# taz.de -- Seminar für angewandte Unsicherheit: Vegetarismus mal anders | |
> Das "Seminar für angewandte Unsicherheit" will linke Ideen mit | |
> Überwachungskritik verbinden. Mit Kameraspaziergängen und Rollenspielen | |
> mobilisieren sie. | |
Bild: Das "Seminar für angewandte Unsicherheit" analysiert Überwachung in Bez… | |
BERLIN taz | Die Plakate an den Wänden erinnern an längst vergangene, | |
bewegte Zeiten. Sie kündigen Aktionen gegen Neonazis an, propagieren den | |
Feminismus und erinnern an verhaftete Genossen, für die Geld durch | |
Solipartys gesammelt werden soll. | |
Das Studentische Begegnungszentrum (SBZ) "Krähenfuß" ist einer der letzten | |
alternativen Treffpunkte in Berlin-Mitte und als selbstverwaltetes | |
Studentencafé an der Humboldt-Universität vor allem Anlaufpunkt für | |
politisch aktive Studierende. Regelmäßig finden Veranstaltungen der | |
Queerfeministinnen oder der lokalen Antifa statt, an einem Tag in der Woche | |
läuft nur klassische Musik. | |
Heute finden sich auf den gemütlichen Sofas und Kinosesseln 20 Menschen | |
ein, um an der "Schnitzeljagd für Datenvegetarier_innen" teilzunehmen. Es | |
geht um Datensammler im Internet und wie man sich möglichst datensparsam | |
durchs Netz bewegt. | |
Eingeladen hatte das "Seminar für angewandte Unsicherheit" (SaU). Die | |
ehemalige Studierendengruppe, die sich im Zuge der Terrorhysterie nach den | |
Anschlägen am 11. September 2001 gegründet hatte, organisiert | |
Diskussionsveranstaltungen, Filmabende und Spaziergänge, die für die | |
massenhafte Präsenz von Kameras in der Öffentlichkeit sensibilisieren | |
sollen. | |
Ihre Aktivitäten konzentrieren sich auf die Kritik staatlicher und privater | |
Überwachung. Im Gegensatz zum traditionellen Datenschutz allerdings, der | |
inzwischen weitgehende Zustimmung in der Öffentlichkeit genießt, analysiert | |
das SaU jedoch Überwachungsbestrebungen auch in Bezug auf ihre | |
gesellschaftlichen Grundlagen und formuliert davon ausgehend eine explizite | |
Kapitalismuskritik. Der klassische Datenschutz gehe nicht weit genug und | |
sei ineffektiv, glaubt die Gruppe. | |
## Kein genuin linkes Anliegen | |
Ursprünglich in Abwehrkämpfen gegen den Staat entstanden, sei er heute kein | |
genuin linkes Anliegen mehr. Datenschutz werde beispielsweise auch von | |
privilegierten Gruppen genutzt, um ihre Interessen durchzusetzen, etwa | |
durch die Stärkung des Geschäftsgeheimnisses. | |
Wer Überwachung konsequent und grundsätzlich kritisiere, komme nicht umhin, | |
nach ihren gesellschaftlichen Bedingungen zu fragen. In der neoliberalen | |
Phase des Kapitalismus seit den 1970er Jahren seien Werte wie | |
Eigenverantwortung und Selbstmanagement wichtiger geworden. "Heutzutage | |
werden die Menschen eher durch Anreize diszipliniert. Das gilt für die | |
Arbeitswelt, aber auch beispielsweise für Krankenkassen: Wer hier die | |
Bonushefte und Vorbeugungsmaßnahmen nicht mitmacht, muss eben | |
möglicherweise mehr zahlen", erklärt Fiona von der SaU im Gespräch mit der | |
taz. | |
Die Speerspitze dieses Wandels stelle das Web 2.0 dar: Wer sich hier der | |
allgemeinen Selbstdarstellung enthalte, werde zwar nicht direkt bestraft. | |
Allerdings wäre die Person mit sozialen Ausschlüssen konfrontiert: Viele | |
soziale Handlungen wie Treffen werden heute per Facebook oder E-Mail | |
verabredet. Aber auch auf die Berufsperspektive kann sich die Enthaltung | |
vom Datenexhibitionismus auswirken. | |
"Wenn ich mich zwischen zwei Bewerbern entscheiden müsste, würde ich eher | |
