# taz.de -- Montagsinterview mit Ulrike Trautwein: "Ich will, dass unsere Türe… | |
> Ihr Büro ist noch kahl, die Wände sind blassgelb gestrichen. | |
> Kleinigkeiten, über die Ulrike Trautwein lacht. Überhaupt ist die neue | |
> Generalsuperintendentin eine personalisierte Charmeoffensive der | |
> evangelischen Kirche. | |
Bild: Die personifizierte Charmeoffensive der Evangelischen Kirche: Ulrike Trau… | |
taz: Frau Trautwein, wir stellen uns jetzt mal ganz dumm: Was ist das | |
überhaupt, eine Generalsuperintendentin? | |
Ulrike Trautwein: Ich habe auch eine Weile gebraucht, um das | |
herauszufinden. (lacht) In erster Linie ist dieses Amt eine Art geistliche | |
Leitung für Berlin. Ich bin hier in der Stadt die Vertreterin von | |
Landesbischof Markus Dröge, neben mir gibt es zwei weitere | |
Generalsuperintendenten, eine für Brandenburg und einen für die schlesische | |
Oberlausitz. Ich nehme die Anliegen der Berliner Pfarrer und Kirchenkreise | |
auf und bringe sie in die Kirchenleitung ein, bin aber auch ein Gegenüber | |
für Politik und Kultur. Ich stehe relativ weit außerhalb der Hierarchien. | |
In der Schwerpunktsetzung meiner Arbeit bedeutet das eine gewisse Freiheit. | |
Hat es einen Grund, dass Sie hier in Wilmersdorf sitzen und Bischof Dröge | |
im Osten? | |
Mein Büro ist hier, weil die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche meine | |
Predigtstelle ist. Hier predige ich einmal im Monat. Aber natürlich bin ich | |
für ganz Berlin zuständig - und sogar für einige Gemeinden darüber hinaus. | |
Das Amt war vakant, seit Ihr Vorgänger Ralf Meister als Landesbischof nach | |
Hannover gegangen ist. Haben Sie einfach eine Initiativbewerbung geschickt? | |
Nein, ich bekam eines Morgens einen Anruf von Bischof Dröge. Das | |
Wahlgremium der Landeskirche wollte mich zu einem Gespräch einladen. Ich | |
selbst wäre nicht im Leben auf die Idee gekommen! Schließlich wurde ich mit | |
zwei Mitbewerbern nominiert und habe in kurzer Zeit ein Bewerbungsverfahren | |
durchlaufen. Nebenher musste ich die Predigt für den Abschlussgottesdienst | |
des Dresdener Kirchentags vorbereiten. Das war eine sehr spannende Zeit. | |
Die Berliner Synode, also das Kirchenparlament, entschied sich dann erst im | |
fünften Wahlgang für Sie. Ist doch komisch: Erst wird man gefragt und dann | |
gibts einen Wahlkrimi. | |
Nein, wieso? Das spricht doch in erster Linie dafür, dass auch die anderen | |
beiden gute Bewerber waren. Und außerdem: Jetzt bin ich gewählt, wen | |
interessiert das noch in zehn Jahren? (lacht) | |
Wie empfinden Sie Berlin: Fühlen Sie sich nach vielen Jahren in Frankfurt | |
am Main ein bisschen überrumpelt von den Brüchen dieser Stadt? | |
Das ist doch genau das, was ich liebe. Die Spannung, die entsteht, wenn so | |
viele Menschen aufeinandertreffen, kann ja auch gute Energie erzeugen. Ich | |
war vor zwei Jahren mit einer israelischen Freundin hier. Ihre Tochter ist | |
Punklesbe und Veganerin, sie lebt in einem linken Hausprojekt in | |
Friedrichshain und verkauft auf dem Flohmarkt Gürtel aus Fahrradschläuchen. | |
In diesem Hausprojekt haben wir auch übernachtet und an einem Freitagabend | |
ein rudimentäres Schabbatmahl gefeiert, diese uralte Tradition der | |
Befreiung. Das Zusammenkommen so unterschiedlicher Dinge fand ich sehr | |
anrührend, und dieses Bild verbinde ich mit Berlin. | |
Sie haben einen engen Bezug zum Judentum, ist oft zu lesen. Wie kam es | |
