# taz.de -- Alte Menschen in der Literatur: Die Unsterblichen | |
> Drei kürzlich erschienene Romane erzählen von nie gekannter | |
> Bewegungsfreude und wie man mit 100 Jahren eine Gang gründet. Auch alte | |
> Menschen dürfen gute Laune haben. | |
Bild: Am Ende bleiben Frauen übrig. | |
Als wir noch Kinder waren, wurden wir immer größer, jeden Tag ein Stück, | |
und fanden das gut so. Irgendwann ist man dann groß, aber gar nicht mehr | |
wirklich jung. Wie konnte das passieren? Diejenigen, die sich darauf | |
freuen, irgendwann richtig alt zu sein, sind wohl eine radikale Minderheit. | |
Aber wer sein Sterbenmüssen so lange wie möglich hinausschieben will, dem | |
bleibt nichts anderes übrig, als so lange wie möglich alt zu sein. | |
Viele von uns werden das erleben. Wir sind gut genährt aufgewachsen, | |
kannten niemals Entbehrungen durch Hunger und Kälte, medizinische | |
Versorgung war immer in Reichweite. Wir werden lange durchhalten. Und wir | |
werden immer mehr. Wir alle sind die alternde Gesellschaft und damit in der | |
Geschichte der westlichen Zivilisation ein neues Phänomen. | |
Seit vergangenem Herbst sind mehrere Romane in deutscher Übersetzung | |
erschienen, die sich auf auffällig affirmative Weise mit dem Thema Alter | |
beschäftigen. Weder nehmen die Alten hier ihre klassischen Nebenrollen ein, | |
noch sind diese Romane elegische Abhandlungen über Krankheit, Verfall und | |
Einsamkeit. Diese ProtagonistInnen hier sind sich ihrer körperlichen | |
Gebrechlichkeit und Endlichkeit zwar bewusst. Doch hindert sie das nicht | |
daran, den Teil des Lebens, der ihnen noch geblieben ist, aufs Beste zu | |
nutzen. | |
## Nicht mehr richtig junge Männer | |
Der Isländer Hallgrímur Helgason (Jahrgang 1959), der Amerikaner Stewart | |
O’Nan (1961) und der Schwede Jonas Jonasson (1962) sind sämtlich nicht mehr | |
richtig junge Männer um die fünfzig, die Romane zum Thema vorgelegt haben. | |
Die Bücher von Helgason („Eine Frau bei 1000°“) und O’Nan („Emily, al… | |
sind jeweils aus der Perspektive einer achtzigjährigen Frau geschrieben. | |
Schließlich entspricht es ja der statistischen Wirklichkeit, nach der es | |
die Frauen sind, die länger bleiben. | |
Jonas Jonasson wiederum, ein ehemaliger Journalist und Unternehmer, der | |
genug Geld verdient hat, um für den Rest seines Lebens aus Spaß Bücher | |
schreiben zu können, hat mit seinem Debütroman „Der Hundertjährige, der aus | |
dem Fenster stieg und verschwand“ einen sehr gelungenen | |
Gute-Laune-Bestseller hingelegt, der, vermutlich weil er verdächtig | |
unterhaltsam geraten ist, hierzulande von keinem einzigen überregionalen | |
Feuilleton besprochen wurde. | |
Mit Helgason teilt er eine grundlegende Gemeinsamkeit. Beider Romane | |
liefern einen umfassenden geschichtlichen Abriss mit. Bei Helgason betrifft | |
dies die isländische und mitteleuropäische Geschichte, insbesondere den | |
Zweiten Weltkrieg. Jonasson lässt seinen Helden eine geradezu fantastische | |
Reise durch die Weltgeschichte des ganzen letzten Jahrhunderts machen. | |
Diese historische Komponente spielt sicher eine Rolle bei der literarischen | |
Aufwertung des Alters. Die Alten sind wichtige Zeugen für die Halbjungen, | |
die zwischen den Zeitaltern hängen. Im 21. Jahrhundert haben wir, die noch | |
in der analogen Welt Geborenen, zwar gut Tritt gefasst; wir schreiben | |
Briefe elektronisch und bedienen versiert die Touchscreens unserer | |
Smartphones. | |
## Mit einem Bein noch analog | |
Aber das alles haben wir gelernt, als wir schon groß waren, weshalb wir mit | |
einem Bein noch immer im halb vergessenen analogen Zeitalter stehen. | |
Diejenigen aber, die jetzt richtig alt sind, sind im Gegensatz zu uns | |
Hybridmenschen, noch echtes 20. Jahrhundert, Gewährsleute einer Zeit vor | |
dem digitalen Umbruch und der „Globalisierung“. Höchste Zeit, sie über | |
dieses andere Leben zu befragen, das auch uns geprägt hat. Oder, wenn wir | |
dies im wahren Leben versäumt haben, es in der Literatur nachzuholen. | |
Auf genau diese Art kam Hallgrímur Helgason zu seiner Romanheldin. Während | |
des isländischen Wahlkampfes half er bei den Sozialdemokraten als | |
Telefon-Wahlwerber aus und bekam per Zufall eine Achtzigjährige an den | |
Apparat, die allein und ans Bett gefesselt in einer Garage lebte, während | |
sie mit ihrem Laptop in der Welt umhersurfte und Kontakte pflegte. „Sie | |
mochte die linken Parteien nicht besonders“, erzählt Helgason, „aber sie | |
war witzig und klug, und wir unterhielten uns bestimmt eine Stunde lang. | |
Dass es um irgendwelche Wahlen ging, hatte ich total vergessen.“ Als er sie | |
