# taz.de -- Krimis aus Skandinavien: Manchmal vögeln sie auch | |
> Der skandinavische Kriminalroman ist in die manische Phase gewechselt. | |
> Unter den Ermittlern haben Workaholics die Luschen aus dem 20. | |
> Jahrhundert abgelöst. | |
Bild: Vor lauter Stress nur noch Stullen essen: Daniel Craig als Ermittler Mika… | |
Workaholics sind sie alle, die Helden skandinavischer Kriminalromane. Mögen | |
sie Wallander, Beck oder Van Veeteren heißen. Das Morden im Norden scheint | |
unausweichlich nicht nur den Tod der Opfer und die Bestrafung der Täter, | |
sondern unbedingt auch Depression und Krankheit der Ermittler mit sich zu | |
bringen. | |
Die Herren Kommissare schlafen selten und ernähren sich von Junkfood. Sie | |
trinken Kaffee, dass man beim Lesen schon Bauchschmerzen kriegt. Und wer | |
mit dem Rauchen aufhören will, sollte sich andere Lektüre suchen. | |
Kein Wunder, dass sie alle übergewichtig sind und Diabetes haben oder | |
erhöhte Cholesterinwerte. Der typische skandinavische Krimiheld ist | |
geschieden, ein schlechter Vater, als Sohn eine Niete und als Liebhaber - | |
na ja. | |
Er ist latent depressiv, nimmt regelmäßig Vollbäder in Selbstmitleid und | |
hat einen Hang zum Saufen. Wunderbare Charaktere, so richtig zum Liebhaben! | |
Normale Luschen wie du und ich. Genau wie die Verbrecher, die sie jagen. | |
Seit fast 50 Jahren verkaufen sich Bücher mit dem Label skandinavischer | |
Krimi deshalb wie Ikea-Regale. | |
## "Er machte sich ein paar belegte Brote" | |
So auch die Millenniumtrilogie von Stieg Larsson über den Journalisten | |
Mikael Blomkvist und die Hackerin Lisbeth Salander. Doch wie viel | |
skandinavische Krimitradition steckt wirklich in "Verblendung", "Vergebung" | |
und "Verdammnis"? | |
Die Bauanleitung für das, was heute gemeinhin als Schwedenkrimi bezeichnet | |
wird, hat das Autorenpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö zwischen 1965 und 1975 | |
geliefert. Die beiden Marxisten schufen in den zehn Bänden des "Romans über | |
ein Verbrechen" um den Polizisten Martin Beck und sein Team jenen Typus | |
Krimi, in dem es mehr um die Darstellung von gesellschaftlichen | |
Verhältnissen geht und darum, wie alle Handelnden in sie verstrickt sind - | |
Opfer also, Täter wie Polizisten. | |
Seitdem schreibt der skandinavische Krimiautor, der was auf sich hält, | |
genau zehn Bände um eine Ermittlerfigur. Mankell hat es so gemacht und | |
Håkan Nesser. Stieg Larsson hatte das auch vor, nur kam er nicht dazu, | |
starb an einen Herzinfarkt. | |
Fakt ist: Die drei Bände, die der linke Journalist so viel beachtet | |
abgeliefert hat, werden als genauso sozialkritisch gelesen wie ihre | |
Vorgänger. Auf den ersten Blick scheinen sie sich auch reibungslos in die | |
Tradition einzuordnen: Überengagierter Journalist ermittelt zusammen mit | |
unterernährtem Punker-Hacker-Mädchen. Das Schlafdefizit steigt mit dem | |
Kaffeekonsum, Lisbeth Salander raucht mehr als sie atmet, und gegessen wird | |
sowieso nur noch, was nicht von alleine wegläuft. "Er ging in die Küche und | |
machte sich ein paar belegte Brote", ist der vermutlich häufigste Satz in | |
diesem weit über 2.000 Seiten dicken Werk. | |
So weit alles in bester Ordnung: Wenn die Ermittler vor lauter Stress nur | |
noch Stullen essen, dann kann die Krise nicht mehr weit sein. Und dann | |
sitzt man und liest und wartet auf Mikael Blomkvists Depression, einen | |
Kreislaufkollaps, sein Zerwürfnis mit der Schwester oder darauf, dass der | |
Salander endlich die Bulimie nachgewiesen wird. Und was passiert? Nichts. | |
## Die Bösen sind alle krank | |
Kein Zeichen von Erschöpfung ist den beiden anzumerken. Die Kollegen Beck, | |
Wallander und Van Vetereen waren immer müde, egal ob sie mit einem Fall | |
anfingen oder ihn abschlossen und egal, wie viel Kaffee sie in sich | |
hineinschütteten. Bei Larsson scheint der Kaffee endlich zu wirken. Die | |
Helden sind die ganze Zeit wach und arbeiten wie die Duracell-Kaninchen. | |
Manchmal vögeln sie auch so. Die ständigen 14-Stunden-Arbeitstage werden | |