dazu? | |
Meine Eltern waren eng mit Oskar Schindler befreundet, der ja bis zu seinem | |
Tod in Frankfurt lebte. Über eine Freundin von Schindler, Hansi Brand, eine | |
ungarische Jüdin, bin ich nach dem Abitur für ein Jahr nach Israel | |
gegangen. Sie war Hausmutter in einem Kinderheim in Tel Aviv, und ich | |
arbeitete dort als Volontärin. Dabei habe ich Ivrit so schnell gelernt wie | |
sonst keine andere Sprache mehr. Ich war ja umgeben von 120 Jungs zwischen | |
6 und 16, die keine andere Sprache sprachen. Auch meine Kindheitsfreundin, | |
mit der ich seit der 5. Klasse ganz eng zusammen bin, ist Jüdin. Sie lebt | |
jetzt aber schon lange in New York. | |
Lassen Sie uns über Ihre Eltern sprechen. Ihr Vater, Dieter Trautwein, war | |
auch Theologe und ein bedeutender Komponist evangelischer Kirchenlieder. | |
Stört es Sie eigentlich, immer auf Ihn angesprochen zu werden? | |
Nein, gar nicht. Als ich vor 25 Jahren geheiratet habe, hätte ich ja den | |
Familiennamen aufgeben können, wenn ich Schwierigkeiten damit gehabt hätte. | |
Stattdessen hat jetzt mein Mann, der Arme, einen Doppelnamen. Für mich ist | |
es ein wichtiger Bestandteil meiner selbst, aus dieser Familie zu kommen. | |
Ich hatte eine sehr kämpferische Mutter, die sich in der | |
Anti-Apartheid-Bewegung engagiert hat. Sie war dann auch die erste deutsche | |
Staatsbürgerin, die ein Einreiseverbot für Südafrika erhielt. Uns Kindern | |
ging das auch schon mal auf den Keks. Aber ich glaube, ich habe von beiden | |
Eltern das Engagement geerbt. | |
Was hieß Engagement für Ihren Vater? | |
Nach seiner Anfangszeit als Pfarrer in Limburg, wo ich geboren bin, wurde | |
er 1963 Stadtjugendpfarrer in Frankfurt am Main. Sein Schwerpunkt war | |
damals, neue Gottesdienstformen zu entwickeln. In den 70ern wurde er dann | |
Propst, das war eine politisch sehr aufgewühlte Zeit. Wir wohnten am | |
Römerberg in der Frankfurter Innenstadt und haben dort sehr viele | |
Demonstrationen hautnah mitbekommen. Für mich war immer klar: Christlicher | |
Glaube ist eng verbunden mit gesellschaftlichem Engagement. Das eine geht | |
ohne das andere nicht. | |
Würden Sie sich politisch links einordnen? | |
Ich würde mich nie parteipolitisch engagieren, schon gar nicht in meinem | |
Amt. Da wird man dann in Schubladen gepackt, und das möchte ich nicht. | |
Zumal es immer wieder Fragen gibt, bei denen sich ganz erstaunliche | |
Koalitionen bilden. | |
Ihr Vater hat einen modernen Klang und eine neue Sprache in die Kirche | |
gebracht. Heute scheint die Entwicklung in die umgekehrte Richtung zu | |
zeigen: Kirchenmitglieder, auch jüngere, sind auf der Suche nach | |
traditionellen Formen. | |
Damals galt es, alte Formen aufzubrechen, die teilweise auch mit | |
repressiven Inhalten verbunden waren. Dass es heute eine andere Bewegung | |
gibt, wo Leute eher Heimat suchen und nicht jeden Sonntag etwas anderes | |
erleben wollen, finde ich verständlich. Trotzdem denke ich, dass wir bei | |
der Sprache zeitgenössisch bleiben müssen - ohne theologische Leerformeln | |
oder Worthülsen zu verwenden. Für mich ist das immer wieder eine | |
Herausforderung, beim Predigtschreiben. Man sagt mir im Übrigen nach, dass | |
ich beim Predigen nach meinem Vater komme. | |
Auch bei der Musik? | |
Ich singe schrecklich gerne, aber ich käme nicht auf die Idee, Lieder zu | |
dichten. Das ist nicht so meins. Als Kinder hatten wir jedenfalls großen | |
