# taz.de -- Ausbildung am Europakolleg: Berufsziel Brüssel | |
> Das Europakolleg im belgischen Brügge gilt als Kaderschmiede der EU. Doch | |
> wer hier studiert, hat nicht nur die Karriere im Sinn – sondern viele | |
> Ideen für ein besseres Europa. | |
Bild: Wollen mehr Europa: Die Studierenden am Europakolleg in Brüssel. | |
BRÜGGE taz | Es ist kurz nach acht. Ira Valsamaki kommt in den | |
Frühstücksraum ihres Studentenwohnheims im belgischen Brügge. Die | |
26-jährige Griechin grüßt mit einem knappen "Morning" ihre Kommilitonen, | |
die an zwei großen quadratischen Tischen sitzen und Toastbrot oder Müsli | |
essen. Ira studiert am Europakolleg in Brügge - gemeinsam mit 300 jungen | |
Menschen aus aller Welt. An der Eliteuniversität werden die EU-Manager von | |
morgen ausgebildet. | |
Valsamaki hat früher in Athen als Anwältin gearbeitet. "In Griechenland | |
gibt es keine Jobs", sagt die schlanke Frau. "Ich muss in Brüssel oder | |
woanders in der EU Arbeit finden." Die Wirtschaftskrise hat sie voll | |
erwischt. Auch deshalb will sie Wege suchen, wie solche Krisen in Zukunft | |
verhindert werden können. | |
Ira Valsamaki setzt sich an einen Tisch und beginnt ihr Müsli zu löffeln. | |
Der Griechin gegenüber sitzt Thomas Stiegler aus Bonn. Beide haben einen | |
Laptop zwischen ihre Müslischalen gestellt und schauen sich Bilder vom | |
letzten EU-Gipfel in Brüssel an. Gerade betritt der neue italienische | |
Premierminister Mario Monti den Verhandlungssaal. "Monti und unser | |
Premierminister sind reine Technokraten. Sie wurden von der EU auf ihre | |
Posten gesetzt und man sagt ihnen, was sie zu tun haben", sagt Ira | |
Valsamaki. | |
## Wie beim Wiener Kongress | |
Wohl ist ihr nicht dabei - weil keiner diese Personen gewählt hat. Den | |
beiden Europastudenten geht die deutsch-französische Dominanz bei der | |
Krisenbewältigung auf die Nerven: "Es kann nicht sein, dass zwei Staaten | |
den anderen vorschreiben, was zu tun ist. Das sind die Regeln des Wiener | |
Kongresses, nicht die der EU", beklagt Thomas Stiegler. Er wünscht sich, | |
dass die Entscheidungen in Brüssel nicht nur von den Mitgliedsländern, | |
sondern gemeinsam mit der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament | |
getroffen werden. | |
Der 23-Jährige will von Ira wissen, wie es sein kann, dass ihr Land im | |
Chaos versinkt. Solche Fragen muss die junge Griechin fast jeden Tag | |
beantworten, sagt sie. "Dabei verstehe ich es doch selbst nicht mehr. Aber | |
für die anderen ist es noch schwieriger zu begreifen, wie wir so viel | |
Korruption zulassen konnten." | |
Die Studenten machen sich auf den Weg ins Kolleg. Durch enge | |
mittelalterliche Gassen mit Kopfsteinpflaster, vorbei an Schokoladen- und | |
Pralinenläden. Über steinerne Brücken, die sich über die unzähligen Kanäle | |
in der Innenstadt wölben. Unterwegs stoßen die beiden auf ihre Kommilitonin | |
Inés Armada, sie stammt aus Madrid. Die zierliche junge Frau zieht an ihrer | |
Zigarette. "Irreal" findet sie Brügge. "Alles ein bisschen zu viel. Es gibt | |
gar keine normalen Läden. Die Stadt ist irgendwo in der Vergangenheit | |
stehen geblieben." | |
Inés Armada wohnt nicht mit den anderen im Studentenwohnheim. Die | |
alleinerziehende Mutter hat eine Wohnung gemietet, weil sie ihre fünf | |
