen Juden und Arabern.
In seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen dritten Roman entwirft der
mittlerweile 36-Jährige eine Personenkonstellation, die ihre Figuren, ganz
genau wie "Avoda aravit", aus der gebildeten bürgerlichen Mittelschicht
beider gesellschaftlicher Gruppen bezieht. Doch an die Stelle des komischen
Gestus tritt in diesem Roman ein geradezu existenziell ernsthafter Tonfall.
"Zweite Person Singular" wird, sozusagen programmatisch, aus zwei
verschiedenen Perspektiven erzählt und skizziert die gänzlich
unterschiedlichen Lebenswege zweier junger arabischer Männer, die doch von
ähnlichen Voraussetzungen ausgehen. Wir lernen den "Rechtsanwalt" kennen,
über den der Roman in dritter Person Singular verhandelt. Einen Namen wird
er nicht bekommen.
## Rasende Eifersucht
Schon das zeigt an, dass ihm Stellvertreterfunktion für seine gesamte
Klasse zukommt, für die Gruppe der arrivierten Araber, der mit einem
höheren Bildungsabschluss ausgestatteten Besserverdiener, die selbst fast
perfekt zweisprachig sind und ihre Kinder auf jüdische Schulen schicken,
damit die es einmal noch leichter haben als sie selbst. Der Rechtsanwalt
hat schon alles, was zu erreichen ist: eine florierende Kanzlei im
jüdischen Teil Jerusalems, zwei Kinder, eine gebildete Frau und ein großes,
teures Auto. Seinem gefühlten Bildungsdefizit - und dem resultierenden
Minderwertigkeitsgefühl - begegnet er mit der Lektüre von Klassikern.
Aus einem antiquarisch erstandenen Band von Tolstois "Kreutzersonate" fällt
ihm eines Abends ein Zettel in der Handschrift seiner Frau entgegen, der
vermutlich an einen anderen Mann gerichtet ist. "Jonathan" steht im Buch.
In rasender Eifersucht beginnt der "Rechtsanwalt", seiner Herkunft
nachzuspüren, ohne zunächst seine Frau zu befragen.
Das ist die eine Geschichte. Die andere wird von einem Ich-Erzähler
wiedergegeben. Dieser wiederum hat nicht nur einen Namen, sondern sogar
zwei, verbunden mit zwei Identitäten. Der Sozialarbeiter Amir betreut in
einem Nebenjob den jungen Juden Jonathan, der nach einem Selbstmordversuch
jegliche Kontrolle über seinen Körper, ja eigentlich sein gesamtes Ich,
verloren hat und nurmehr dahinvegetiert.
Nach anfänglichem Widerwillen beginnt Amir, sich auf seinen Nachtwachen mit
Jonathans Leben zu beschäftigen, dessen Bücher zu lesen, dessen Musik zu
hören. Als er sogar beginnt, mit Jonathans Kamera zu fotografieren, ist der
Anfang eines Identitätswechsels gemacht. Als Jude Jonathan bewirbt Amir
sich um einen Platz in der Fotografieklasse der Kunsthochschule.
Amirs Geschichte ist die einer existenziell schizophrenen
Künstlerbiografie, in der vermutlich auch viel von Kashuas eigener
Erfahrung steckt. In der Geschichte des Rechtsanwalts wiederum wird,
deutlich allgemeiner, der Clash der Kulturen verarbeitet, wie er täglich
innerhalb der israelischen Gesellschaft stattfindet und der, wie Kashuas
Roman zeigt, nicht auf den öffentlichen Raum beschränkt bleibt, sondern
auch innerhalb der Individuen selbst ausgefochten werden muss.
Angesichts der vermeintlichen sexuellen Freizügigkeit seiner Frau, die der
Rechtsanwalt anhand des gefundenen Zettels konstruiert, fällt er, der sich
doch als modernen, aufgeklärten Zeitgenossen begreift, zu seinem eigenen
Erstaunen in überlieferte Verhaltensweisen und Denkmuster zurück, die er
längst überwunden zu haben glaubte.
##
## Identitätsfindung in der jüdischen Mehrheitsgesellschaft
Das Offensive an der Konstruiertheit dieses Romans, der zwei sich
verschränkenden Sujets, die beide gleich wenig realistisch angelegt sind,
nimmt dem möglichen Hauptkritikpunkt von vornherein die Spitze. Trotz aller
wirklichkeitsgetreuen Alltags- und Milieuschilderungen handelt es sich bei
"Zweite Person Singular" im tiefsten Grunde um einen Ideenroman. Und als
solcher thematisiert er nicht nur die Schwierigkeiten und Paradoxa der
arabischen Identitätsfindung in der jüdischen Mehrheitsgesellschaft,
sondern geht deutlich darüber hinaus.
Im Subtext beider Geschichten wird nichts weniger als das Verhältnis von
Kunst und Leben verhandelt. Amir, der sich als Künstler neu erfindet, tut
dies um den Preis des Verlustes seiner wahren Identität. Der Rechtsanwalt,
der so gern ein Literaturkenner wäre, lebt während der Lektüre der
"Kreutzersonate" deren Inhalt gänzlich unreflektiert nach, getrieben von
einer blinden Eifersucht, deren Herkunft er sich selbst nicht erklären
kann. In beiden Fällen erweist die Kunst sich als stärker als das Leben, ja
als dessen mächtigste gestaltende Kraft.
Was daraus folgt, bleibt offen; aber Fragen zu stellen ist eben auch eines
der Privilegien der Kunst. Vielleicht liegt ein Teil der Antwort in der
impliziten Erkenntnis, dass Kunst und die Kunst zu leben sich im besten
Fall gegenseitig durchdringen sollten. Und auch wenn dies verdächtig
unpolitisch klingt, ist es doch alles andere als das. Sayed Kashua
jedenfalls wäre wohl nicht da, wo er heute ist, hätte er sein Leben nicht
untrennbar mit der Literatur verbunden. Und zwar mit der hebräischen.
## "Zweite Person Singular". Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Berlin Verlag, Berlin 2011, 395 Seiten, 22 Euro
10 Jan 2012
## AUTOREN
Katharina Granzin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Jüdische Fundamentalisten in Israel: Keine Abweichung erlaubt
In Israel macht eine Gruppe von Fundamentalisten den moderat Religiösen und
Weltlichen das Leben schwer. Sie sieht ihre Existenz im Staat als bedroht
an.
Palästinensische Rennfahrerin Noor Daoud: Keiner kann sie stoppen
Viele Palästinenserinnen in ihrem Alter denken übers Heiraten nach. Noor
Daoud über ein neues Auto. Erst kürzlich gewann sie ein israelisches
Autorennen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.