den einstellen, der im Internet auffindbar ist, als den, von dem man nichts | |
findet", so sagte beispielsweise Bastian Koch, Reputationsmanager der | |
Marketingagentur Keksbox, im Magazin Politikorange. | |
## Im Rollenspiel wird geübt | |
Weil aber über ein baldiges Ende des Kapitalismus bei der SaU keine | |
Illusionen bestehen, greifen sie bis dahin auf Methoden der Datenschützer | |
zurück, die sich durchaus bewährt haben: Den meist jungen Menschen, die | |
sich heute zum Workshop eingefunden haben, wollen sie ihre Idee des | |
"Datenvegetarismus" vermitteln. Gemeint ist damit die bewusste Nutzung des | |
Netzes, mit einem Rollenspiel wird das datensparsame Surfen geübt. | |
Dass Internetnutzer besser keine Cookies nutzen und bei Facebook nicht | |
ihren bürgerlichen Namen benutzen sollten, leuchtet heute vielen ein. | |
Weniger bekannt sind die Verstrickungen der Internetfirmen: Diverse | |
Dienstleistungs- und Social-Network-Firmen gehören großen Konzernen wie | |
Microsoft oder Apple, die somit Zugriff auf ihre Daten haben. | |
Auch die Folgen von Datenspuren können immer noch erstaunen: In der Schweiz | |
erhielt eine Angestellte eine fristlose Kündigung, nachdem sie trotz | |
Krankschreibung 20 Minuten in Facebook eingeloggt war. Sie verdächtigt ihre | |
ehemaligen Arbeitgeber, ihr gezielt nachspioniert zu haben. | |
Die SaU will jedoch nicht bei Konsumkritik im Internet stehen bleiben, | |
ihnen geht es um mehr: Die Gruppe unterstützt die Proteste gegen den | |
europäischen Polizeikongress, der jedes Jahr im Februar in Berlin | |
stattfindet. Er ist eine Messe für Sicherheitstechnik, jedoch wird hier | |
auch der politische Diskurs durch Vorträge eingeladener Politiker weiter | |
nach rechts verschoben. | |
## Mehr Sicherheit für die Eliten | |
"Das bedeutet die Forcierung einer Politik, die zu mehr Sicherheit für die | |
Eliten und zu weniger Freiheit für den größten Teil der Bevölkerung führt", | |
meint Fiona dazu. Durch den Schwerpunkt auf präventive | |
Verbrechensbekämpfung droht die Unschuldsvermutung als wesentlicher | |
Bestandteil des bürgerlichen Rechts unterwandert zu werden. | |
Linksradikale und überwachungskritische Gruppen wollen deswegen am [1][28. | |
Januar] gegen diese fortschreitenden autoritären Tendenzen in Europa und | |
die ausgrenzende Sicherheitspolitik an den Grenzen der EU protestieren. | |
"Soziale Konflikte lassen sich nicht dauerhaft durch Überwachung verdrängen | |
oder durch Polizeigewalt unterdrücken", so ein Teilnehmer des Workshops der | |
SaU. | |
Von der Post-Privacy-Bewegung hält die Gruppe nicht viel: "Die sind im | |
engen Sinne gar nicht politisch", meint ein Mitglied der SaU. Über ein | |
neues Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit könne erst nach der | |
Überwindung des Kapitalismus nachgedacht werden, wenn die Menschen kein | |
Interesse mehr daran hätten, sich permanent gegenseitig zu schädigen. Bis | |
dahin ist es noch ein langer Weg, den man sich durch die Volksküche im SBZ | |
"Krähenfuß" verkürzen kann. | |
23 Jan 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://linksunten.indymedia.org/de/node/53630 | |
## AUTOREN | |
Kai Schubert | |
## TAGS | |
tazlab 2012: „Das gute Leben“ | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Pro und Kontra Fleischkonsum: Tiere aufessen oder Tiere streicheln? | |
Warum man Fleisch isst, erklärt der eine mit schamanischen Argumenten. | |
Warum sie dem fleischessenden Tischnachbarn das Salz nicht reicht, | |
erläutert die andere. |