Monate alte Tochter mit nach Brügge gebracht hat. Und ihre Mutter, die auf | |
Marianna aufpasst, während Armada im Europakolleg ist. "Ich versuche, alle | |
Kurse zu besuchen, trotzdem möchte ich möglichst viel Zeit mit meiner | |
Tochter verbringen. Ich versuche wie alle Mütter der Welt, beides unter | |
einen Hut zu bekommen." | |
## Keine Freaks | |
Einfach ist das nicht. Deshalb nervt es die junge Mutter auch, dass viele | |
denken, in Brügge würde nur die reiche Elite studieren. "Es stimmt, dass | |
wir alle sehr gute Abschlüsse gemacht haben. Sonst wird man hier für den | |
Master gar nicht zugelassen. Aber mit Geld hat das nichts zu tun. Wir | |
bekommen fast alle Stipendien. Und nur weil ich hier bin, bin ich noch | |
lange kein Freak." | |
Die jungen Europäer wissen sehr wohl, was die Krise bedeutet. Sie stehen | |
selbst vor einer ungewissen Zukunft. Und sie verstehen, dass immer mehr | |
Menschen ihrer Generation auf die Straße gehen, um gegen das politische | |
Establishment und die Dominanz der Finanzwirtschaft zu protestieren: "Die | |
Politiker dürfen nicht immer nur an das Geld ihres Landes denken, an ihre | |
Schulden, an ihre Verfassung und daran, dass bald Wahlen sind", sagt Inés | |
Armada. | |
Die Gruppe ist am Kolleggebäude angelangt. Ein unauffälliger weißer Bau mit | |
hohen Fenstern, der mitten in der Innenstadt steht. Im Eingangsfoyer ist | |
die EU-Fahne gehisst. Hier trennen sich die Studierenden. Sie haben | |
verschiedene Kurse belegt. Thomas Stiegler und Inés Armada gehen die Treppe | |
hoch in die erste Etage. Sie schlüpfen gerade noch in den Hörsaal, bevor | |
der wissenschaftliche Assistent Vincent Laporte die Türe schließt. | |
Er bereitet die Studierenden auf die Prüfungen vor und erklärt ihnen die | |
Grundlagen politischer Verhandlungsführung. Thomas Stiegler schreibt eifrig | |
mit. Einen Punkt findet er besonders wichtig: "Wenn man sich wie in der EU | |
ständig begegnet, dann musst du in den Verhandlungen fair sein. Keiner darf | |
sein Gesicht verlieren. Sonst bricht das ganze System zusammen." | |
## Ohne Patentrezepte | |
Im Saal sitzen bestimmt 20 Nationalitäten zusammen. Für Inés Armada ist das | |
die beste Vorbereitung auf die spätere Arbeit in der Europäischen Union: | |
"Du begreifst viel besser, wie Probleme und Missverständnisse entstehen | |
können. Wir kommen aus verschiedenen Ländern und verteidigen unsere | |
Interessen. Man versteht hier, dass man manchmal an einer Stelle nachgeben | |
muss, um etwas anderes zu bekommen. Die Politiker in Brüssel verlieren oft | |
das Gesamtinteresse aus den Augen." | |
Das findet auch der Rektor des Kollegs, Paul Demaret, der in seinem Büro | |
eine Etage höher sitzt. Der 70-jährige Belgier mit grauen Haaren ist ein | |
überzeugter Europäer. "Es ist absurd", sagt er, "die Wirtschaftszahlen der | |
USA oder von Großbritannien sind viel schlechter als die der Eurozone. Aber | |
auf deren Staatsanleihen wird nicht spekuliert, weil sie einen starken | |
inneren politischen Zusammenhalt haben. In der EU fehlt uns der." | |
Hinter ihm hängt ein Foto von der wieder aufgebauten Brücke in der | |
herzegowinischen Stadt Mostar. Für Demaret symbolisiert die Brücke die | |
Einheit Europas. Dieses Verständnis will er auch seinen Studenten mitgeben. | |
