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# taz.de -- Das Schlagloch: Zwischen Oprah und Rushdie
> Bolly-Buch boomt. Beim Jaipur-Festival dominiert aber ein Verfemter:
> Salman Rushdie. Mehrere Autoren protestieren, indem sie aus den
> "Satanischen Versen" zitieren.
Bild: Bekanntgabe der Absage von Salman Rushdie's Video-Session während des Fe…
Alle 12 Jahre findet am Zusammenfluss der beiden großen indischen Flüsse
Ganges und Jamuna ein Ereignis statt, das jedes andere Pilgerfest und jede
andere Kirmes in den Schatten stellt: die Maha Kumbh Mela. Der Einzelne
geht auf in einem Meer von Pilgern und Händlern, Polizisten und
Journalisten. Die Maha Kumbh Mela wird es erst wieder nächsten Januar
geben, doch erhält man dieser Tage in Rajasthan einen Vorgeschmack darauf
bei dem Jaipur Literature Festival (20.-24. Januar).
Wie bei der Kumbh Mela weiß niemand genau, wie viele Menschen sich
einfinden (dort zwischen 20 und 40 Millionen, hier zwischen 100.000 und
200.000), um knapp 200 Gesprächen, Disputen und Lesungen zu lauschen. Die
Zeitungen berichten seitenlang über das Ereignis, vor allem über die
operettenhaft inszenierten Besuche von Weltstars wie Oprah Winfrey und
Deepak Chopra.
## Die Zensur ist auch dabei
Manchmal ist das Gedränge so groß, dass man sich kaum auf den Füßen halten
kann, während man etwa versucht, dem melodiösen Vortrag zweier
weißhaariger, würdevoller Herren zu lauschen - Gulzar und Javed Akhtar -,
deren Hindi-Gedichte dank ihrer Popularisierung durch Bollywoodfilme
kultisch empfangen werden.
Manchmal ist der Zugang zum Buchladen verstopft (Indien ist der zweitgrößte
Markt für englischsprachige Bücher), manchmal redet sich ein Sprecher so
sehr in Rage oder Ekstase, dass seine verstärkte Stimme in eines der
benachbarten Zelte dringt und wie ein turbulentes Rauschen ein Gespräch
über weibliche Stimmen in Südasien überlagert. Ein Querschnitt der enorm
vielfältigen indischen Buch- und Medienwelt ist zusammengekommen - anstelle
der Eremiten, Prediger und selbsternannten Heiligen bei der Kumbh Mela
treten hier 250 Autoren auf, deren Werk kaum eines der großen Themen
Indiens ignoriert.
Auf eine eher eitle Diskussion über Twitterati - die Tweed-Elite - folgt
ein grimmiges Abwägen von Widerstand in der indischen Demokratie, auf ein
Gespräch über Slumbewohner (der junge indische Journalist Aman Sethi und
die erfahrene amerikanische Reporterin Katherine Boo haben gerade zwei
bahnbrechende Bücher über dieses Thema veröffentlicht) folgt eine
Veranstaltung über die Anziehungskraft der Metropolen Karatschi, Bombay,
Kathmandu und Dhaka.
Doch fällt auf beide Feste immer wieder der Schatten politischer
Manipulationen und Konflikte. In diesem Jahr hatten die Veranstalter Salman
Rushdie eingeladen, dessen "Satanische Verse" nach wie vor in Indien
verboten sind, vielleicht ohne zu bedenken, dass in Nordindien
Regionalwahlen anstehen, unter anderem in Uttar Pradesh, mit 200 Millionen
Einwohnern wohl die bevölkerungsreichste Provinz der Welt. Die Wahlen dort
können nicht ohne die "muslimischen Stimmen" gewonnen werden, und so wurde
die absehbare Forderung des Direktors eines islamischen Seminars in
Deoband, Rushdie die Einreise zu verweigern (was juristisch nicht möglich
ist, da er in Indien geboren wurde), sofort zu einem nationalen Politikum
aufgeblasen.
Ein undurchsichtiges Spiel voller halbherziger Erklärungen, anonymer
Drohungen und unzuverlässiger Zusicherungen hob an, an dem sich nicht nur
die Regierung sowie Oppositionspolitiker, sondern auch die Polizei und eine
Reihe von führenden Meinungsmachern des Landes beteiligten. Schließlich
sagte Rushdie seinen Besuch ab, dominierte aber dennoch das Festival.
## Solidarität für Rushdie
Am zweiten Tag lasen einige Kollegen aus Solidarität spontan Passagen aus
den "Satanischen Versen" vor. Beim Abendessen saß einer von ihnen, der
brillante Dichter Jeet Thayil, dessen erster Roman im September bei S.
Fischer erscheinen wird, sichtbar nervös am Tisch und nahm am laufenden
Band Telefonate entgegen, bis er auf einmal entschwand und wie die anderen
drei nicht mehr gesehen wurde, nicht ohne zuvor das ironische Detail
erzählt zu haben, dass ein hochrangiger Polizist ihm nach der Lesung ins
Ohr geflüstert habe, er solle behaupten, er habe nur über das verbotene
Buch geredet - paraphrasieren ist weniger verboten als zitieren! Um einer
möglichen Verhaftung der Autoren vorzubeugen, entschieden die Veranstalter,
sie aus dem Bundesstaat Rajasthan auszufliegen.
Einer der Festivaldirektoren, der Historiker William Dalrymple, schrieb an
alle anwesenden Autoren: "Sie sollten wissen, wenn Sie aus einem verbotenen
Buch vortragen, machen Sie sich strafbar und setzen das Festival der Gefahr
aus, geschlossen zu werden. Auch werden wir dadurch alle, Organisatoren wie
Autoren, Geiseln von jedem Individuum und jeder Gruppe, die einen Antrag
stellen, uns von Rechts wegen zu verfolgen." So blieb den verbliebenen
Autoren nichts anderes übrig, als eine Petition zu unterzeichnen, die bald
drei Jahrzehnte nach dem weltweit ersten Verbot dieses Romans endlich die
Aufhebung einer unsäglichen Verordnung fordert.
Leider haben diese Vorgänge die leiseren Stimmen übertönt, wie etwa das
Gespräch zwischen zwei führenden politischen Journalisten Indiens, Sunil
Khilnani und Tarun Tejpal, die zu Recht darauf hinwiesen, dass die Väter
der indischen Republik nicht nur die Idee der gewaltfreien, toleranten
Nation zur Verfassung erhoben, sondern auch einen sozialen Kontrakt, der in
Zeiten des entfesselten globalisierten Kapitalismus auch in diesem Land
zunehmend in Vergessenheit geraten ist (jährlich bringen sich in Indien
120.000 Bauern aus Not um).
## Die Geißeln Indiens
Ungerechtigkeit und Unrecht, das sind die beiden Geißeln Indiens, darüber
waren sich auch jene einig, die von ihren Gefängnismemoiren erzählten. Als
die Menschenrechtlerin Anjum Habib aus Kaschmir mit gebrechlicher Stimme
erklärte, dass sie nicht in der Lage sei, ihre eigene Folterung zu
beschreiben, weil sie die erlebte Agonie als fatale Schwäche empfinde und
sich schon in Haft geschworen habe, diesen Schmerz in Stärke umzuwandeln,
herrschte unter dem gigantischen Zeltdach und den etwa tausend Zuhörern
eine angespannte Stille, die das Auge dieses stürmischen Festivals bildete.
25 Jan 2012
## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
Buch
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