# taz.de -- Mädchen stirbt bei Pflegeeltern: Niemand wills gewesen sein | |
> Elfjährige erlitt Methadon-Vergiftung bei süchtigen Eltern. Jugendamt und | |
> Träger schieben sich gegenseitig die Schuld zu. | |
Bild: Gedenken an Chantal: Mitschüler trauern um die Elfjährige. | |
HAMBURG | taz Hamburg ist erschüttert von dem Tod der elfjährigen Chantal | |
aus Wilhelmsburg. Sie starb am 16. Januar an einer Vergiftung mit dem | |
Drogenersatzstoff Methadon. Was zunächst wie ein Unglück aussah, entpuppt | |
sich als Behördenversagen. Weil die eigenen Eltern süchtig waren, kam das | |
Kind 2008 in Pflege. Doch der 51-jährige Ersatzvater und die 47-jährige | |
Ersatzmutter sind ebenfalls drogenabhängig und in einem Methadonprogramm. | |
Wie das Mädchen an die für sie tödliche Substanz kam, ist noch ungeklärt. | |
In einer zur Wohnung gehörenden Garage und am Arbeitsplatz des Ersatzvaters | |
wurden Methadontabletten gefunden. Gegen beide Pflegeeltern, aber auch | |
gegen den leiblichen Vater und eine erwachsene Pflegeschwester wird wegen | |
Verdachts der fahrlässigen Tötung ermittelt. Auch ein Suizid gilt als | |
denkbar. Gegenüber der Bild-Zeitung sagte eine ältere Halbschwester, | |
Chantal sei in der Pflegefamilie sehr unglücklich gewesen. Es stellt sich | |
nun die Frage, wieso diese Familie Pflegestelle wurde. Hier beginnen die | |
zuständigen Stellen um die Verantwortung zu streiten. | |
Wilhelmsburg gehört seit 2008 zum Bezirk Hamburg-Mitte, zuvor war es | |
Harburger Gebiet. 2005 hatten die Eltern dort beim Jugendamt gefragt, ob | |
sie Pflegegeld für ein anderes Kind, ihre damals einjährige Enkelin, | |
bekommen könnten. Das Harburger Amt bewilligte die "Großelternpflege" und | |
beauftragte ab 2007 den freien Träger "Verbund sozialtherapeutischer | |
Einrichtungen" (VSE) mit der Begleitung der Familie. Man habe damals keine | |
Erkenntnisse über Drogenkonsum gehabt, erklärte der Harburger | |
Jugendamtsleiter Holger Stuhlmann. | |
Als dann 2008 mit Chantal ein zweites Pflegekind in die Familie sollte, | |
musste deren Eignung ganz neu geprüft werden. Denn für Verwandtenpflege | |
gelten weniger scharfe Kriterien. Laut Lars Schmidt von Koss, Sprecher des | |
Bezirks Mitte, hat damals der "VSE die Prüfung übernommen, ob die Eltern | |
Pflegende sein können". Schmidt von Koss sagt: "Es hieß, es ist okay". Der | |
VSE habe jährlich Berichte an das Jugendamt verfasst und die Familie | |
begleitet. Diese Betreuungsarbeit sei aus finanziellen Gründen in allen | |
Bezirken an freie Träger "outgesourct" worden. Es seien aber auch | |
Jugendamtsmitarbeiter in der Wohnung gewesen. | |
Der VSE nahm am Freitag erstmals Stellung und wies die Vorwürfe zurück. Man | |
könne aus Datenschutzgründen zu der Familie nichts sagen, sagte Sprecher | |
Andreas Reker. Der Träger sei jedoch "nicht für die Auswahl und die | |
Eignungsfeststellung" zuständig, und dies "auch nicht im konkreten Fall". | |
Der Bezirk will nun bis Dienstag nichts mehr sagen. Dann tagt der | |
Familienausschuss der Bürgerschaft, wo Bezirks-Chef Markus Schreiber | |
Bericht erstatten wird. Der SPD-Politiker steht stark unter Druck. Er hatte | |
zu Wochenbeginn zum Fall Chantal gesagt, "das Kindeswohl war nicht | |
gefährdet" und sich hinter die Familie gestellt. | |
Dieses Krisenmanagement missfällt auch seinen Parteigenossen. "Der | |
Bezirksamtsleiter hat einen Sachstand referiert, der sich als nicht richtig | |
herausgestellt hat", sagt der Kreisvorsitzende der SPD-Mitte, Johannes | |
Kahrs. Der Fall sei zunächst als "Unglück" dargestellt worden. "Was danach | |
an Begleitumständen herausgekommen ist, hat uns überrascht." Erst vor zwei | |
Jahren war mit der neun Monate jungen Lara Mia in Wilhelmsburg schon ein | |
Kind gestorben, das unter Aufsicht des Jugendamtes Mitte stand. Seither | |
habe man sich um mehr Stellen bemüht, sagt Kahrs. "Das macht uns ratlos." | |
Auch Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz und Sozialsenator Detlef | |
Scheele (beide SPD) zeigten sich betroffen und versprachen, für Aufklärung | |
zu sorgen. "Ein Kind ist gestorben, und das ist ganz furchtbar", sagte | |
Scholz. Er warne davor, " jetzt achselzuckend zur Normalität überzugehen". | |
27 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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