unterbrochen von durchwachten Nächten mit ausnahmslos großartigem und | |
völlig konfliktfreiem Sex, der Gegensatz zu den vergewaltigenden | |
Fieslingen. Bei Sjöwall und Wahlöö waren die Täter immer vor allem Opfer | |
der Umstände, kleine Fische, die den Kopf hinhalten mussten für die | |
wirklichen Verbrecher: Großindustrielle, korrupte Politiker, Richter - | |
Haie, an die man nicht rankam. | |
Larsson dagegen hat seine Bösewichte gleich so abgrundtief böse gezeichnet, | |
dass sie fast zu Karikaturen ihrer selbst werden. Die "Männer, die Frauen | |
hassen" - so der schwedische Originaltitel des ersten Bandes, auf den | |
Larsson Wert legte -, sind nicht nur ausnahmslos Sadisten, sondern auch | |
noch korrupt und geldgeil. Und das Merkwürdigste ist: Die Bösen sind alle | |
krank! | |
Es gibt Stalker mit Burn-out-Syndrom, geistig zurückgebliebene Schläger mit | |
Nervenleiden. Und je böser eine Figur, desto kranker ist sie. Die Köpfe der | |
Verschwörung sind beide todkrank. Der eine hat Krebs, der andere kaputte | |
Nieren. Und der Obersuperschurke ist nur noch ein atmender Fleischklumpen. | |
## Vergewaltigung, Mädchenhandel, Massenmord | |
Unsere Helden dagegen stecken Rückschläge weg wie Sandsäcke und kämpfen wie | |
Muhammad Ali - allen voran die unbesiegbare Lisbeth Salander. Sie schlägt | |
eine ganze Bikergang k. o. und ersteht, mit einer Kugel im Kopf im Wald | |
begraben, von den Toten wieder auf. Und das alles bei ihrem Lebenswandel. | |
Das Böse bei Larsson ist nicht Teil der Gesellschaft wie bei | |
Sjöwall/Wahlöö, sondern ein Fremdkörper, der die heile demokratische Welt | |
angreift. Mit Sozialrealismus hat das wenig zu tun. Eher erinnert es an | |
Christenverschwörungsprosa à la Dan Brown, was auch diese nicht zu | |
erinnernden deutschen Einworttitel mit biblischem Unterton erklärt. | |
Wie Brown beherrscht Larsson das erzählerische Mittel des Spannungsaufbaus. | |
Immerzu passiert irgendwas. Tür auf, Tür zu, Vergewaltigung, Mädchenhandel, | |
Massenmord, Kaffeetrinken. Pageturner nennt man so was. Das Problem ist | |
nur, dass das Übermenschentum der Larssonschen Helden in Verbindung mit dem | |
Siechtum der Antagonisten dem Ganzen einen ziemlich unangenehmen Unterton | |
gibt. | |
Stieg Larsson war ein sehr engagierten linker Journalist, der sich zeit | |
seines Lebens dem Kampf gegen die rechtspopulistischen "Schwedendemokraten" | |
gewidmet hat. Wahrscheinlich war Stieg Larsson einfach nur ein schlechter | |
Romanautor, dem nicht aufgefallen ist, wie furchtbar neoliberal und | |
geradezu darwinistisch es anmutet, wenn alle Guten übereifrige Arbeiter | |
sind und alle Bösen krank. Vermutlich hat er nur auf das Tempo der Handlung | |
und auf die Inszenierung seiner Hauptfigur Lisbeth Salander geachtet, statt | |
auch mal auf die Nebenfiguren und den Gesamteindruck zu schauen. | |
## Das Selbstmitleid der Protagonisten | |
Aber vielleicht ist es auch ganz anders. Richtig gesund sind die Helden ja | |
auch nicht. Salander hat immerhin ein diagnostiziertes Asperger-Syndrom. | |
Und Mikael Blomkvist kann nicht aufhören zu arbeiten. | |
Vielleicht ist es auch so, dass der skandinavische Kriminalroman selbst dem | |
Verlauf einer manisch-depressiven Erkrankung folgt und mit Larsson von der | |
depressiven in die manische Phase gewechselt hat. Das Selbstmitleid der | |
Protagonisten des 20. Jahrhunderts wurde abgelöst durch die nimmermüden | |
Ermittler des 21. Jahrhunderts mit ihrem blinden Aktionismus und der | |
Wahnvorstellung, die Welt retten zu müssen. | |
Der "Roman über ein Verbrechen" von Sjöwall/Wahlöö wurde im Verlauf seiner | |
zehn Teile immer mehr zur Agitpropliteratur. Das Anliegen der ideologischen | |
Sendung drängte die Geschichte in den Hintergrund. Der letzte Band ist | |
heute quasi unlesbar. Das wünscht sich keiner. Aber bloß weil Schwedisch | |
draufsteht, muss nicht Gesellschaftskritik drin sein. | |
16 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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