"Wir unterziehen sie keiner Gehirnwäsche. Sie begreifen von ganz alleine, | |
wie notwendig die Europäische Union ist", sagt der Rektor, der früher | |
selbst Jura am Kolleg unterrichtet hat. | |
Einige seiner Absolventen reden schon heute in der Europäischen Union mit: | |
Die dänische Premierministerin hat vor rund 20 Jahren in Brügge studiert. | |
Auch der mazedonische Außenminister war vor sechs oder sieben Jahren hier, | |
erinnert sich Demaret. | |
## Keine Jobgarantie, aber Eintrittskarte | |
Ein Abschluss aus Brügge ist keine Jobgarantie, aber eine gute | |
Eintrittskarte - auch für Brüssel. In der EU-Hauptstadt landen später die | |
meisten Absolventen des Europakollegs. Etwa die Hälfte, sagt Demaret, | |
arbeitet in EU-Institutionen. Die andere Hälfte kommt bei | |
Lobbyorganisationen, Kanzleien oder in der Wirtschaft unter. | |
Einige ehemalige Absolventen kommen ein paar Tage später nach Brügge. An | |
einem Samstagnachmittag spielen die Teilnehmer des "Jahrgangs Darwin" von | |
2009 gegen die Studierenden von 2011 Fußball: ein Turnier. Es nieselt | |
leicht. Die Spieler in den blauen Darwin-Trikots stürmen auf das Tor der | |
Gegner zu. Aurore Chardonnay klatscht begeistert und brüllt "Darwin" über | |
den Platz. Der Schuss geht daneben. | |
Chardonnay arbeitet in ihrer Heimatstadt, dem nordfranzösischen Amiens, als | |
Beraterin für Europafragen beim Bürgermeister. "Eigentlich wollte ich in | |
Brüssel bleiben. Aber nach fünf Praktika hatte ich die Nase voll. Ich habe | |
keinen Job gefunden, der mir zugesagt hat", berichtet sie. Zu Hause werde | |
die EU von den meisten als Bedrohung empfunden, gerade jetzt in der Krise. | |
Der Ausflug nach Brügge sei deshalb so etwas wie eine Pilgerreise für sie: | |
"Das Kolleg wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel gegründet, | |
Menschen auszubilden, die ihre eigene Nationalität vergessen und sich für | |
Europa einsetzen. Das klingt altmodisch. Aber Brügge ist der einzige Ort, | |
an dem ich heutzutage noch Menschen treffe, die an das Europa der Völker | |
glauben, nicht nur an das der Wirtschaft." | |
## Alle wollen mehr Europa | |
Ein Patentrezept, wie die Krise zu lösen ist, haben sie nicht. Das wäre | |
auch ein bisschen viel verlangt. Aber gemein ist ihnen eines: Sie alle | |
wollen mehr Europa. Sie wollen die Europäische Union weiterentwickeln hin | |
zu einer echten Gemeinschaft mit mehr Beteiligung der Bürger und mehr | |
demokratischer Legitimierung. Thomas Stiegler wünscht sich zum Beispiel | |
einen europäischen Wahlkampf bei den Europawahlen: "Die Parteien sollten | |
klar sagen, wen sie zum nächsten Präsidenten der EU-Kommission machen | |
wollen, falls sie gewinnen. Dann kann der Bürger direkt entscheiden." | |
Noch hört ihren Forderungen in Brüssel niemand zu. Aber in ein paar Jahren | |
wollen sie dort selbst mitbestimmen. Angst, dass die EU bis dahin | |
zusammenbricht, habe sie nicht, sagt Inés Armada: "Wir sind so weit | |
gekommen, dass sich das Ganze nicht einfach in ein paar Monaten in Luft | |
auflösen wird. Es gibt keine Alternative zur Europäischen Union. Ich hoffe, | |
dass auch unsere Politiker das endlich begreifen." | |
10 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Ruth Reichstein | |
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