Spaß mit meinem Vater, manchmal hat er Sachen mit uns ausprobiert. Und wenn | |
wir auf langen Autofahrten zu sehr randaliert haben, gab er die Devise | |
"Harmonia Trautonia" aus. Das bedeutete, wir durften singen und kreischen, | |
was wir wollten - bis wieder Frieden auf der Rückbank herrschte. | |
Berlin ist alles andere als eine fromme Stadt, auch viele evangelische | |
Gemeinden schrumpfen. Wie gehen Sie mit den vielen Austritten um? | |
Das Austreten ist gar nicht so sehr unser Thema, sondern mehr die | |
Generationenveränderung. Die großen Generationen alter Menschen sterben, | |
und es kommen nicht so viele nach. Aber diese Dinge machen mir keine Angst. | |
Was ich mir wünsche, ist, in der Gesellschaft präsent zu bleiben. Ich will, | |
dass unsere Türen offen sind und sich Menschen dafür interessieren. | |
Wie war das in Frankfurt? | |
In unserer Gemeinde gab es sogar ein leichtes Plus. Ich habe getauft wie | |
ein Weltmeister. (lacht) | |
Ein Thema, mit dem Sie sich noch öfter auseinandersetzen werden müssen, ist | |
der Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Kürzlich haben Sie gesagt, | |
es sei "bitter, dass das Kennenlernen des christlichen Glaubens nur | |
außerhalb der normalen Unterrichtszeit geht". Mit Verlaub, aber aus der | |
Perspektive vieler Berliner ist das ganz normal. Hier fragt man sich eher, | |
ob es das Problem des Staates ist, wenn Kirche und Familie es alleine nicht | |
schaffen, den Glauben weiterzugeben. | |
Sie spielen auf "Pro Reli" an. Ich bin noch dabei, dieses Thema in seiner | |
ganzen Tiefe zu ermessen. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen: | |
Religion ist ein gutes und wichtiges Fach. Als reguläres Unterrichtsfach | |
wie in Hessen und den meisten anderen Bundesländern halte ich es für eine | |
große Bereicherung. Ich muss mich jetzt damit auseinandersetzen, dass es | |
hier nicht so ist. Natürlich bedauere ich das, als Frau der Kirche. | |
Die Idee des verpflichtenden Ethikunterrichts ist doch, junge Menschen in | |
einer Multikulti-Stadt nicht zu separieren, sondern zusammenzubringen. | |
Das leuchtet mir schon ein. Ich habe ja etwas ganz Ähnliches an meiner | |
Schule gemacht. Aber ich glaube, es ist etwas anderes, ob ich das Thema von | |
innen her erschließen kann oder nur über Religion spreche. | |
Sie haben auch als Lehrerin gearbeitet? | |
Ja, als Pfarrerin in Frankfurt-Bockenheim habe ich an einer Hauptschule | |
unterrichtet. Diese Schule besuchen fast nur muslimische Schüler und | |
Schülerinnen, und bevor ich dort anfing, hatte es jahrelang keinen | |
Religionsunterricht gegeben. Wir haben überlegt, wie wir mit dieser | |
Situation umgehen, und am Ende beschlossen, dass ich gesamte Klassen | |
unterrichte, nicht nur die evangelischen Schüler, die es vereinzelt auch | |
gab. Das lief natürlich nicht unter "Evangelische Religion". Es ging im | |
Unterricht oft um ganz elementare Dinge wie Gefühle. Wir haben | |
Fantasiereisen gemacht, Körperarbeit. Aber gerade nach dem 11. September | |
2001 wurde es auch wichtig, mit den Älteren viel über Religion zu reden. | |
Das ging konfliktfrei ab? | |
Nein. Womit ich sehr zu kämpfen hatte, war der wahnwitzige Antisemitismus, | |
der unter den Schülern herrschte. Einerseits wollte ich die Jugendlichen | |
nicht stigmatisieren, auf der anderen Seite das Thema aufarbeiten. In einer | |
Gruppe habe ich wirklich irgendwann das Klassenbuch auf den Tisch | |