ein Jahr später besuchen wollte, war sie tot. So geht es ja oft. Man kann | |
Leute ein Leben lang kennen, und wenn sie gestorben sind, hat man es doch | |
versäumt, sie gründlich zu befragen. | |
Hallgrímur Helgason hatte immerhin das Glück, dass seine Gesprächspartnerin | |
zu Lebzeiten eine Autobiografie veröffentlicht hatte. Ihr Großvater, erfuhr | |
er daraus, war der erste Präsident des unabhängigen Island gewesen, sein | |
Sohn, ihr Vater, dagegen ein überzeugter Nationalsozialist, der für die | |
Deutschen in den Weltkrieg zog. Eine Geschichte, fast zu unglaublich für | |
einen Roman. Helgason verbindet sie mit anderen unglaublichen, erfundenen | |
historischen Elementen zu einer Ich-Erzählung von schwungvollem Sarkasmus | |
und beißendem Humor, die eigenartig gut harmonieren mit dem tragischen Ton, | |
der die zahlreichen Kriegsepisoden grundiert. | |
## Unverwüstliche Romanfigur | |
Helgasons Heldin ist zwar todkrank, doch ihr Geist ist bis zum Schluss sehr | |
lebendig – so sehr sogar, dass sie noch die Verbrennung ihres toten Körpers | |
kommentieren kann. Die Unverwüstlichkeit, die diese Romanfigur ausmacht, | |
negiert den Tod sozusagen erzählerisch. Noch eine Schraube weiter an diesem | |
Sujet über die Irrelevanz des Todes dreht Jonas Jonasson, indem er in „Der | |
Hundertjährige …“ einen Helden erschafft, der von vornherein unsterblich zu | |
sein scheint. | |
Sein sympathischer Greis, der mit einer Gruppe freundlicher Außenseiter | |
eher umständehalber eine kriminelle Bande gründet und mit über hundert | |
Jahren zum ersten Mal heiratet, ist ein ehemaliger Sprengstoffexperte, der, | |
dem Zufall und seinem schlichten Wesen sei Dank, in seinem langen Leben auf | |
der ganzen Welt herumkommt und Kontakt zu allen politischen Größen der Zeit | |
hat. | |
Und während Helgason in seinem Greisinnenepos bei aller galgenhumorigen | |
Flapsigkeit gerade in den historischen Passagen großes symbolisches Gepäck | |
mitführt, erzählt Jonasson unbekümmert eine frei fabulierte Travestie der | |
Weltgeschichte. Sein Roman ist eine muntere Münchhauseniade über eine Welt, | |
in der nur die bösen Menschen sterben und die Guten auf ewig unter | |
Sonnenschirmen sitzen. Eine heitere Räuberpistole über die Unsterblichkeit. | |
## Früher ein junger Wilder | |
## | |
Ganz anders nähert Stewart O’Nan sich dem Thema Alter. Ähnlich wie Helgason | |
war O’Nan mal so etwas wie ein junger Wilder. Heute fühlt er sich eher dem | |
psychologischen Realismus verpflichtet. Sein Roman „Emily, allein“, deren | |
Protagonistin mit Helgasons Ich-Erzählerin auch Alter und Geschlecht teilt, | |
kennt ebenso Krankheit und Tod. Ihr Mann ist vor einigen Jahren gestorben, | |
und sie lebt allein mit Hund in einer amerikanischen Provinzstadt. Während | |
Helgasons und Jonassons Romane sich körperlichem Verfall und Endlichkeit | |
mit zu allem entschlossenem Humor entgegenstemmen, tut O’Nan das Gegenteil | |
– ohne dabei den Blick fürs Komische aufzugeben. Er zeigt es nur nicht so | |
offensiv her. | |
Die sublime Ironie, mit der er erzählt, scheint genau der fein | |
distanzierten Haltung zu entsprechen, die seine Protagonistin zu sich | |
selbst und ihrer Umgebung hat, und die erstaunliche psychologische Mimikry, | |
die dieser Autor betreibt, geht so weit, dass man lesend gleichsam zu einer | |
alten Dame wird. Zu einer sehr alten Dame, die sich vom Ersparten noch ein | |
neues Auto kauft und damit einen Grad an Beweglichkeit erreicht, den sie | |
vorher im Leben nicht hatte. | |
Das macht Emily nicht weniger sterblich. Doch ihr Auto führt zeichenhaft | |
und sehr unspektakulär vor, dass ein Menschenleben immer, egal in welcher | |
Phase, in Bewegung ist. Es ist im Grunde das Gleiche, was Jonas Jonassons | |
Allan Karlsson fertig bringt, der, hundertjährig, ein Flugzeug chartert, | |
das ihn zusammen mit einem Elefanten nach Indonesien bringt. Oder was | |
Helgasons bettlägrige Herra Björnson tut, wenn sie im Internet andere | |
Identitäten annimmt und weltweit Verwirrung stiftet. Emily dagegen fährt | |
mit dem Auto an den Ort ihrer Kindheit und hält dort am Familiengrab ein | |
Nickerchen unter Bäumen. | |
Märchen über die Unsterblichkeit wären an diese Frau verschwendet. Ja, | |
keine Angst vor dem Tod zu haben, ist für Realisten auf jeden Fall die | |
bessere Option. Aber bei der Wahl der geeigneten Bettlektüre schaden | |
gelegentliche Ausflüge in den utopistischen Eskapismus bestimmt nicht. | |
29 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
## TAGS | |
Film | |
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