gepfeffert und gesagt: "Tut mir leid, aber ich unterrichte euch nicht | |
mehr." Das war während des Libanonkrieges, ich hatte von einem jungen | |
israelischen Soldaten erzählt, den das in große Konflikte brachte. Worauf | |
einige durch den Raum brüllten: "Wers glaubt, wird selig!" | |
Und Sie haben diese Klasse nicht mehr unterrichtet? | |
Es war in der Tat das einzige Mal, dass ich aufgegeben habe, und ich weiß | |
immer noch nicht, ob das richtig war. Aber wir hatten sehr lange daran | |
gearbeitet, dass jeder Mensch anders ist. Dass nicht alle Muslime oder | |
Juden oder Christen "so" oder anders sind. Und dann diese Reaktion. | |
Aber Antisemitismus ist kein rein muslimisches Problem. | |
Natürlich nicht. In einer Predigt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche | |
habe ich erst vor kurzem gesagt, wie sehr es mich schockiert, dass | |
antisemitische Einstellungen bei Mitgliedern christlicher Kirchen noch | |
etwas höher sind als allgemein in der Bevölkerung. Ich habe zu dieser | |
Predigt viel Zustimmung bekommen, aber es gab auch vereinzelte Reaktionen | |
nach dem Motto: Da wollten wir ein bisschen Ruhe und etwas Schönes hören, | |
und jetzt sind wir aufgeregt und aufgewühlt! | |
Wenn man an Martin Luthers Antijudaismus denkt, hat die evangelische Kirche | |
ja auch großen Nachholbedarf. | |
Die Aufarbeitung des Antijudaismus innerhalb der christlichen Tradition ist | |
für mich ein ganz wichtiges Thema, dem wir uns noch intensiver stellen | |
müssen. Obwohl wir da theologisch schon lange dran sind. Die Frage lautet | |
aber: Wie kriegen wir das in die Herzen und die Köpfe der Menschen? | |
Trotzdem, antisemitische oder auch antiislamische Einstellungen sind ein | |
Problem der ganzen Gesellschaft, nicht nur der Religion. Gerade in diesen | |
unsicheren Zeiten, die ein ganz hohes Differenzierungsvermögen erfordern, | |
hält man sich gerne an Feindbildern fest. | |
Was auch durch die rechtsextreme Mordserie wieder ins Bewusstsein geraten | |
ist. Hat Sie das eigentlich überrascht? | |
Ja und nein. Dass diese Anschauungen da sind, das weiß man. Was mich | |
schockiert hat, ist das politische Unvermögen. Dass man diesen Menschen | |
nicht auf die Spur gekommen ist. In Frankfurt am Main kann man diese | |
Realität schon manchmal vergessen. Wir haben dort keinen ausgewiesenen | |
Rechtsextremismus, es ist eine sehr weltoffene Stadt. Für diese Landschaft | |
hier muss ich diese Dinge noch neu erkunden. | |
Wie haben Sie sich von Frankfurt verabschiedet? | |
Ich habe dort noch einmal mit der Familie Weihnachten verbracht. Eigentlich | |
hätte ich hier predigen müssen, aber als meine Kollegen mitbekamen, dass | |
ich es an dem Tag nicht mehr nach Frankfurt geschafft hätte, haben sie | |
gesagt: "Du darfst fahren." Mein Mann ist ja noch Pfarrer in Bockenheim, | |
und bis unsere Tochter im Sommer schriftliches Abitur macht, bleibt er in | |
der Gemeinde. Also habe ich in Frankfurt Heiligabend gefeiert - nach einer | |
halben Ewigkeit zum ersten Mal, ohne selbst einen Gottesdienst zu halten. | |
Für meine Tochter war das etwas ganz Besonderes. Sie hat schon oft gesagt: | |
"Ich glaube, ich bin das einzige Kind, das Heiligabend ganz alleine ist!" | |
(lacht) | |
22 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Marie-Claude Bianco | |
Claudius Prösser | |
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Osnabrück | |
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